Gammafunktion



Die Eulersche Gammafunktion, auch kurz Gammafunktion oder
Eulersches Integral zweiter Gattung, ist eine der wichtigsten speziellen
Funktionen und wird in den mathematischen
Teilgebieten der Analysis
und der Funktionentheorie
untersucht. Sie wird heute durch ein ,
den griechischen Großbuchstaben Gamma,
bezeichnet und ist eine transzendente meromorphe
Funktion mit der Eigenschaft
für jede natürliche
Zahl ,
wobei mit
die Fakultät
bezeichnet wird. Die Motivation zur Definition der Gammafunktion war, die
Fakultätsfunktion auf reelle und komplexe Argumente erweitern zu können. Der
Schweizer Mathematiker Leonhard
Euler löste im Jahr 1729 diese Fragestellung und definierte die
Gammafunktion mittels eines unendlichen
Produktes. Heute wird die Gammafunktion oft mittels einer Integraldarstellung
definiert, die ebenfalls auf Euler zurückgeht.
Die Gammafunktion liegt der Gamma-Wahrscheinlichkeitsverteilung zugrunde.
Einordnung ohne mathematisches Vorwissen
Eine mathematische
Funktion ist im Grunde wie eine Rechenmaschine.
Man gibt einen Wert in die Funktion ein, und diese liefert dann ein Ergebnis in
Abhängigkeit vom Eingabewert, zumindest theoretisch. Damit ist gemeint, dass die
Funktion an sich nicht rechnet, sondern meist nur eine Rechenvorschrift formelhaft
festhält. Einfaches Beispiel für eine Funktion ist die quadratische
Funktion, welche die Eingabe mit sich selbst multipliziert. Formelhaft
schreibt man dies als .
Somit ordnet die quadratische Funktion beispielsweise der Zahl
den Wert
zu. Rechnet man dies aus, ergibt sich
,
also
.
Die Gammafunktion fußt auf einer Vorschrift, die auch als Fakultät bekannt ist. Diese ordnet einer natürlichen Zahl das Produkt aller natürlichen Zahlen bis zu dieser Zahl zu. Bezeichnet wird die Fakultät mit dem Symbol des Ausrufezeichens. Also gilt zum Beispiel
Es galt innerhalb der Mathematik als Problem, ob sich diese Vorschrift auch auf Zahlen anderer Art erweitern ließe. Konkret bedeutet das:
- Lassen sich Fakultäten auch für beliebige rationale,
reelle, komplexe Zahlen
berechnen? Wie in etwa könnte man sich
vorstellen?
- Falls solche „universelle“ Vorschriften gefunden werden, welche mathematischen Eigenschaften können ihnen gegeben werden? Zeichnet sich eine dieser Vorschriften als ganz besonders natürlich und strukturell aus? Ist diese besondere Vorschrift eindeutig bestimmt, also „die eine“ verallgemeinerte Fakultät?
Die Antwort auf diese Fragen liefert die Gammafunktion. Für beliebige Werte
liefert
,
also gilt zum Beispiel
Die Verschiebung um 1 von der oben erwähnten Fakultät ist auf eine Konvention
aus dem 19. Jahrhundert zurückzuführen. Die Strategie der Verallgemeinerung
basiert auf der Beobachtung, dass aus einer vorherigen Fakultät durch Hinzunahme
eines weiteren Faktors eine weitere Fakultät gewonnen wird. In etwa gilt
und ganz allgemein
.
Demnach sollten sämtliche Werte der Gammafunktion mittels
in Relation stehen. Stellt man weitere wichtige Bedingungen, wie Differenzierbarkeit,
an
,
so kann diese schließlich eindeutig definiert werden, womit „die“
verallgemeinerte Fakultät gefunden ist.
Es gilt dann
mit der Kreiszahl
.
Dieser Zusammenhang lässt sich über die Normalverteilung
von Gauß erklären.
Geschichte
Als früheste Definition der Gammafunktion gilt die in einem Brief von Daniel Bernoulli an Christian Goldbach vom 6. Oktober 1729 gegebene:
für unendlich große ,
entsprechend heutiger Notation
oder
.
