Fundamentalsatz der Analysis
Der Fundamentalsatz der Analysis, auch bekannt als Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung (HDI), ist ein mathematischer Satz, der die beiden grundlegenden Konzepte der Analysis miteinander in Verbindung bringt, nämlich das der Integration und das der Differentiation. Er sagt aus, dass Ableiten bzw. Integrieren jeweils die Umkehrung des anderen ist. Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung besteht aus zwei Teilen, die manchmal als erster und zweiter Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung bezeichnet werden. Die konkrete Formulierung des Satzes und sein Beweis variieren je nach Aufbau der betrachteten Integrationstheorie. Hier wird zunächst das Riemann-Integral betrachtet.
Geschichte und Rezeption
Bereits Isaac Barrow, der akademische Lehrer Newtons, erkannte, dass Flächenberechnung (Integralrechnung) und Tangentenberechnung (Differentialrechnung) in gewisser Weise invers zueinander sind, den Hauptsatz fand er jedoch nicht. Der Erste, der diesen publizierte, war 1667 James Gregory in Geometriae pars universalis. Die Ersten, die sowohl den Zusammenhang als auch dessen fundamentale Bedeutung erkannten, waren unabhängig voneinander Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz mit ihrer Infinitesimalrechnung. In ersten Aufzeichnungen zum Fundamentalsatz aus dem Jahr 1666 erklärt Newton den Satz für beliebige Kurven durch den Nullpunkt, weswegen er die Integrationskonstante ignorierte. Newton publizierte dies erst 1686 in Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Leibniz fand den Satz 1677, er schrieb ihn im Wesentlichen in der heutigen Notation nieder.
Seine moderne Form erhielt der Satz durch Augustin Louis Cauchy, der als Erster eine formelle Integraldefinition sowie einen Beweis mit Hilfe des Mittelwertsatzes entwickelte. Enthalten ist dies in seiner Fortsetzung des Cours d’Analyse von 1823. Cauchy untersuchte auch die Situation im Komplexen und bewies damit eine Reihe zentraler Resultate der Funktionentheorie. Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand man die Erweiterungen auf höhere Dimensionen. Henri Léon Lebesgue erweiterte dann 1902 den Fundamentalsatz mit Hilfe seines Lebesgue-Integrals auf unstetige Funktionen.
Der Hauptsatz wurde im 20. Jahrhundert von dem Mathematiker Friedrich Wille humoristisch in der Hauptsatzkantate vertont.
Der Satz
Der erste Teil des Satzes ergibt die Existenz von Stammfunktionen und den Zusammenhang von Ableitung und Integral:
Ist
eine reellwertige stetige Funktion auf dem
abgeschlossenen
Intervall
,
so ist für alle
die Integralfunktion
mit
differenzierbar und eine Stammfunktion
von ,
das heißt, für alle
gilt
.
Dass die Integralfunktion
auf dem ganzen Intervall
definiert ist, folgt aus der Tatsache, dass das Riemann-Integral für jede
stetige Funktion existiert.
Der zweite Teil des Satzes erklärt, wie Integrale berechnet werden können:
Ist
eine stetige Funktion mit Stammfunktion
,
dann gilt die Newton-Leibniz-Formel:
Der Beweis
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Der Beweis des Satzes ist, sobald die Begriffe Ableitung und Integral gegeben
sind, nicht schwierig. Die besondere Leistung von Newton und Leibniz besteht
also in der Entdeckung der Aussage und ihrer Relevanz. Für den ersten Teil muss
nur gezeigt werden, dass die Ableitung von ,
gegeben durch
,
existiert und gleich
ist.
Dazu sei
fest und
mit
.
Dann gilt:
Nach dem Mittelwertsatz
der Integralrechnung existiert eine reelle Zahl
zwischen
und
,
sodass
gilt. Wegen
für
und der Stetigkeit von
folgt daraus
d.h., die Ableitung von
in
existiert und ist
.
Dieser Teil des Hauptsatzes kann auch ohne den Mittelwertsatz, nur unter
Ausnutzung der Stetigkeit, bewiesen werden.
