Boolesche Algebra
In der Mathematik ist eine boolesche Algebra (oder ein boolescher Verband) eine spezielle algebraische Struktur, die die Eigenschaften der logischen Operatoren UND, ODER, NICHT sowie die Eigenschaften der mengentheoretischen Verknüpfungen Durchschnitt, Vereinigung, Komplement verallgemeinert. Gleichwertig zu booleschen Algebren sind boolesche Ringe, die von UND und ENTWEDER-ODER (exklusiv-ODER) beziehungsweise Durchschnitt und symmetrischer Differenz ausgehen.
Die boolesche Algebra ist die Grundlage bei der Entwicklung von digitaler Elektronik und wird in allen modernen Programmiersprachen zur Verfügung gestellt. Sie wird auch in der Satztheorie und der Statistik verwendet.
UND | |
ODER | |
NICHT |
Geschichte
Die boolesche Algebra ist nach George Boole benannt, da sie auf dessen Logikkalkül von 1847
zurückgeht, in dem er erstmals algebraische Methoden in der Klassenlogik
und Aussagenlogik anwandte.
Ihre heutige Form verdankt sie der Weiterentwicklung durch Mathematiker wie John Venn,
William Stanley Jevons, Charles Peirce, Ernst Schröder und Giuseppe Peano.
In Booles originaler Algebra entspricht die Multiplikation dem UND, die Addition
dagegen weder dem exklusiven ENTWEDER-ODER noch dem inklusiven ODER („mindestens
eines von beiden ist wahr“). Die genannten Boole-Nachfolger gingen dagegen vom
inklusiven ODER aus: Schröder entwickelte 1877 das erste formale Axiomensystem
einer booleschen Algebra in additiver Schreibweise.
Peano brachte dessen System 1888 in die heutige Form (siehe unten) und führte
dabei die Symbole
und
ein.
Das aussagenlogische ODER-Zeichen
stammt von Bertrand Russell
1906;
Arend Heyting führte 1930
die Symbole
und
ein.
Den Namen „boolesche Algebra“ bzw. „boolean algebra“ prägte Henry Maurice Sheffer erst 1913. Das exklusive ENTWEDER-ODER, das Booles originaler Algebra näher kommt, legte erst Ivan Ivanovich Žegalkin 1927 dem booleschen Ring zugrunde, dem Marshall Harvey Stone 1936 den Namen gab.
Definition
Das redundante Axiomensystem
von Peano
(mit zusätzlichen ableitbaren Axiomen) charakterisiert eine boolesche Algebra
als Menge
mit Nullelement 0 und Einselement 1, auf der die zweistelligen
Verknüpfungen
und
und eine einstellige
Verknüpfung
definiert sind, durch folgende Axiome (originale Nummerierung von Peano):
Kommutativgesetze | (1) | (1’) | ||
Assoziativgesetze | (2) | (2’) | ||
Idempotenzgesetze | (3) | (3’) | ||
Distributivgesetze | (4) | (4’) | ||
Neutralitätsgesetze | (5) | (5’) | ||
Extremalgesetze | (6) | (6’) | ||
Doppelnegationsgesetz (Involution) | (7) | |||
De Morgansche Gesetze | (8) | (8’) | ||
Komplementärgesetze | (9) | (9’) | ||
Dualitätsgesetze | (10) | (10’) | ||
Absorptionsgesetze | (11) | (11’) |
Jede Formel in einer booleschen Algebra hat eine duale Formel, die
durch Ersetzung von 0 durch 1 und
durch
und umgekehrt entsteht. Ist die eine Formel gültig, dann ist es auch ihre duale
Formel, wie im Peano-Axiomensystem jeweils (n) und (n').
Die Komplemente haben nichts mit inversen Elementen zu tun, denn die Verknüpfung eines Elementes mit seinem Komplement liefert das neutrale Element der jeweils anderen Verknüpfung.
Definition als Verband
Eine boolesche Algebra ist ein distributiver komplementärer Verband. Diese
Definition geht nur von den Verknüpfungen
und
aus und umfasst die Existenz von 0, 1 und
und die unabhängigen Axiome (1)(1’)(2)(2’)(11)(11’)(4)(9)(9’) des gleichwertigen
Axiomensystems von Peano. Auf einer booleschen Algebra ist wie in jedem Verband
durch
eine partielle
Ordnung definierbar; bei ihr haben je zwei Elemente ein Supremum
und ein Infimum. Bei der mengentheoretischen Interpretation ist
gleichbedeutend zur Teilmengenordnung
.
