Sturm-Liouville-Problem
Ein klassisches Sturm-Liouville-Problem (nach Charles-François Sturm (1803–1855) und Joseph Liouville (1809–1882)) ist folgendes Eigenwertproblem aus der Analysis: Man betrachte die Differentialgleichung 2. Ordnung:
wobei
Koeffizientenfunktionen sind. Finde alle komplexen Zahlen
,
für die die Differentialgleichung auf dem Intervall
eine Lösung besitzt, die den Randbedingungen
genügt ().
Führt man den linearen Operator der Form
ein, den Sturm-Liouville-Operator, so kann die Eigenwertgleichung
mithilfe von Methoden aus der Funktionalanalysis
(Spektraltheorie)
im Hilbertraum der bezüglich
der Gewichtsfunktion
quadratintegrierbaren Funktionen behandelt werden.
Ist das Intervall kompakt und sind die Koeffizientenfunktionen
integrierbar, so spricht man von einem regulären Sturm-Liouville-Problem. Ist
das Intervall unbeschränkt oder sind die Koeffizientenfunktionen nur lokal
integrierbar, so spricht man von einem singulären Sturm-Liouville-Problem.
Reguläre Sturm-Liouville-Probleme
Die Eigenwertgleichung
mit integrierbaren reellen Funktionen ,
zusammen mit Randbedingungen der Form
nennt man ein reguläres Sturm-Liouville-Problem über dem Intervall
,
wenn dieses Intervall endlich ist.
Im Fall
spricht man von Dirichlet-Randbedingungen
und im Fall
von Neumann-Randbedingungen,
wobei die Existenz und Eindeutigkeit der Lösung mit den Randbedingungen
sichergestellt wird.
Für das reguläre Sturm-Liouville-Problem gilt, dass es eine abzählbare Folge
von reellen Eigenwerten gibt, die gegen
divergiert:
Die Eigenwerte verhalten sich asymptotisch (Weyl-Asymptotik) wie
Die zugehörigen Eigenfunktionen
bilden eine Orthonormalbasis
im Hilbertraum
der bezüglich der Gewichtsfunktion
quadratintegrierbaren Funktionen.
Eigenschaften
Für das reguläre Sturm-Liouville-Problem ist man daran interessiert, das Verhalten der Eigenfunktionen zu beschreiben, ohne deren genaue Kenntnis zu haben. Insofern geben die nachfolgenden Sätze, die teilweise auf Charles-François Sturm zurückgehen, einen Überblick der Eigenschaften der Lösungen des Sturm-Liouville-Problems.
Dazu wird die homogene Differentialgleichung
für
betrachtet und nachfolgende Anforderungen an die Koeffizientenfunktionen
gestellt:
und
,
und
,
Darüberhinausgehende Anforderungen sind in den entsprechenden Sätzen formuliert.
Amplitudensatz
Da die Amplituden den Absolutbetrag der lokalen Extremwerte angeben, wird mit dem nachfolgenden Satz das Verhalten der Amplituden aufeinanderfolgender Nullstellen beschrieben.
Abweichend von den eingangs genannten Voraussetzungen sei ,
monoton wachsend oder monoton fallend, sowie auf einem geeigneten Intervall
sei
eine nicht triviale Lösung von
.
Für die Amplituden zweier
aufeinanderfolgender Extremstellen
von
gilt:
und
.
- Beweis
Es sei
eine nicht-triviale Lösung und
.
Dabei ist
keine Lösung der Sturm-Liouville-Differentialgleichung, jedoch eine Funktion die
mit denselben Extremstellen und Nullstellen ausgestattet ist wie
.
Mit Hilfe dieser Konstruktion folgt mit der
Sturm-Liouville-Differentialgleichung
Wird zudem berücksichtigt, dass an jedem Extrempunkt
ist, so gilt für ein
mit
Demzufolge wird die Steigung von
beeinflusst durch den Wert der Ableitung von
.
Da sich die Steigung von
auf
vererbt, erhält man für den Betrag:
und
.
Oszillationssatz
Der Oszillationssatz besagt für ,
wenn neben den eingangs beschriebenen Anforderungen für
zudem gilt:
und
sind divergent,
dann ist auf dem Intervall
jede nicht-triviale Lösung oszillatorisch.
Zudem gilt im Falle von Dirichlet-Randbedingungen, dass jede -te
Eigenfunktion
genau
Nullstellen im Intervall
hat.
- Beweis
Seien
ebenso wie
nicht-triviale Lösungen der homogenen Differentialgleichung. Mit
und wegen
ist
und somit:
- (1)
.
Dieses lineare Differentialgleichungssystem hat nur dann nicht-triviale
Lösungen, wenn für jedes
gilt
,
da sonst
und daher
sein müsste.
