Kontinuumshypothese
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Die Kontinuumshypothese wurde 1878 vom Mathematiker Georg Cantor aufgestellt und beinhaltet eine Vermutung über die Mächtigkeit des Kontinuums, das heißt der Menge der reellen Zahlen. Dieses Problem hat sich nach einer langen Geschichte, die bis in die 1960er Jahre hineinreicht, als nicht entscheidbar herausgestellt, das heißt, die Axiome der Mengenlehre erlauben in dieser Frage keine Entscheidung.
Aussage
Einfache Kontinuumshypothese
Die sogenannte einfache Kontinuumshypothese CH (englisch continuum hypothesis) besagt:
- Es gibt keine überabzählbare Menge reeller Zahlen, deren Mächtigkeit kleiner ist als die der Menge aller reellen Zahlen.
Anders ausgedrückt:
- Es gibt keine Menge, deren Mächtigkeit zwischen der Mächtigkeit der natürlichen Zahlen und der Mächtigkeit der reellen Zahlen liegt.
Bezeichnet man, wie üblich, die Kardinalzahl
(Mächtigkeit) der natürlichen Zahlen mit
(siehe Aleph-Funktion),
die darauffolgende Kardinalzahl mit
und die Kardinalzahl der reellen Zahlen mit
,
so heißt die Kontinuumshypothese formal:
.
Weiter kann man zeigen, dass die Mächtigkeit des Kontinuums mit der mit
bezeichneten Mächtigkeit der Potenzmenge
von
übereinstimmt. Eine häufig anzutreffende Formulierung der Kontinuumshypothese
lautet daher
.
Verallgemeinerte Kontinuumshypothese
Die verallgemeinerte Kontinuumshypothese (GCH, englisch generalized continuum
hypothesis) besagt, dass für jede unendliche Menge
Folgendes gilt:
- Ist
eine Obermenge von
, die zu einer Teilmenge der Potenzmenge
von
gleichmächtig ist, so ist
zu
oder zu
gleichmächtig.
Hat man auch das Auswahlaxiom
zur Verfügung, so hat jede Menge eine Kardinalzahl
als Mächtigkeit, und die verallgemeinerte Kontinuumshypothese besagt, dass für
jede unendliche Menge
gilt:
- Zwischen den Kardinalzahlen
und
liegt keine weitere Kardinalzahl.
Verwendet man die Aleph-Notation, so bedeutet dies:
- Für jede Ordinalzahl
ist
.
Mittels der Beth-Funktion lässt sich das noch kompakter schreiben:
- Für jede Ordinalzahl
ist
.
Da die erste Formulierung kein Auswahlaxiom verwendet, sind die nachfolgenden scheinbar schwächer. Tatsächlich folgt in der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre (ZF) aus der zuerst genannten Formulierung der verallgemeinerten Kontinuumshypothese nach einem Satz von Wacław Sierpiński das Auswahlaxiom. Daher sind die gegebenen Formulierungen vor dem Hintergrund der ZF-Mengenlehre äquivalent.
Lösung
Das Problem ist heute gelöst, wenn auch nicht in dem Sinne, wie die Mathematiker dies erwartet hatten:
Kurt Gödel bewies
1938,
dass die Kontinuumshypothese (CH) zur Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre
mit Auswahlaxiom (ZFC) relativ
widerspruchsfrei ist, das heißt, wenn ZFC widerspruchsfrei ist, was allgemein
angenommen wird, aber nach dem Gödelschen
Unvollständigkeitssatz nicht mit Hilfe von ZFC bewiesen werden kann, dann
ist auch „ZFC + CH“ widerspruchsfrei. Dazu hatte Gödel innerhalb der
ZFC-Mengenlehre die Teilklasse
der sogenannten konstruierbaren
Mengen untersucht und konnte zeigen, dass in
ebenfalls alle Axiome der Mengenlehre gelten, aber darüber hinaus auch die
Kontinuumshypothese erfüllt ist. Das bedeutet:
- Aus der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre lässt sich die Kontinuumshypothese nicht widerlegen.