Der Beweis des zweiten Teils erfolgt durch Einsetzen: Setzt man für die im
ersten Teil gegebene Stammfunktion
,
so ist
und
und damit gilt der Satz für diese spezielle Stammfunktion. Alle anderen
Stammfunktionen unterscheiden sich von jener aber nur durch eine Konstante, die
bei der Subtraktion verschwindet. Somit ist der Satz für alle Stammfunktionen
bewiesen.
Anschauliche Erklärung
Zur anschaulichen Erklärung betrachten wir ein Teilchen, das sich durch den
Raum bewegt, beschrieben durch die Ortsfunktion .
Die Ableitung
der Ortsfunktion nach der Zeit ergibt die Geschwindigkeit:
Die Ortsfunktion ist also eine Stammfunktion der Geschwindigkeitsfunktion. Der Hauptsatz erklärt nun, wie durch Integration aus der Ableitung einer Funktion die Funktion selbst wiedergewonnen werden kann. Die obige Gleichung sagt aus, dass eine infinitesimale Änderung der Zeit eine infinitesimale Änderung des Ortes bewirkt:
Eine Änderung im Ort
ergibt sich als Summe infinitesimaler Änderungen
.
Diese sind aber nach obiger Gleichung gegeben als Summen der Produkte der
Ableitung
und infinitesimal kleiner Änderungen in der Zeit. Genau diesem Vorgang
entspricht die Berechnung des Integrals von
.
Anwendungen
Berechnung von Integralen durch Stammfunktionen
Die hauptsächliche Bedeutung des Fundamentalsatzes liegt darin, dass er die Berechnung von Integralen auf die Bestimmung einer Stammfunktion, sofern eine solche überhaupt existiert, zurückführt.
Beispiele
- Die auf ganz
definierte Funktion
besitzt die Stammfunktion
. Man erhält somit:
- Die auf
definierte Funktion
, deren Graph den Rand eines Einheitshalbkreises beschreibt, besitzt die Stammfunktion
-
.
- Für die Fläche des halben Einheitskreises erhält man somit den Wert
,
- für die Fläche des ganzen Einheitskreises also den Wert
.
Am letzten Beispiel zeigt sich, wie schwierig es sein kann, Stammfunktionen
gegebener Funktionen einfach zu erraten. Gelegentlich erweitert dieser Prozess
die Klasse bekannter Funktionen. Etwa ist die Stammfunktion der Funktion
keine rationale
Funktion, sondern hängt mit dem Logarithmus
zusammen und ist
.
Herleitung von Integrationsregeln
Der Zusammenhang zwischen Integral und Ableitung erlaubt es, Ableitungsregeln, die leicht aus der Definition der Ableitung gefolgert werden können, über den Hauptsatz auf Integrationsregeln zu übertragen. Zum Beispiel kann die Potenzregel benutzt werden, um Integrale von Potenzfunktionen direkt hinzuschreiben. Interessanter sind Aussagen, die für allgemeinere Klassen von Funktionen gelten. Dabei ergibt sich dann als Übertragung der Produktregel die partielle Integration, die deswegen auch Produktintegration genannt wird, und aus der Kettenregel die Substitutionsregel. Erst dies liefert praktikable Verfahren zum Auffinden von Stammfunktionen und damit zur Berechnung von Integralen.
Auch in mit diesen Möglichkeiten und auf diese Weise erstellten Tabellenwerken von Stammfunktionen gibt es allerdings Integranden, für die keine Stammfunktion angegeben werden kann, obwohl das Integral existiert. Die Berechnung muss dann über andere Werkzeuge der Analysis erfolgen, beispielsweise Integration im Komplexen oder numerisch.
Verallgemeinerungen des Hauptsatzes
In seiner obigen Form gilt der Satz nur für stetige Funktionen, was eine zu starke Einschränkung bedeutet. Tatsächlich können auch unstetige Funktionen eine Stammfunktion besitzen. Beispielsweise gilt der Satz auch für das Regel- oder Cauchyintegral, bei dem Regelfunktionen untersucht werden. Diese besitzen an jeder Stelle einen linksseitigen und einen rechtsseitigen Grenzwert, können also sehr viele Unstetigkeitsstellen haben. Auch diese Funktionenklasse ist noch nicht ausreichend, daher folgt hier der Hauptsatz für das sehr allgemeine Lebesgue-Integral.
