Wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion
Eine Wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion, auch kurz erzeugende Funktion oder Erzeugendenfunktion genannt, ist in der Wahrscheinlichkeitstheorie eine spezielle reelle Funktion. Jeder diskreten Wahrscheinlichkeitsverteilung auf den natürlichen Zahlen und jeder Zufallsvariable mit Werten in den natürlichen Zahlen kann eine Wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion zugeordnet werden. Umgekehrt kann auch aus jeder wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktion die Wahrscheinlichkeitsverteilung oder die Verteilung der Zufallsvariable eindeutig rekonstruiert werden.
Aufgrund dieser eindeutigen Zuordnung ermöglichen es Wahrscheinlichkeitserzeugende Funktionen, gewisse Eigenschaften der Verteilungen und Operationen von Zufallsvariablen auf Eigenschaften und Operationen von Funktionen zu übertragen. So existiert beispielsweise eine Beziehung zwischen den Ableitungen der wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktion und dem Erwartungswert, der Varianz und weiteren Momenten der Zufallsvariable. Ebenso entspricht der Addition von stochastisch unabhängigen Zufallsvariablen oder der Faltung der Wahrscheinlichkeitsverteilungen der Multiplikation der entsprechenden Wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktionen. Diese Vereinfachung wichtiger Operationen ermöglicht dann beispielsweise die Untersuchung von komplexen stochastischen Objekten wie dem Bienaymé-Galton-Watson-Prozess.
Definition
Die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion lässt sich auf zwei Arten angeben:
einerseits mittels einer Wahrscheinlichkeitsverteilung,
andererseits mittels der Verteilung
einer Zufallsvariablen. Beide Arten sind insofern äquivalent, als dass jede
Wahrscheinlichkeitsverteilung als Verteilung einer Zufallsvariablen aufgefasst
werden kann und jede Verteilung einer Zufallsvariable wieder eine
Wahrscheinlichkeitsverteilung ist. Bei beiden Definitionen ist
gesetzt. Mit
sei die Menge der natürlichen
Zahlen inklusive der 0 bezeichnet.
Für Wahrscheinlichkeitsverteilungen
Ist
eine Wahrscheinlichkeitsverteilung
auf
mit Wahrscheinlichkeitsfunktion
,
so heißt die Funktion
definiert durch
die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion von
beziehungsweise von
.
Für Zufallsvariablen
Für eine Zufallsvariable
mit Werten in
ist die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion
von
beziehungsweise von
definiert als
.
Somit ist die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion einer Zufallsvariable genau die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion ihrer Verteilung. Alternativ lässt sich die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion einer Zufallsvariable auch über den Erwartungswert definieren als
.
Elementare Beispiele
Gegeben sei eine Bernoulli-verteilte
Zufallsvariable ,
also
.
Dann ist
und
.
Rein formell fasst man
als Zufallsvariable mit Werten in ganz
auf und setzt dann
für
.
Dann ist
Ist die Zufallsvariable
binomialverteilt
mit Parametern
und
,
also
,
so ist für
und
für
.
Die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion ist dann
.
Dies folgt mittels des binomischen Lehrsatzes.
Eigenschaften
Eigenschaften als Funktion
Die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion ist eine Potenzreihe und hat einen
Konvergenzradius
von mindestens 1, sie konvergiert also für alle .
Dies folgt daraus, dass alle Koeffizienten der Potenzreihe positiv sind und sich
zu 1 aufsummieren. Daraus folgt dann
für
.
Damit erben die wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktionen auf dem untersuchten
Intervall
alle Eigenschaften der Potenzreihen: Sie sind stetig
und auf dem Intervall
unendlich oft differenzierbar.
Da jedes der Monome
konvex
und monoton
wachsend ist und diese Eigenschaften abgeschlossen bezüglich konischen
Kombinationen sind, ist auch die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion
konvex und monoton wachsend.
Umkehrbarkeit
Die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion bestimmt die Verteilung von
eindeutig:
- Sind
und
-wertige Zufallsvariable mit
für alle
mit einem
, dann folgt
für alle
.
Es gilt dann nämlich nach der Taylor-Formel
für alle
.
Dieser Zusammenhang zeigt, dass
die Wahrscheinlichkeiten
„erzeugt“ und die Wahrscheinlichkeitsfunktion aus der
wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktion rekonstruiert werden kann.
Faltung und Summen von Zufallsvariablen
Sind
und
unabhängige
-wertige
Zufallsvariablen, so gilt für die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion von
,
denn mit
und
sind auch
und
unabhängig. Das lässt sich direkt auf endliche Summen unabhängiger
Zufallsvariabler verallgemeinern: Sind
unabhängige
-wertige
Zufallsvariablen, dann gilt für
.
Daraus folgt dann direkt für die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion der
Faltung
der Wahrscheinlichkeitsmaße
.
Beispiel
Seien
unabhängige, Bernoulli-verteilte Zufallsvariablen zum selben Parameter
.
Dann ist die Summe der Zufallsvariablen bekanntermaßen binomialverteilt zu den
Parametern
und
,
also
.