Definition nach Huntington
Eine kompaktere Definition ist das Axiomensystem nach Edward Vermilye Huntington:
Eine boolesche Algebra ist eine Menge
mit zwei Verknüpfungen auf
,
so dass für alle Elemente
,
und
gilt:
- Kommutativität: (1) und (1’)
- Distributivität: (4) und (4’)
- Existenz neutraler Elemente: Es gibt Elemente
und
, so dass (5) und (5’)
- Existenz von Komplementen: Zu jedem
gibt es
, so dass (9) und (9’)
(Die manchmal separat geforderte Abgeschlossenheit
der Verknüpfungen ist hier schon in der Formulierung „Verknüpfungen auf
“
enthalten.)
Auch aus diesen vier Axiomen lassen sich alle oben genannten Gesetze und weitere ableiten. Auch lässt sich aus dem Axiomensystem, das zunächst nur die Existenz neutraler und komplementärer Elemente fordert, deren Eindeutigkeit ableiten, d.h., es kann nur ein Nullelement, ein Einselement, und zu jedem Element nur ein Komplement geben.
Schreibweise
Die Operatoren boolescher Algebren werden verschiedenartig notiert. Bei der
logischen Interpretation als Konjunktion, Disjunktion und Negation schreibt man
sie als ,
und
und verbalisiert sie als UND, ODER, NICHT bzw. AND, OR, NOT. Bei der
mengentheoretischen Interpretation als Durchschnitt, Vereinigung und Komplement
werden sie als
,
und
(
)
geschrieben. Zur Betonung der Abstraktion in der allgemeinen booleschen Algebra
werden auch Symbolpaare wie
,
oder
,
benutzt.
Mathematiker schreiben gelegentlich „·“ für UND und „+“ für ODER (wegen ihrer entfernten Ähnlichkeit zur Multiplikation und Addition anderer algebraischer Strukturen) und stellen NICHT mit einem Überstrich, einer Tilde ~, oder einem nachgestellten Prime-Zeichen dar. Diese Notation ist auch in der Schaltalgebra zur Beschreibung der booleschen Funktion digitaler Schaltungen üblich; dort benutzt man oft die definierbaren Verknüpfungen NAND (NOT AND), NOR (NOT OR) und XOR (EXCLUSIVE OR).
In diesem Artikel werden die Operatorsymbole ,
und
verwendet.
Beispiele
Zweielementige boolesche Algebra
Die wichtigste boolesche Algebra hat nur die zwei Elemente 0 und 1. Die Verknüpfungen sind wie folgt definiert:
|
|
|
Diese Algebra hat Anwendungen in der Aussagenlogik,
wobei 0 als „falsch“ und 1 als „wahr“ interpretiert werden. Die Verknüpfungen
entsprechen den logischen Verknüpfungen UND, ODER, NICHT. Ausdrücke in dieser
Algebra heißen boolesche Ausdrücke.
Auch für digitale Schaltungen wird diese Algebra verwendet und als Schaltalgebra bezeichnet. Hier entsprechen 0 und 1 zwei Spannungszuständen in der Schalterfunktion von AUS und AN. Das Eingangs-Ausgangs-Verhalten jeder möglichen digitalen Schaltung kann durch einen booleschen Ausdruck modelliert werden.
Die zweielementige boolesche Algebra ist auch wichtig für die Theorie
allgemeiner boolescher Algebren, da jede Gleichung, in der nur Variablen, 0 und
1 durch
und
verknüpft sind, genau dann in einer beliebigen booleschen Algebra für jede
Variablenbelegung erfüllt ist, wenn sie in der zweielementigen Algebra für jede
Variablenbelegung erfüllt ist (was man einfach durchtesten kann). Zum Beispiel
gelten die folgenden beiden Aussagen (Konsensusregeln, engl.: Consensus
Theorems) über jede boolesche Algebra:
In der Aussagenlogik nennt man diese Regeln Resolutionsregeln.
Mengenalgebra
Die Potenzmenge einer Menge
wird mit Durchschnitt, Vereinigung und dem Komplement
zu einer booleschen Algebra, bei der 0 die leere Menge
und 1 die ganze Menge
ist. Der Sonderfall
ergibt die einelementige Potenzmenge mit 1 = 0. Auch jeder
enthaltende, bezüglich Vereinigung und Komplement abgeschlossene Teilbereich der
Potenzmenge von
ist eine boolesche Algebra, die als Teilmengenverband oder Mengenalgebra
bezeichnet wird. Der Darstellungssatz
von Marshall Harvey Stone
besagt, dass jede boolesche Algebra isomorph (s. u.) zu einer Mengenalgebra ist.
Daraus folgt, dass die Mächtigkeit
jeder endlichen booleschen Algebra eine Zweierpotenz ist.
Über die Venn-Diagramme veranschaulicht die Mengenalgebra boolesche Gesetze, beispielsweise Distributiv- und de-Morgansche-Gesetze. Darüber hinaus basiert auf ihrer Form als KV-Diagramm eine bekannte Methode der systematischen Vereinfachung boolescher Ausdrücke in der Schaltalgebra.