Gesucht sind daher oszillatorische Lösungen, die mittels der Prüfer-Transformation in ebenen Polarkoordinaten erhalten werden:
- (2)
.
Dabei ist
und die dazugehörige Argumentfunktion
lautet:
bzw.
.
Behauptung: Falls ,
dann haben
ebenso wie
unendlich viele Nullstellen.
Begründung: Aus (1) und (2) folgt
- (3)
und
- (4)
.
Wird die Gleichung (3) mit
und Gleichung (4) mit
multipliziert und addiert, so ergibt sich:
, bzw.
- (5)
,
ist also monoton wachsend.
Bleibt noch zu zeigen, dass
unbeschränkt ist.
Wäre
beschränkt, so existierten die Grenzwerte
und
und es wäre
.
Insbesondere ist
oder
.
Sei im Folgenden
so groß, dass
für alle
.
Dann liefert Gleichung (5) nach Integration für alle
einen Widerspruch zur Voraussetzung.
ist somit unbeschränkt.
Orthogonale Relation
Erfüllt der Sturm-Liouville-Operator
bei geeignetem
und Eigenfunktion
die Sturm-Louiville-Differentialgleichung
,
dann bilden die Eigenfunktionen
eine Orthogonalbasis
im Hilbertraum
der quadratintegrierbaren Funktionen. Demzufolge gilt für
- Beweis
Mit dem Sturm-Liouville-Operator
ergeben sich für die Eigenfunktionen
folgende Ausgangsgleichungen:
- (1)
und
- (2)
Wird Gleichung (1) von Gleichung (2) subtrahiert, so ergeben sich die beiden Gleichungen:
- (3)
und
- (4)
.
Mittels der Lagrange-Identität für Randwertprobleme lässt sich Gleichung (3) zusammenfassen zu:
- (5)
wobei
die Wronski-Determinante
der Funktionen
bedeutet.
Zur Berechnung der Wronski-Determinante mittels der Abelschen
Identität wird die Differentialgleichung
in der Darstellung
betrachtet, mit
und
.
Die Koeffizientenmatrix des Fundamentalsystems
lautet dann
und deren Spur
ist
.
Somit lautet die Abelsche Identität:
.
Sei o.B.d.A.
monoton wachsend und daher
so lässt sich das Integral darstellen durch
und demnach
.
Durch die Wahl der Integrationskonstanten zu
ergibt sich
und Gleichung (5) nimmt folgende Gestalt an:
Nach Umformen und Trennung der Variablen lautet die Gleichung nun:
.
Auf beiden Seiten der Gleichung stehen nun eindimensionale Pfaffsche Formen und da
eine konstante Funktion ist, gilt
.
Für die Berechnung der verbleibenden Pfaffschen Form ist eine geeignete
Parametrisierung
zu wählen. Das Integral lautet nun:
.
Demnach verschwindet das Integral längs dem Intervall ,
so dass unter Verwendung von Gleichung (4) gilt:
Diese Bedingung kann jedoch nur erfüllt werden, wenn:
.
Vergleichssatz
Der Sturmsche Vergleichssatz liefert einen Zusammenhang zwischen den beiden Differentialgleichungen
- (1)
- (2)
,
wobei für
vorausgesetzt wird
monoton wachsend
monoton wachsend.
Wenn
eine nicht triviale Lösung der Differentialgleichung
und
eine nicht triviale Lösung von
ist, dann liegen im Intervall
zwischen zwei Nullstellen von
eine Nullstelle von
.
- Beweis
Als Ausgangspunkt für den nachfolgenden Beweis wird die Lagrange-Identität
für Randwertprobleme betrachtet. Dazu wird Gleichung (1) von links
mit
multipliziert und von Gleichung (2), welche ebenfalls von links mit
multipliziert wird, subtrahiert und so eine Lagrange-Identität erhalten:
wobei
die Wronski-Determinante
der Funktionen
angibt. Werden nun für diese Gleichung die Paffschen
Formen gebildet, wobei eine geeignete Parametrisierung durch
gegeben ist und demzufolge die Variable
durch den Parameter
zu ersetzen ist, so nimmt die Differentialgleichung folgende Integraldarstellung
an:
.
- Teil 1
- Da gemäß Amplitudensatz
beschränkt sind und
lineare Operatoren sind, muss gelten
.
- Teil 2
- Mit der Abelschen Identität ergibt sich, wie im Abschnitt orthogonale Relation gezeigt, folgender Zusammenhang:
. Somit lautet das Integral nun:
- Teil 3
- Da die Funktionen
dem Amplitudensatz genügen und
monoton fallend ist, bleibt das Integral in dem Intervall
beschränkt und es gilt:
.
Mit dieser Integralgleichung wird deutlich, dass gelten muss .
