Kompatibilitätsbedingung
Kompatibilitätsbedingungen sind in der Kontinuumsmechanik Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit aus Ableitungen eines Bewegungsfeldes nach dem Ort gebildeten Größen, das Bewegungsfeld rekonstruiert werden kann. Die abgeleiteten Größen sind dann kompatibel mit einem Bewegungsfeld.
Bei der Bewegung eines Körpers durch den Raum treten in den für die Kontinuumsmechanik interessanten Fällen Verformungen auf, die sich durch die Verzerrungen quantifizieren lassen, die aus Ableitungen des Bewegungsfeldes nach dem Ort berechnet werden. Von den Verzerrungen gibt es im Allgemeinen dreidimensionalen Fall sechs Komponenten. Sollen aus ihnen die drei Komponenten der Bewegung in x-, y- bzw. z-Richtung rekonstruiert werden, ist klar, dass die Verzerrungen nicht voneinander unabhängig sein können. Bei einer ebenen Bewegung liegen drei Verzerrungsfelder und vor, die zwei Verschiebungskomponenten in x- bzw. y-Richtung entsprechen (nach Umbenennung gemäß dem Schema 1 → x und 2 → y). Einen solchen Fall zeigt die nebenstehende Abbildung. Nun kann sich die Frage stellen, ob sich aus den Verzerrungsfeldern die Bewegung rekonstruieren lässt. Dies kann genau dann gelingen, wenn die Verzerrungen die für sie formulierten Kompatibilitätsbedingungen einhalten.
In dem die drei Komponenten der Bewegung in x-, y- und z-Richtung nach den drei Ortskoordinaten in x-, y- bzw. z-Richtung abgeleitet werden, entstehen insgesamt neun Ableitungen, die die Komponenten des Deformationsgradienten bilden. Auch für die neun Komponenten des Deformationsgradienten existieren Kompatibilitätsbedingungen, die diese einhalten müssen, damit aus ihnen die Bewegung wieder hergestellt werden kann.
Anwendung finden die Kompatibilitätsbedingungen in der Theorie der Spannungsfunktionen, mit deren Hilfe analytische Lösungen der ebenen und räumlichen, linearen Elastostatik berechnet werden können, z.B. bei der Airy’schen Spannungsfunktion.
Bewegungen
Um die Bewegung eines Körpers zu beschreiben, wird zunächst jedem Partikel des Körpers über die Referenzkonfiguration eineindeutig ein „Name“ oder „Etikett“ zugeordnet. Dieser „Name“ soll hier die Position
des Partikels zu einem bestimmten Zeitpunkt sein. Die Zahlen werden materielle Koordinaten des Partikels genannt und gelten in Bezug auf die Standardbasis des euklidischen Vektorraumes . Zumeist wird so gewählt, dass zu diesem Zeitpunkt der Körper undeformiert und in Ruhe ist und die Bewegung beginnt. Im Zuge seiner Bewegung durch den Raum wandert jedes Partikel auf seiner Bahnlinie vorwärts, die die Bewegungsfunktion
mathematisch beschreibt. In Bezug auf die Standardbasis hat nun jedes Partikel zu einer Zeit räumliche Koordinaten .
Linearisierter Verzerrungstensor
Der linearisierte Verzerrungstensor entsteht aus Ableitungen des Verschiebungsfeldes. Die Verschiebung eines Partikels ist sein zurückgelegter Weg, mathematisch der Differenzvektor zwischen seiner aktuellen Position und seiner Position in der Ausgangskonfiguration:
Häufig kann, vor allem in technischen Anwendungen, angenommen werden, dass erstens diese Verschiebung im Vergleich zu Abmessungen des Körpers klein ist und zweitens auch die Ableitungen der Verschiebungen nach dem Ort klein gegen eins sind. Dann brauchen die materiellen Koordinaten und die räumlichen nicht mehr auseinandergehalten zu werden und die Verzerrungen des Körpers werden mit dem linearisierten Verzerrungstensor gemessen, der die Darstellung
besitzt. Der Operator „grad“ berechnet den Gradient, das hochgestellte Zeichen steht für die Transposition, das Rechenzeichen „“ ist das dyadische Produkt und in den letzten beiden Gleichungen wurde die Einsteinsche Summenkonvention angewendet. Hier wie im Folgenden ist über in einem Produkt doppelt vorkommende Indizes, oben i und j, von eins bis drei zu summieren. Des Weiteren ist ein Index nach einem Komma eine abkürzende Schreibweise für die Ableitung nach der genannten Koordinate:
Berechnung der Rotation des Verzerrungstensors liefert :
Der obere rechte Term verschwindet, weil Komponenten mit vertauschten Indizes i und k gleich groß aber umgekehrtes Vorzeichen haben, so dass sie sich in der Summe aufheben, oder bei i=k verschwinden, was in der letzten Gleichung auch für die Indizes j und l in analoger Weise zutrifft. Die aus dem Verschiebungsfeld abgeleiteten Verzerrungen erfüllen also[F 1]
Das sind auch gleich die Kompatibilitätsbedingung der Verzerrungen, denn werden diese Gleichungen von einem Verzerrungsfeld eingehalten, dann gibt es ein Verschiebungsfeld, das die gegebenen Verzerrungen hervorruft.
