Deskriptive Mengenlehre
Die deskriptive Mengenlehre ist ein Teilgebiet der Mengenlehre, das sich mit Eigenschaften definierbarer Mengen befasst. Die Grundidee besteht darin, ausgehend von „einfachen“ Mengen durch gewisse Bildungsgesetze kompliziertere Mengen zu konstruieren und deren Eigenschaften zu untersuchen. Die in der mathematischen Praxis vorkommenden Mengen lassen sich in der Regel auf diese Weise gewinnen. Hier stehen zunächst Teilmengen reeller Zahlen wie offene Mengen, Gδ-Mengen, Borelmengen und daraus abgeleitete Mengenhierarchien im Vordergrund; die mengentheoretischen, topologischen oder maßtheoretischen Eigenschaften können aber ebenso gut in allgemeinen polnischen Räumen untersucht werden, wobei der zur Menge der irrationalen Zahlen homöomorphe Baire-Raum eine besondere Rolle spielt.
Historische Anfänge
Eine wichtige Fragestellung der Mengenlehre war von Anfang an das Problem der
Mächtigkeit
des Kontinuums, das heißt der Menge der reellen Zahlen. Die Kontinuumshypothese,
wonach es zwischen der Mächtigkeit abzählbar
unendlicher Mengen und der Mächtigkeit des Kontinuums keine weiteren
Mächtigkeiten gibt, hat sich durch die Arbeiten Gödels
und Cohens
als weder beweisbar noch widerlegbar herausgestellt. Das schließt natürlich
nicht aus, dass man für gewisse Typen von Teilmengen des Kontinuums zeigen kann,
dass sie im überabzählbaren Fall automatisch die Mächtigkeit des Kontinuums
haben; man sagt dann, dass dieser Typ von Mengen die Kontinuumshypothese
erfüllt. Besonders einfach ist das für offene
Mengen in ,
denn diese sind Vereinigungen offener Intervalle. Eine offene Menge ist daher
entweder leer oder enthält ein offenes Intervall und ist damit gleichmächtig zu
;
die offenen Mengen genügen also der Kontinuumshypothese. Für abgeschlossene
Mengen, also für die Komplemente
der offenen Mengen, ist das schon etwas schwieriger. Ein sehr frühes Resultat in
dieser Richtung ergibt sich aus dem Satz von
Cantor-Bendixson, in der Tat genügen auch die abgeschlossenen Mengen der
Kontinuumshypothese.
Baire
hatte bereits 1899 die heute sogenannten Baire-Funktionen eingeführt;
dabei handelt es sich um die kleinste Menge von Funktionen auf
oder auf anderen polnischen Räumen, die alle stetigen Funktionen
enthält und unter punktweiser
Konvergenz abgeschlossen ist.
Lebuesge
charakterisierte diese 1905 als sogenannte analytisch darstellbar, das
heißt als kleinste Menge von Funktionen, die alle Konstanten und alle Projektionen
enthält und unter Summen, Produkten und punktweiser Konvergenz abgeschlossen
ist. In diesem Zusammenhang führte er die Borelmengen ein und behauptete in
einem Lemma, dass Projektionen von Borelmengen wieder solche seien. Dass dies
aber falsch ist, war Suslin
aufgefallen, woraus sich der Begriff der analytischen
Menge entwickelte. Auch für analytische Mengen konnte gezeigt werden, dass
sie die Kontinuumshypothese erfüllen. Für größere Klassen, die sich mittels
gewisser Bildungsgesetze aus den analytischen gewinnen und sich in sogenannten
Hierarchien anordnen lassen, bleibt die Frage offen.
Der Zweig der effektiven deskriptiven Mengenlehre geht maßgeblich auf Entwicklungen Stephen Cole Kleene zurück, etwa die Entwicklung der arithmetischen Hierarchie, die Verbindungen zur klassischen deskriptiven Mengenlehre wurden jedoch erst später aufgezeigt.
Hierarchien
Die folgenden Ausführungen sollen einen ersten Eindruck über das Forschungsgebiet der deskriptiven Mengenlehre geben.
Borel-Hierarchie
Ausgangspunkt der Borel-Hierarchie ist die Klasse der offenen Mengen in
oder allgemeiner in einem perfekten,
polnischen Raum
;
die Klasse der offenen Mengen werde mit
bezeichnet. Ist
die Menge der natürlichen Zahlen mit der diskreten
Topologie, so ist
wieder ein polnischer Raum.
wird nun definiert als die Menge aller Projektionen von Komplementen von
aus
auf die erste Komponente
,
das heißt
besteht aus allen Mengen der Form
,
wobei
eine
-Menge,
also eine offene Menge, ist und
die Projektion auf die erste Komponente ist. Dieses Verfahren kann man
iterieren, indem man
als die Klasse aller Mengen der Form
definiert, wobei
alle Teilmengen von
durchläuft, deren Komplemente
-Mengen
sind.
Die Komplemente von
bilden die Klasse der
-Mengen.
Die
-Mengen
sind auch als
-Mengen
bekannt und deren Komplemente, also die
-Mengen,
als
-Mengen.