Der Hauptsatz für Lebesgue-Integrale
Ist
auf
Lebesgue-integrierbar,
so ist für alle
die Funktion
mit
absolut
stetig (insbesondere ist sie fast
überall differenzierbar), und es gilt
-fast
überall.
Sei umgekehrt die Funktion
auf
absolut stetig. Dann ist
-fast
überall differenzierbar. Definiert man
als
für alle
,
in denen
differenzierbar ist, und identisch null für die anderen
,
so folgt, dass
Lebesgue-integrierbar ist mit
Der Hauptsatz im Falle punktweiser Stetigkeit
Weiterhin kann der Fundamentalsatz der Analysis auch für Funktionen
formuliert werden, die nur eine Stetigkeitsstelle besitzen. Sei dazu
Lebesgue-integrierbar und im Punkt
stetig. Dann ist
in
differenzierbar, und es gilt
.
Falls
bzw.
,
ist die Differenzierbarkeit einseitig zu verstehen.
Der Hauptsatz im Komplexen
Der Hauptsatz lässt sich auch auf Kurvenintegrale in der komplexen Zahlenebene übertragen. Seine Bedeutung liegt dabei im Gegensatz zur reellen Analysis weniger in der Aussage selbst und ihrer Bedeutung für die praktische Berechnung von Integralen, sondern darin, dass aus ihm drei der wichtigen Sätze der Funktionentheorie folgen, nämlich der cauchysche Integralsatz und daraus dann die cauchysche Integralformel und der Residuensatz. Es sind diese Sätze, die zur Berechnung von komplexen Integralen herangezogen werden.
Sei
eine komplexe Kurve
mit Parameterintervall
und
eine komplexe Funktion auf der offenen Menge
,
die den Abschluss von
enthält. Hierbei sei
komplex differenzierbar auf
und stetig auf dem Abschluss von
.
Dann ist
Insbesondere ist dieses Integral null, wenn
eine geschlossene Kurve ist. Der Beweis führt das Integral einfach auf reelle
Integrale von Realteil und Imaginärteil zurück und benutzt den reellen
Hauptsatz.
Mehrdimensionale Verallgemeinerungen
Abstrakt gesprochen hängt der Wert eines Integrals auf einem Intervall nur
von den Werten der Stammfunktion am Rand ab. Dies wird auf höhere Dimensionen
durch den gaußschen
Integralsatz verallgemeinert, der das Volumenintegral der Divergenz
eines Vektorfeldes
mit einem Integral über den Rand in Verbindung bringt.
Es sei
kompakt mit
abschnittsweise glattem Rand
,
der Rand sei orientiert durch ein äußeres Normalen-Einheitsfeld
,
ferner sei das Vektorfeld
stetig auf
und stetig
differenzierbar im Inneren
von
.
Dann gilt:
Noch allgemeiner betrachtet der Satz
von Stokes Differentialformen auf Mannigfaltigkeiten. Sei
eine orientierte
-dimensionale
differenzierbare
Mannigfaltigkeit mit abschnittsweise glattem Rand
mit induzierter Orientierung.
Dies ist für die meisten anschaulichen Beispiele, wie die Vollkugel mit Rand
(Sphäre), gegeben. Ferner sei
eine stetig differenzierbare Differentialform
vom Grad
.
Dann gilt
wobei
die Cartan-Ableitung
bezeichnet.
Literatur
- Otto Forster: Analysis 1. Differential- und Integralrechnung einer Veränderlichen. 7. Auflage. Vieweg, Braunschweig 2004, ISBN 3-528-67224-2.
- Harro Heuser: Lehrbuch der Analysis. Teil 1. 8. Auflage. B. G. Teubner, Stuttgart 1990, ISBN 3-519-12231-6.
- Konrad Königsberger: Analysis 1. Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-41282-4.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 01.02. 2021