Beweis 1 |
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Der Schluss von der Kompatibilitätsbedingung
auf die Existenz des Verschiebungsfeldes gelingt mit dem Tensorfeld ,
das spurfrei
ist:
|
In ebenen Problemen, wie bei der Airy’schen Spannungsfunktion, wo nur zwei Koordinaten involviert sind, reduzieren sich diese Kompatibilitätsbedingungen weiter auf nur eine von den drei ersten skalaren Gleichungen.
Die Kompatibilitätsbedingung kann auch ohne die Rotation geschrieben werden:
Der Operator „Sp“ gibt die Spur eines Tensors, „div“ ist die Divergenz und „sym“ liefert den symmetrischen Anteil
Beweis 2 |
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Für die Herleitung wird das wie folgt definierte äußere
Tensorprodukt „#“ benutzt:
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Spannungen
Beim Lösungsansatz für die Bewegungsgleichungen über Spannungsfunktionen, sind die Spannungen die primären Unbekannten. Sind diese für gegebene Randbedingungen gefunden, dann gilt es aus ihnen das Bewegungsfeld zu rekonstruieren. Das gelingt bei linearer, isotroper Elastizität, wenn die Spannungen in einem Schwerefeld wie es die Schwerkraft eines ist die folgenden für sie formulierten Kompatibilitätsbedingungen erfüllen:
oder in Abwesenheit einer Schwerkraft:
Das Symbol ist das Kronecker-Delta und ist die Querkontraktionszahl.
Beweis 3 |
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Die Herleitung basiert auf Beweis 2, der zeigte, dass wenn
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Diese Kompatibilitätsbedingungen werden als Beltrami-Michell Gleichungen bezeichnet.[F 2]
Es existieren auch Kompatibilitätsbedingungen bei kubisch anisotroper (Albrecht 1951) und transversal isotroper (von Moisil 1952) linearer Elastizität.
Deformationsgradient
Die Komponenten des Deformationsgradienten werden aus den Ableitungen der Bewegungskomponenten nach den materiellen Koordinaten berechnet:
Nun liegen also Komponenten des Deformationsgradienten vor, die aus den drei Bewegungsfunktionen abgeleitet wurden.
Sollen umgekehrt aus neun Komponenten des Deformationsgradienten die drei Bewegungsfunktionen bezogen werden können, müssen die Komponenten des Deformationsgradienten die folgenden, für sie formulieren Kompatibilitätsbedingungen einhalten:
Falls das zutrifft, stellt das Poincaré-Lemma in der Form
sicher, dass es ein Vektorfeld gibt, dessen Gradient das Tensorfeld ist.
Strecktensor
Der Deformationsgradient kann wegen
mit den Tangentenvektoren
dargestellt werden. Die Komponenten des rechten Cauchy-Green Tensors berechnen sich wegen
aus den Skalarprodukten dieser Tangentenvektoren:
Mit den Christoffelsymbolen der ersten Art
kann gezeigt werden, dass bei gegebenen Komponenten des rechten Cauchy-Green Tensors die Bewegung genau dann rekonstruierbar ist, wenn
gilt. Die Komponenten gehören zum Inversen des rechten Cauchy-Green Tensors
und sind die Komponenten des Riemann-Christoffel Krümmungstensors. Von den obigen Gleichungen für die 81 Komponenten des Riemann-Christoffel Tensors sind nur sechs unabhängig. Wegen des linearen Zusammenhangs
zwischen dem rechten Cauchy-Green Tensor und dem Green-Lagrange’schen Verzerrungstensor können daraus auch Kompatibilitätsbedingungen für die Komponenten
des Green-Lagrange’schen Verzerrungstensors abgeleitet werden, die aber weitaus schwieriger zu lösen sind als im geometrisch linearen Fall, wo in den linearisierten Verzerrungstensor übergeht, siehe oben und folgendes Beispiel.
Beispiel
Auf einen in x-Richtung ausgerichteten, linear elastischen Balken wirke ausschließlich eine zur z-Koordinate proportionale Spannung
mit Proportionalitätsfaktor und Elastizitätsmodul des Materials des Balkens, siehe Abbildung rechts. Gemäß dem Hooke’schen Gesetz entsprechen die Spannungen den Dehnungen
denn Schubspannungen sind nicht vorgegeben, weswegen auch keine Scherungen auftreten. Die Größe ist die Querdehnzahl des Materials des Balkens. Weil sämtliche zweiten Ableitungen der Dehnungen verschwinden, sind die Kompatibilitätsbedingungen erfüllt: es gibt also ein Verschiebungsfeld, das die vorgegebenen Dehnungen hervorruft. Mit den im Bild skizzierten Randbedingungen lauten diese Verschiebungen
denn:
und
Im Beispiel bei den Spannungsfunktionen zeigt sich, dass dieses Bewegungsfeld auch im Gleichgewicht ist.
Siehe auch
Fußnoten
- ↑ In der Literatur findet sich auch die Bedingung , was angesichts der dann abweichenden Definition der Rotation () kein Widerspruch ist.
- ↑ Die Kompatibilitätsbedingungen für die Spannungen bei isotroper Elastizität in Abwesenheit einer Schwerebeschleunigung fand Beltrami 1892 und Donati und Michell formulierten den allgemeineren Fall inklusive Schwerebeschleunigung 1894 bzw. 1900, siehe M. E. Gurtin (1972), S. 92. Trotzdem also Donatis Arbeit sechs Jahre früher erschien als Michells, wird diese allgemeinere Gleichung als Beltrami-Michell Gleichung bezeichnet.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 21.04. 2017