Mit den oben im Abschnitt
Elementare Beispiele hergeleiteten wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktionen
für die Bernoulli-Verteilung und die Binomialverteilung folgt
.
Momenterzeugung
Für eine -wertige
Zufallsvariable
und
ist
beziehungsweise
.
Dabei sind beide Seiten der beiden Gleichungen genau dann endlich, wenn
endlich ist.
Damit lassen sich insbesondere der Erwartungswert
und die Varianz
einer -wertigen
Zufallsvariablen aus ihrer wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktion
ermitteln:
,
Die Betrachtung des linksseitigen Grenzwertes ist hier notwendig, da die Differenzierbarkeit von Potenzreihen auf dem Rande des Konvergenzradius nicht notwendigerweise gegeben ist.
Beispiel
Sei
eine binomialverteilte Zufallsvariable, also
.
Dann ist
Beide Ableitungen sind Polynome
und können daher problemlos für
ausgewertet werden, der linksseitige Grenzwert braucht also nicht betrachtet
werden. Es ist
.
Damit folgt mit den obigen Ergebnissen
.
Lineare Transformation von Zufallsvariablen
Lineare Transformationen der Zufallsvariable wirken wie folgt auf die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion:
.
Beispiel
Ist
eine Bernoulli-verteilte Zufallsvariable, also
,
so ist für
die Zufallsvariable
zweipunktverteilt
auf
.
Die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion ist dann
.
Konvergenz
Die punktweise Konvergenz der Wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktion lässt sich direkt mit der Konvergenz in Verteilung in Beziehung setzen:
- Sind
Zufallsvariablen mit zugehörigen wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktionen
, so konvergieren die
genau dann in Verteilung gegen
, wenn die wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktionen
für alle
mit einem
punktweise gegen
konvergieren.
Die Aussage gilt ebenso für die Wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktionen von Wahrscheinlichkeitsverteilungen und die schwache Konvergenz.
Wahrscheinlichkeitserzeugende Funktionen von zufälligen Summen
Mittels wahrscheinlichkeitserzeugender Funktionen lassen sich leicht Summen
über eine zufällige Anzahl von Summanden berechnen. Sind
unabhängig
identisch verteilte Zufallsvariablen mit Werten in
und
eine weitere, von allen
unabhängige Zufallsvariable mit demselben Wertebereich. Dann hat die
Zufallsvariable
die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion
.
Diese Eigenschaft macht man sich zum Beispiel bei der Analyse des Galton-Watson-Prozesses zunutze. Nach den obigen Regeln für die Berechnung des Erwartungswertes gilt dann mit der Kettenregel
,
was der Formel von Wald entspricht.
Für die Varianz gilt dann
.
Dies ist genau die Blackwell-Girshick-Gleichung. Auch sie folgt mittels der obigen Regeln zur Bestimmung der Varianz und der Produktregel.
Multivariate wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion
Ist
ein
-dimensionaler
Zufallsvektor mit Werten
in
,
so ist die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion von
definiert als
mit .
Erwartungswert, Varianz und Kovarianz
Analog zum eindimensionalen Fall gilt
sowie
und
Beispiele
In der Tabelle sind einige wahrscheinlichkeitserzeugende Funktionen von gängigen diskreten Verteilungen aufgeführt. Wahrscheinlichkeitserzeugende Funktionen von Wahrscheinlichkeitsverteilungen, die hier nicht aufgeführt sind, stehen in dem jeweiligen Artikel der Wahrscheinlichkeitsfunktion.
Verteilung | Wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion |
---|---|
Bernoulli-Verteilung | |
Zweipunktverteilung | |
Binomialverteilung
|
|
Geometrische
Verteilung |
|
Negative
Binomialverteilung |
|
Diskrete
Gleichverteilung auf |
|
Logarithmische Verteilung | |
Poisson-Verteilung
|
|
Verallgemeinerte
Binomialverteilung |
|
Multivariate Verteilungen | |
Multinomialverteilung |
Insbesondere ist die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion der Binomialverteilung gleich dem n-fachen Produkt der wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktion der Bernoulli-Verteilung, da die Binomialverteilung genau die Summe von unabhängigen Bernoulli-Verteilungen ist. Dasselbe gilt für die geometrische Verteilung und die negative Binomialverteilung.
Zusammenhang mit weiteren erzeugenden Funktionen
Die wahrscheinlichkeitserzeugende Funktion einer Zufallsvariable
mit Wahrscheinlichkeitsfunktion
ist ein Spezialfall einer erzeugenden
Funktion mit
für
.
Außer der wahrscheinlichkeitserzeugenden Funktion gibt es noch drei weitere
erzeugende Funktionen in der Stochastik, die aber nicht nur für diskrete
Verteilungen definiert werden. Die momenterzeugende
Funktion ist definiert als
.
Demnach gilt
Die charakteristische
Funktion ist definiert als
.
Demnach gilt
.
Außerdem gibt es noch die kumulantenerzeugende Funktion als Logarithmus der momenterzeugenden Funktion. Aus ihr wird der Begriff der Kumulante abgeleitet.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 25.03. 2021