Wenige Tage später, am 13. Oktoberjul./ 24. Oktober 1729greg.,
beschrieb Euler ebenfalls in einem Brief an Goldbach die ähnliche, etwas
einfachere Formel
die Gauß 1812 für den allgemeineren Fall komplexer Zahlen wiederentdeckte
(die genannten Briefe wurden erst 1843 herausgegeben). Sie nähert sich mit
wachsendem
dem wahren Wert für
oder
.
Am 8. Januar 1730 beschrieb Euler in einem Brief an Goldbach folgendes
Integral zur Interpolation der Fakultätsfunktion, das
er am 28. November 1729 der St. Petersburger
Akademie vorgestellt hatte:
in heutiger Notation:
Diese Definition wurde von Euler später bevorzugt verwendet
und geht durch die Substitution
in die Form
über. Euler entdeckte dieses Integral bei der Untersuchung eines Problems aus der Mechanik, bei dem die Beschleunigung eines Teilchens betrachtet wird.
Adrien-Marie
Legendre führte 1809 die griechische Majuskel
(Gamma) als
Funktionssymbol ein.
Gauß verwendete 1812 das Funktionssymbol
(Pi) so, dass
und somit auch
für nichtnegative ganzzahlige
gilt. Es setzte sich jedoch nicht durch; heute wird
als Symbol für ein Produkt benutzt (analog zu
für eine Summe).
Definition und elementare Darstellungsformen
Es gibt in der Literatur keine einheitliche Definition für die Gammafunktion.
Häufig wird das Eulersche Integral zweiter Gattung gegeben. Ein Nachteil ist,
dass dieses Integral nicht überall konvergiert. Somit ist eine globale
Berechnung mittels dieser Definition nur indirekt möglich. Für komplexe Zahlen
mit positivem Realteil
ist die Gammafunktion damit das uneigentliche
Integral
Die dadurch definierte Funktion ist holomorph,
da das Integral (wegen des schnellen Abfallens der Exponentialfunktion) auf
kompakten Mengen gleichmäßig konvergiert. Dies ermöglicht den Einsatz des Weierstraßschen
Konvergenzsatzes. Mittels meromorpher
Fortsetzung lässt sich
schließlich für alle Werte
berechnen.
Eine andere Darstellung mittels eines Produktes motiviert die Verallgemeinerung der Fakultät auf direkte Weise. Sie ist gegeben durch:
In seinem Buch Number Theory. Analytic and modern tools. gibt Henri
Cohen eine Definition mittels der Hurwitzschen
Zeta-Funktion. Als Begründung hierfür wird eine „einfache Möglichkeit der
Verallgemeinerung“ und die „Betonung wichtiger Formeln“ angegeben. Es gilt
demnach für komplexe Zahlen
mit positivem Realteil
wobei die Ableitung bezüglich der ersten Variablen gebildet ist.
Globale Eigenschaften
Funktionalgleichung und Meromorphie
Die Gammafunktion erfüllt in ihrem Definitionsbereich für alle
die Funktionalgleichung
Mittels dieser Relation ist eine induktive
Fortsetzung (beispielsweise des Eulerschen Integrals) möglich. Es gilt für alle
:
Es kann gefolgert werden, dass
eine in ganz
holomorphe Funktion ist und einfache Pole
in allen Punkten
besitzt. Für das dortige Residuum
gilt
Der Satz von Hölder
Der Satz von Hölder (Otto
Hölder 1886)
ist ein Negativresultat und besagt, dass die Gammafunktion keine algebraische Differentialgleichung
erfüllt, deren Koeffizienten rationale
Funktionen sind. Das heißt, es gibt keine Differentialgleichung der Form
mit einer nichtnegativen ganzen Zahl
und einem Polynom
in
,
dessen Koeffizienten rationale Funktionen von
sind, und der Lösung
.