In den 1960er Jahren zeigte Paul Cohen mit Hilfe der Forcing-Methode:
- Aus der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre lässt sich die Kontinuumshypothese nicht beweisen.
Anders ausgedrückt: Auch die Negation der Kontinuumshypothese ist zu ZFC relativ widerspruchsfrei; die Kontinuumshypothese ist also insgesamt unabhängig von ZFC. Für diesen Beweis erhielt Cohen 1966 die Fields-Medaille.
Daher kann die Kontinuumshypothese im Rahmen der Standardaxiome der Mengenlehre weder bewiesen noch widerlegt werden. Sie kann, ebenso gut wie ihre Negation, als neues Axiom verwendet werden. Damit ist sie eines der ersten relevanten Beispiele für Gödels ersten Unvollständigkeitssatz.
Die verallgemeinerte Kontinuumshypothese ist ebenfalls unabhängig von der
Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre mit Auswahlaxiom (ZFC). Dies folgt sofort aus der
Beobachtung, dass die Verneinung von CH ja erst recht eine Verneinung von GCH
ist und in Gödels konstruierbarem Universum
sogar GCH gilt. Der Satz
von Silver schränkt die Möglichkeiten für die kleinste Kardinalzahl,
für die die verallgemeinerte Kontinuumshypothese zum ersten Mal verletzt ist,
ein. Der Satz
von Easton zeigt, dass die verallgemeinerte Kontinuumshypothese für
reguläre
Kardinalzahlen in nahezu beliebiger Weise verletzt werden kann.
Bedeutung
In der berühmten Liste von 23 mathematischen Problemen, die David Hilbert dem Internationalen Mathematikerkongress 1900 in Paris vortrug, steht die Kontinuumshypothese an erster Stelle. Viele Mathematiker hatten im Umfeld dieses Problems bedeutende Resultate beigetragen, weite Teile der heute sogenannten deskriptiven Mengenlehre ranken sich um die Kontinuumshypothese.
Da die reellen Zahlen eine für viele Wissenschaften grundlegende Konstruktion
darstellen und da Mathematiker platonischer Ausrichtung den Anspruch erheben,
die Wirklichkeit zu beschreiben, war das Unentscheidbarkeitsergebnis
unbefriedigend. Nach dem Beweis der Unabhängigkeit wurden die Versuche
fortgesetzt, durch Hinzunahme möglichst natürlicher Axiome zur ZFC die
Kontinuumshypothese doch noch zu entscheiden, zum Beispiel durch Axiome, die die
Existenz großer
Kardinalzahlen postulieren. Auch Gödel war davon überzeugt, dass sich die
Hypothese so widerlegen ließe. In den 2000er Jahren meinte der Mengentheoretiker
William Hugh Woodin,
Argumente gegen die Gültigkeit der Kontinuumshypothese gefunden zu haben.
Später wandte er sich von dieser Auffassung ab und konstruierte ein Modell für
Kardinalzahlen, das er Ultimate L
nannte, in Anlehnung an Gödels
konstruierbares Universum .
In diesem Universum ist die verallgemeinerte Kontinuumshypothese wahr.
Anwendungsbeispiele
Gelegentlich werden Aussagen unter der Annahme gemacht, dass die Kontinuumshypothese wahr sei. So ergeben sich beispielsweise bei der Potenzierung von Kardinalzahlen mit der GCH als Voraussetzung erhebliche Vereinfachungen. Es ist jedoch üblich, diese Voraussetzung dann explizit zu erwähnen, während die Verwendung des ZFC-Axiomensystems oder äquivalenter Systeme in der Regel unerwähnt bleibt.
Beispiel aus der Maßtheorie
Im Folgenden sei die Kontinuumshypothese (und das Auswahlaxiom) als wahr
angenommen und es wird mit ihrer Hilfe eine nicht messbare Teilmenge der Ebene
konstruiert. Man beachte, dass dies auch ohne Kontinuumshypothese (aber mit
Auswahlaxiom) möglich ist.