Weitere Beispiele für boolesche Mengenalgebren stammen aus der Topologie. Die
Menge der abgeschlossenen
offenen Mengen eines topologischen
Raums bildet mit den üblichen Operationen für die Vereinigung, den
Durchschnitt und das Komplement von Mengen eine boolesche Algebra. Die regulär
abgeschlossenen Mengen und die regulär offenen
Mengen stellen mit den jeweiligen regularisierten Mengenoperationen ,
und
ebenfalls boolesche Algebren dar.
Andere Beispiele
Die Menge aller endlichen oder koendlichen
Teilmengen von
bildet mit Durchschnitt und Vereinigung eine boolesche Algebra.
Für jede natürliche Zahl n ist die Menge aller positiven Teiler von n mit den Verknüpfungen ggT und kgV ein distributiver beschränkter Verband. Dabei ist 1 das Nullelement und n das Einselement. Der Verband ist boolesch genau dann, wenn n quadratfrei ist. Dieser Verband heißt Teilerverband von n.
Ist
ein Ring
mit Einselement, dann definieren wir die Menge
aller idempotenten Elemente des Zentrums. Mit den Verknüpfungen
wird
zu einer booleschen Algebra.
Ist
ein Hilbertraum und
die Menge der Orthogonalprojektionen
auf
,
dann definiert man für zwei Orthogonalprojektionen
und
,
wobei
gleich
oder
sein soll. In beiden Fällen wird
zu einer booleschen Algebra. Der Fall
ist in der Spektraltheorie
von Bedeutung.
Homomorphismen
Ein Homomorphismus
zwischen booleschen Algebren
ist ein Verbandshomomorphismus
,
der 0 auf 0 und 1 auf 1 abbildet, d.h., für alle
gilt:
Es folgt daraus, dass
für alle a aus A. Die Klasse
aller booleschen Algebren wird mit diesem Homomorphismenbegriff eine
Kategorie. Ist ein
Homomorphismus f zusätzlich bijektiv, dann heißt
Isomorphismus, und
und
heißen isomorph.
Boolesche Ringe
Eine andere Sichtweise auf boolesche Algebren besteht in sogenannten
booleschen Ringen: Das sind Ringe
mit Einselement, die zusätzlich idempotent
sind, also das Idempotenzgesetz
erfüllen. Jeder idempotente Ring ist kommutativ.
Die Addition im booleschen Ring entspricht bei der mengentheoretischen
Interpretation der symmetrischen
Differenz und bei aussagenlogischer Interpretation der Alternative
ENTWEDER-ODER (exclusiv-ODER, XOR);
die Multiplikation entspricht der Durchschnittsbildung beziehungsweise der
Konjunktion UND.
Boolesche Ringe sind stets selbstinvers, denn es gilt
und
,
so dass die Inversen-Operation definierbar ist. Wegen dieser Eigenschaft
besitzen sie auch, falls 1 und 0 verschieden sind, stets die Charakteristik
2. Der kleinste solche boolesche Ring ist zugleich ein Körper mit
folgenden Verknüpfungstafeln:
|
|
Der Potenzreihen-Ring
modulo
über diesem Körper ist ebenfalls ein boolescher Ring, denn
wird mit
identifiziert und liefert die Idempotenz. Diese Algebra benutzte bereits Ivan Ivanovich Žegalkin
1927 als Variante der originalen Algebra von Boole, der den Körper der reellen
Zahlen zugrunde legte, welcher noch keinen booleschen Ring ergibt.
Jeder boolesche Ring
entspricht einer booleschen Algebra
durch folgende Definitionen:
Umgekehrt wird jede boolesche Algebra
zu einem booleschen Ring
durch folgende Definitionen:
Ferner ist eine Abbildung
genau dann ein Homomorphismus boolescher Algebren, wenn sie ein Ringhomomorphismus
(mit Erhaltung der Eins) boolescher Ringe ist.
Darstellungssatz von Stone
Für jeden topologischen
Raum ist die Menge aller abgeschlossenen
offenen Teilmengen eine boolesche Algebra mit Durchschnitt und Vereinigung.
Der Darstellungssatz von Stone, bewiesen von Marshall Harvey Stone, besagt, dass umgekehrt für jede boolesche Algebra ein topologischer
Raum (genauer ein Stone-Raum,
das heißt ein total
unzusammenhängender, kompakter
Hausdorffraum)
existiert, in dem sie als dessen boolesche Algebra abgeschlossener offener
Mengen realisiert wird. Der Satz liefert sogar eine kontravariante
Äquivalenz
zwischen der Kategorie der Stone-Räume mit stetigen
Abbildungen und der Kategorie der booleschen Algebren mit ihren
Homomorphismen (die Kontravarianz erklärt sich dadurch, dass sich für
stetig die boolesche Algebra der abgeschlossenen offenen Mengen in
durch Urbildbildung aus der von
ergibt, nicht umgekehrt durch Bildung des Bildes).
Siehe auch
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 16.08. 2022