Axiomatische Charakterisierung
Fortsetzung der Fakultät
Die Bedingungen
und
,
die die Fakultät für natürliche Zahlen eindeutig beschreiben, werden auch von
anderen analytischen
Funktionen als der Gammafunktion erfüllt. Für positive
erfüllt beispielsweise die Funktion
für
die charakteristischen Bedingungen der Gammafunktion. Weierstraß fügte 1854
daher die notwendige und hinreichende Bedingung
hinzu, womit aber die Suche nach einer möglichst elementaren oder natürlichen charakterisierenden Eigenschaft nicht beendet war. Emil Artin diskutierte 1931 die mögliche Kennzeichnung durch Funktionalgleichungen.
Der Satz von Bohr-Mollerup
Der Satz von Bohr-Mollerup (Harald Bohr und Johannes Mollerup 1922) erlaubt eine einfache Charakterisierung der Gammafunktion:
- Eine Funktion
ist in diesem Bereich genau dann gleich der Gammafunktion, wenn gilt:
ist logarithmisch konvex, das heißt,
ist eine konvexe Funktion.
Diese Axiome sind bei Nicolas Bourbaki der Ausgangspunkt für die Darstellung der Theorie der Gammafunktion.
Der Satz von Wielandt
Der Satz von Wielandt über die Gammafunktion (Helmut Wielandt 1939) charakterisiert die Gammafunktion als holomorphe Funktion und besagt:
- Eine holomorphe Funktion
, definiert auf einem Gebiet
, das den Streifen
enthält, ist genau dann gleich der Gammafunktion auf
, wenn gilt:
ist auf dem Streifen
beschränkt, das heißt, es existiert ein
, sodass
für alle
aus
.
Genauer gilt
für alle
mit
.
Weitere Darstellungsformen
Neben der Darstellung der Gammafunktion aus der Definition gibt es noch
andere äquivalente Darstellungen. Eine direkte Definition von
für alle
gibt die Produktdarstellung der Gammafunktion nach Gauß,
die für positive reelle Zahlen bereits von Euler
1729 angegeben wurde.
Daraus abgeleitet ist die Darstellung von
als Weierstraß-Produkt:
mit der Eulerschen
Konstante .
Das zweite Produkt wird üblicherweise als Weierstraßsche Darstellung bezeichnet,
Karl
Weierstraß verwendete jedoch nur das erste.
Die Integraldarstellung aus der Definition geht ebenfalls auf Euler 1729 zurück, sie gilt allgemeiner für komplexe Zahlen mit positivem Realteil:
wenn
Durch die Zerlegung dieses Integrals folgerte E.
F. Prym 1876
eine in ganz
gültige Darstellung:
Eine andere Variante der Eulerschen Integraldarstellung
gibt es für
mit
:
Aus dieser Darstellung lassen sich zum Beispiel auf elegante Weise die Fresnelschen Integralformeln ableiten.
Ernst Eduard Kummer gab 1847 die Fourierentwicklung der logarithmischen Gammafunktion an:
für
Sie heißt auch Kummersche Reihe. Bereits 1846 fand Carl Johan Malmstén eine ähnliche Reihe:
für
Funktionalgleichungen und spezielle Werte
Die Gammafunktion genügt der Funktionalgleichung
mit
Im Folgenden wird
ermittelt:
Daraus folgt:
Alternativ kann dieser Gammafunktionswert mit dem Wallisschen Produkt ermittelt werden:
Dieses Produkt lässt sich auf diese Weise umformen:
Folgender Bruch hat folgenden Grenzwert:
Für alle n ∈ ℕ gelten folgende Ausdrücke:
Folglich gilt diese Formel:
Die Formel wird nach Γ(3/2) aufgelöst:
Daraus folgt:
Mit dem Ergänzungssatz der Gammafunktion (Euler 1749)
für
erhält man ebenso
(Folge
A002161 in OEIS)
sowie
und
für
Mit allgemeiner gewähltem
wird aus der letzten Formel die Legendresche Verdopplungsformel (Legendre
1809)
für
Diese ist ein Spezialfall der Gaußschen Multiplikationsformel (Gauß 1812)
für
und
Gregory
Chudnovsky zeigte 1975, dass jede der Zahlen ,
,
,
,
und
transzendent
und algebraisch
unabhängig von
ist. Hingegen ist beispielsweise von dem Funktionswert
(Folge
A175380 in OEIS)
nicht einmal bekannt, ob er irrational
ist.