Sei
die kleinste überabzählbare Ordinalzahl.
Nach der Kontinuumshypothese gibt es dann eine Bijektion
.
Die ordinale Ordnung
auf
werde mit Hilfe dieser Bijektion auf
übertragen: Für
gelte:
.
Es sei .
Mit
bezeichnen wir die Indikatorfunktion
der Menge
,
also
mit
genau dann, wenn
.
Für jedes
sei
.
Diese Menge ist für jedes
abzählbar, da
als abzählbare Ordinalzahl nur abzählbar viele Vorgänger hat. Insbesondere ist
daher
immer eine Lebesgue-Nullmenge:
.
Weiter definieren wir für jedes
die Menge
;
das Komplement jeder dieser Mengen ist abzählbar, somit gilt
.
Nimmt man an, dass
messbar ist, so gilt unter Verwendung des Lebesgue-Integrals
und des Lebesgue-Maßes
aber
Die Funktion
ist also eine Funktion, die nach dem Satz
von Tonelli nicht Lebesgue-messbar sein kann, die Menge
ist damit auch nicht messbar.
Beispiel aus der Funktionentheorie
Wir betrachten Familien
ganzer Funktionen, also
solcher Funktionen
,
die sich auf ganz
durch eine konvergente Potenzreihe
darstellen lassen. Mit Hilfe des Identitätssatzes
kann man folgende Aussage zeigen:
- (1): Ist die Menge der Werte
für jedes
endlich, so ist
endlich.
Man beachte, dass in der Wertemenge die Funktion
variiert und der Punkt
fest ist, die Wertemenge und auch die Anzahl ihrer Elemente hängt von
ab. Wir stellen nun die Frage, ob diese Aussage richtig bleibt, wenn wir endlich
durch abzählbar ersetzen. Wir fragen nach der Gültigkeit von
- (2): Ist die Menge der Werte
für jedes
abzählbar, so ist
abzählbar.
Paul Erdős fand folgende überraschende Antwort:
- Die Aussage (2) ist genau dann für jede Familie ganzer Funktionen wahr, wenn die Kontinuumshypothese (CH) falsch ist.
Beispiel aus der Geometrie
Waclaw Sierpinski zeigte die Äquivalenz der Kontinuumshypothese zu Sätzen der elementaren Geometrie:
- Es gibt eine Zerlegung des
als
, wobei
jeweils endliche Schnittmengen mit jeder Parallelen zu den Koordinatenachsen
bzw.
haben – also
mit Parallelen zur
-Achse,
mit denen zur
-Achse und
mit denen zur
-Achse (Sierpinski 1952).
- Es gibt eine Zerlegung des
in zwei Mengen
, wobei
die Vertikalen (Parallelen zur
-Achse) und
die Horizontalen (Parallelen zur
-Achse) in höchstens abzählbar unendlich vielen Stellen schneidet (Sierpinski 1919). Oder in der Formulierung von Sierpinski in seinem Buch über die Kontinuumshypothese: Die Kontinuumhypothese ist äquivalent zu dem Satz Die Menge der Punkte der Ebene ist die Summe zweier Mengen
, wobei
höchstens durch die Menge der Ordinaten und
durch die der Abszissen abgezählt werden kann.
Literatur
- Kurt Gödel: The Consistency of the Axiom of Choice and of the generalized Continuum-Hypothesis with the Axioms of Set Theory (= Annals of Mathematics Studies. Bd. 3). Princeton University Press, Princeton NJ u. a. 1940.
- Kurt Gödel: What is Cantor’s Continuum Problem? In: American Mathematical Monthly. Bd. 54, 1947, ISSN 0002-9890, S. 515–525; Bd. 55, 1947, S. 151: Errata.
- Paul J. Cohen: Set Theory and the Continuum Hypothesis. Benjamin, Reading MA 1966 (With a new Introduction by Martin Davis. Dover Publications, Mineola NY 2008, ISBN 978-0-486-46921-8).
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 11.03. 2023