Insgesamt erhält man mittels obiger Bildungsweise aufsteigende Klassen
und man kann zeigen, dass diese Konstruktion nicht aus den Borelmengen herausführt und dass zusätzlich
und
gilt. Es stellt sich daher die Frage, ob
mit der Klasse aller Borelmengen übereinstimmt. Die Antwort lautet nein, man
muss obigen Bildungsprozess transfinit
fortsetzen, was sich mit dem Begriff der Ordinalzahl
zwanglos durchführen lässt. Es stellt sich dann heraus, dass man diesen Prozess
-mal
durchführen muss, wobei
die kleinste überabzählbare Ordinalzahl ist (siehe auch Aleph-Funktion) um auf
diese Weise alle Borelmengen zu erhalten.
Projektive Hierarchie
Die projektive Hierarchie entsteht nach demselben Muster aus der Klasse der
offenen Mengen, lediglich der Raum
wird durch den Baire-Raum
ersetzt, wobei
die Menge aller Funktionen
ist, was man wie üblich mit dem
-fachen
kartesischen
Produkt von
mit sich selbst identifiziert und darauf die Produkttopologie
betrachtet. Dieser Raum ist homöomorph
zum Raum der irrationalen
Zahlen mit der Relativtopologie
von
,
weshalb man den Baire-Raum in der deskriptiven Mengenlehre oft den Raum der
irrationalen Zahlen nennt. Die Bezeichnungen der Hierarchien lauten
.
Beachte, dass der obere Index eine 1 ist.
ist also die Klasse aller Mengen der Form
,
wobei
alle abgeschlossenen Teilmengen von
durchläuft und
ein polnischer Raum ist, diese Mengen nennt man auch analytisch.
ist wieder die Klasse der Komplemente solcher Mengen, die man daher auch
koanalytisch nennt.
Bereits Suslin hatte gezeigt, dass
genau mit den Borelmengen übereinstimmt.
Man kann zeigen, dass die
-Mengen
die Kontinuumshypothese erfüllen und alle Lebesgue-messbar
sind. Diese Aussagen gehen für
verloren; Gödel hatte gezeigt, dass es unter der Annahme des Konstruierbarkeitsaxioms
eine Menge in
gibt, die nicht Lebesgue-messbar ist.
Nach einem Satz von Sierpiński
ist jede
Vereinigung von
-vielen
Borelmengen.
κ-Suslin-Mengen
Ersetzt man in der Konstruktion der Lusin-Hierarchie den Baire-Raum
durch
,
wobei
eine Kardinalzahl
mit der diskreten Topologie sei, so kommt man zum Begriff der
-Suslin-Menge.
Eine Teilmenge eines polnischen Raums
ist eine
-Suslin-Menge,
wenn sie die Form
für eine abgeschlossene Menge
hat. Die Klasse aller solchen Mengen wird mit
bezeichnet.
stimmt offenbar mit der
,
also mit der Klasse aller analytischen Mengen, überein. Nach einem Satz von Shoenfield
ist jede
eine
-Suslin-Menge.
Aussagen über diese Mengenklassen erfordern tiefere Methoden der Mengenlehre,
dabei stellt sich oft die Frage nach hinreichend starken Axiomen der
Mengenlehre.
Regularitätseigenschaften
Neben solchen aus gewissen Operationen entstehenden Mengen, betrachtet man bestimmte Regularitätseigenschaften von Teilmengen polnischer Räume und ihre Beziehungen zu den durch solche Konstruktionen gewonnenen Mengen. Beispiele für solche Eigenschaften sind:
- Eine Menge besitzt die Baire-Eigenschaft, wenn sie sich nur um eine magere Menge von einer offenen Menge unterscheidet.
- Eine Menge heißt universell messbar, wenn sie bezüglich jedes vollständigen, endlichen Maßes, das für alle Borel-Mengen definiert ist, messbar ist.
- Eine Menge besitzt die Perfekte-Mengen-Eigenschaft, wenn sie abzählbar ist, oder eine nicht-leere perfekte Menge enthält.
Weitere Fragestellungen
Weitere wichtige Fragestellungen der deskriptiven Mengenlehre betreffen natürlich auch die Funktionen zwischen polnischen Räumen, insbesondere deren Messbarkeitseigenschaften, sowie Äquivalenzrelationen und algebraische Strukturen auf polnischen Räumen. Ferner können die oben beschriebenen Bildungsprozesse auf ihre Berechenbarkeit hin untersucht werden, dies geschieht im mit der Rekursionstheorie eng verzahnten Teilgebiet der effektiven deskriptiven Mengenlehre.
Anwendungsbereiche
Anwendung findet die deskriptive Mengenlehre etwa in folgenden Bereichen:
Literatur
- Alexander S. Kechris: Classical Descriptive Set Theory. Springer, Berlin 1994, ISBN 0-387-94374-9.
- Y. N. Moschovakis: Descriptive Set Theory. North Holland, 1987, ISBN 0-444-70199-0.



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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 11.03. 2023