Mit der lemniskatischen
Konstante
gilt
Denn es gilt Folgendes:
- Hierbei gilt folgende Formel über den Arcussinus lemniscatus:
Die Gammafunktionswerte der Drittel können ebenso mit Hilfe elliptischer Integrale erster und zweiter Ordnung dargestellt werden:
Denn es gilt Folgendes:
Wegen der Eulerschen Formel des Ergänzungssatzes gilt:
Die Steigung der Gammafunktion an der Stelle 1 ist gleich dem Negativen der
Euler-Mascheroni-Konstante
:
Die Gammafunktion hat an den Stellen
Pole
erster Ordnung.
Aus der Funktionalgleichung erhält man für die Residuen
Alternativ lassen sie sich direkt an der Formel
ablesen. Da
keine Nullstellen hat, ist
eine ganze
Funktion.
Zusammenhang mit der Riemannschen ζ-Funktion
Bernhard Riemann brachte 1859 die Gammafunktion mit der Riemannschen ζ-Funktion über die Formel
und die folgende Feststellung in Beziehung:
Der Ausdruck
„bleibt ungeändert, wenn
in
verwandelt wird“, also
Näherungsweise Berechnung
Stirlingsche Formel
Näherungswerte der Gammafunktion für
liefert unter anderem die Stirlingsche
Formel, es gilt
mit
Rekursive Näherung
Aus der Funktionalgleichung
die eine Art Periodizität beinhaltet, können aus bekannten Funktionswerten in
einem Streifen der Breite 1 in
die Werte in jedem anderen entsprechenden Streifen rekursiv berechnet werden.
Mit
kann man von einem Streifen auf den benachbarten mit kleinerem Realteil
gelangen, und das -fach.
Da es für großes
sehr gute Näherungen für
gibt, kann deren Genauigkeit in Bereiche übertragen werden, in denen direkte
Anwendung der betreffenden Näherung nicht anzuraten wäre. Nach Rocktäschel
empfiehlt sich, wie schon von Carl
Friedrich Gauß bemerkt, die aus der Stirling-Formel
abgeleitete asymptotische Entwicklung in
.
Diese hat zwar im Nahbereich bei
eine Irregularität, ist aber schon für
brauchbar. Mit dem Korrekturterm
wird ihr Fehler auf die Größenordnung
für unbeschränkt wachsendes
verringert.
Die -fache
Anwendung dieser Näherung führt auf
Den komplexen Logarithmus berechnet man über die Polardarstellung von .
Für die meisten Anwendungen, etwa in der Wellenausbreitung,
sollte
ausreichen.
Unvollständige Gammafunktion
In der Literatur wird dieser Begriff, im Hinblick auf Integrationsgrenzen und Normierung (Regularisierung), nicht einheitlich verwendet.
Häufige Notationen sind:
unvollständige Gammafunktion der oberen Grenze
unvollständige Gammafunktion der unteren Grenze
regularisierte (unvollständige) Gammafunktion der oberen Grenze
regularisierte (unvollständige) Gammafunktion der unteren Grenze
Spricht man von einer regularisierten Gammafunktion, so impliziert dies schon, dass sie unvollständig ist.
oder
steht für die verallgemeinerte unvollständige Gammafunktion.
Siehe auch
Literatur
- Emil Artin: Einführung in die Theorie der Gammafunktion. B. G. Teubner, Leipzig 1931; The Gamma function. Holt, Rinehart and Winston, New York 1964 (englische Übersetzung von Michael Butler).
- Friedrich Lösch, Fritz Schoblik: Die Fakultät (Gammafunktion) und verwandte Funktionen. Mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen. B. G. Teubner, Leipzig 1951.
- Konrad Königsberger: Die Gammafunktion. Kapitel 17 in Analysis 1. Springer, Berlin 1990; 6. Auflage 2003, ISBN 3-540-40371-X.



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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 08.11. 2024