Um nun Aussagen über den Verlauf der Eigenfunktionen innerhalb des Intervalls
machen zu können, wird folgende Konstruktion betrachtet:
.
Sind die beiden linear unabhängigen Funktionen
und o.B.d.A.
gegeben, so folgt mit Gleichung (2)
,
dass
und somit lässt sich die Wronski-Determinante wie folgt darstellen
und daher
.
Sei nun o.B.d.A.
auf dem Intervall
,
so dass die Dirichlet-Randbedingung
erfüllt ist, dann folgt
Um zu zeigen welches Vorzeichen
hat, wird wegen
der Amplitudensatz
angewandt und mit der Identität
folgende Ungleichungen betrachtet
- (3)
und
- (4)
Addition von (3) und (4) liefert
.
Nach umsortieren wird daraus
.
Nach Voraussetzung ist ,
und somit
bzw.
und demzufolge muss gelten
.
Also gilt
.
Wegen der Dirichlet-Randbedingung ist
und es gilt
.
Da nach Voraussetzung
auf
ist, gibt es nach dem Zwischenwertsatz
ein
so dass
eine lokale Extremstelle einnimmt. Unterhalb dieser Extremstelle ist
monoton steigend und oberhalb der Extremstelle ist
monoton fallend. Dementsprechend ist auch
in
zunächst monoton steigend und dann monoton fallend und wegen des
Vorzeichenwechsels von
in
muss
eine Nullstelle in
haben.
Beispiel
Ein einfaches Beispiel ist die Differentialgleichung
auf dem Intervall ,
zusammen mit den Dirichlet-Randbedingungen
Aufgrund der Randbedingungen wird der periodische Ansatz
für
und beliebige
gewählt. Wegen
ist
und
also
und somit
für
.
Die Folge der Eigenwerte lautet demnach
und genügt der Weyl-Asymptotik. Die Folge der Eigenfunktionen ergibt sich,
bis auf die zu bestimmenden Koeffizienten ,
zu
Die Orthonormalbasis der Eigenfunktionen im Hilbertraum
mit
ergibt sich unter Verwendung der trigonometrischen
Formel
:
Hierbei bedeutet
das Kronecker-Delta
und die Normierung
bedingt
,
so dass die normierten Eigenfunktionen die Darstellung
annehmen.
Die zugehörige Eigenfunktionsentwicklung ist die Fourierreihe mit
Mathematische Theorie
Der geeignete mathematische Rahmen ist der Hilbertraum
mit dem Skalarprodukt
.
In diesem Raum ist
ein selbstadjungierter
Operator, wenn er auf der Menge der (im Sinne der schwachen Ableitung)
differenzierbaren Funktionen, die die Randbedingungen erfüllen, definiert wird:
Hierbei bezeichnet
die Menge der auf
absolut
stetigen Funktionen. Da
ein unbeschränkter Operator ist, betrachtet man die Resolvente
,
wobei
kein Eigenwert sein darf. Es stellt sich heraus, dass die Resolvente ein
Integraloperator mit stetigem Kern (die Green’sche
Funktion des Randwertproblems) ist. Somit ist die Resolvente ein kompakter Operator,
und die Existenz einer abzählbaren Folge von Eigenfunktionen folgt aus dem Spektralsatz für kompakte
Operatoren.
Der Zusammenhang zwischen den Eigenwerten von
und der Resolvente folgt, da
äquivalent ist zu
mit
ist.
Singuläre Sturm-Liouville-Probleme
Sind obige Bedingungen nicht erfüllt, so spricht man von einem singulären Sturm-Liouville-Problem. Das Spektrum besteht dann im Allgemeinen nicht mehr nur aus Eigenwerten und besitzt auch einen kontinuierlichen Anteil. Es gibt weiterhin verallgemeinerte Eigenfunktionen, und die zugehörige Eigenfunktionsentwicklung ist eine Integraltransformation (vergleiche Fouriertransformation anstelle von Fourierreihe).
Wechseln
oder
das Vorzeichen
auf dem Intervall
,
so spricht man von einem indefiniten Sturm-Liouville-Problem.
Anwendung
- Der Fall
entspricht der eindimensionalen zeitunabhängigen Schrödingergleichung.
- Der Separationsansatz zur Lösung partieller Differentialgleichungen führt auf Sturm-Liouville-Probleme.
Literatur
- Wolfgang Walter: Gewöhnliche Differentialgleichungen. 7. Auflage. Springer, Berlin 2000, ISBN 3-540-67642-2.
- Joachim Weidmann: Lineare Operatoren in Hilberträumen. Teil 2. Anwendungen. Teubner, Stuttgart / Leipzig / Wiesbaden 2003, ISBN 3-519-02237-0.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 02.11. 2021