Erweiterte reelle Zahl
![](bilder/Extended_Real_Numbers.png)
Als erweiterte reelle Zahlen bezeichnet man in der Mathematik eine Menge, die aus dem Körper der reellen Zahlen durch Hinzufügen neuer Symbole für unendliche Elemente entsteht. Man unterscheidet genauer zwischen den affin erweiterten reellen Zahlen, bei denen es zwei vorzeichenbehaftete uneigentliche Punkte gibt, und den projektiv erweiterten reellen Zahlen mit nur einem vorzeichenlosen uneigentlichen Punkt. Ohne den Zusatz affin bzw. projektiv wird der Begriff erweiterte reelle Zahlen in der Literatur üblicherweise gleichbedeutend mit affin erweiterte reelle Zahlen verwendet, in diesem Artikel wird dieser jedoch als gemeinsamer Oberbegriff für beide Erweiterungen genutzt.
Beispielsweise machen die affin erweiterten reellen Zahlen es möglich, die unendlichen Elemente als den Grenzwert von bestimmt divergenten Folgen anzusehen und somit solche Folgen analog zu konvergenten Folgen zu behandeln. Die Definition der Erweiterungen ist dementsprechend zunächst topologisch motiviert. Die Arithmetik der reellen Zahlen lässt sich dagegen auf die erweiterten reellen Zahlen nicht vollständig fortsetzen.
Definition
Die reellen Zahlen bilden mit ihrer üblichen Topologie einen lokalkompakten Raum. Durch geeignetes Hinzufügen uneigentlicher Punkte entsteht hieraus ein kompakter Raum.
- Bei der affinen Erweiterung ergänzt man
um zwei Elemente
und
als vorzeichenbehaftete Unendlichkeiten zu
. Mit
werden zunächst einfach zwei beliebige Nicht-Elemente der reellen Zahlen bezeichnet.
- Im Fall der projektiven Erweiterung betrachtet man die Einpunktkompaktifizierung
mit einem einzigen durch das Symbol
bezeichneten uneigentlichen Punkt.
Topologie
Jede in
offene Menge sei auch in
bzw.
offen. Zusätzlich wird eine Umgebungsbasis
für die uneigentlichen Punkte angegeben.
affiner Fall
Für jedes
soll
eine offene Umgebung von
und
eine offene Umgebung von
sein. Hierdurch wird beispielsweise die durch
gegebene Folge
zu einer gegen
konvergenten Folge: Für jedes
sind fast
alle Folgenglieder in
enthalten, nämlich all jene mit
.
Die Abbildung ,
die durch
für
,
,
gegeben ist, ist ein Homöomorphismus.
Topologisch ist
also völlig gleichwertig mit einem abgeschlossenen Intervall.
Die affin erweiterten reellen Zahlen bilden eine streng total geordnete Menge, indem
die Ordnung der reellen Zahlen durch ,
für alle
sowie
fortgesetzt wird. Die üblichen Schreibweisen
für offene,
und
für halb-offene und
für geschlossene Intervalle sind somit auch sinnvoll, wenn
und/oder
ist. Die Topologie von
ist zugleich die von dieser Ordnung definierte Ordnungstopologie.
Die Homöomorphie mit
zeigt, dass
metrisierbar
ist. Allerdings lässt sich die Standardmetrik
auf
nicht zu einer Metrik auf
fortsetzen:
Hierzu müsste
offen sein, also ein
enthalten; hieraus würde aber
folgen.
projektiver Fall
Für jede positive reelle Zahl
soll das Komplement von
offene Umgebung von
sein. Allgemeiner folgt so, wie für die Einpunktkompaktifizierung üblich, dass
für jede kompakte Teilmenge
das Komplement
eine offene Umgebung von
ist. Hierdurch wird beispielsweise auch die durch
gegebene Folge
zu einer gegen
konvergenten Folge: Für jedes
sind fast alle Folgenglieder im Komplement von
enthalten, d.h. es gilt
.
Allgemein wird aus jeder dem Betrage nach bestimmt divergenten reellen Folge
eine in
gegen
konvergente.
Mit dieser Topologie wird
homöomorph zur Kreislinie
Ein Homöomorphismus
ist beispielsweise gegeben durch
für
und
.
Ebenso wenig wie die Kreisline lässt sich daher
in mit der Topologie verträglicher Weise total ordnen. Üblicherweise belässt man
es dabei, dass
mit endlichen Zahlen unvergleichbar ist.
Wie im affinen Fall ist auch die projektive Erweiterung metrisierbar, jedoch nicht durch Fortsetzen der reellen Standardmetrik.
Man kann sich
auch als aus
durch Zusammenkleben
der Punkte
und
entstanden denken.
Zudem entspricht
der reellen projektiven
Geraden
,
dies motiviert auch die Bezeichnung.
Gemeinsame Eigenschaften
Sowohl die affine als auch die projektive Erweiterung bilden einen kompakten
Raum, in dem die reellen Zahlen eine dichte
Teilmenge sind. Hieraus ergibt sich, dass jede Zahlenfolge dann eine
konvergente Teilfolge (und sei es gegen einen uneigentlichen Punkt) enthält. Nur
bestimmt bzw. betragsmäßig bestimmt divergente reelle Folgen werden in der affin
bzw. projektiven Erweiterung zu konvergenten Folgen. Eine Folge wie die durch
gegebene ist auch in den erweiterten reellen Zahlen divergent.
In der Stone-Čech-Kompaktifizierung
der reellen Zahlen dagegen konvergieren alle beschränkten Folgen.
Vereinfachte Schreibweisen
Die Einführung der (affin) erweiterten reellen Zahlen erlaubt es zunächst,
die Schreibweisen
und
analog zu
mit endlichem
zu behandeln, ohne dies als eigene Notation oder Sprechweise gesondert
einzuführen. Auch ohne dies lediglich symbolische Schreibweisen wie
für bestimmt divergente Folgen gliedern sich nahtlos in den Fall konvergenter
Folgen ein.
Arithmetik
Es stellt sich die Frage, wie die mathematischen Grundrechenarten an
die neuen unendlichen Stellen angepasst werden sollen. Im Sinne des Permanenzprinzips
sollen hierbei alte Rechenregeln fortbestehen, aber durchgängig ist dies nicht
machbar, da die erweiterten reellen Zahlen keinen vollständig geordneten Körper
bilden können – ein solcher müsste wieder isomorph (und homöomorph) zu
sein. Mindestens für einige Argumente bleiben die Operationen also
undefiniert.
Für
bzw.
möchte man für möglichst viele
einen wiederum in
liegenden Wert für die Ausdrücke
derart definieren, dass die üblichen Rechengesetze (insb. Assoziativgesetz und
Kommutativgesetz
von Addition und Multiplikation sowie das Distributivgesetz)
auch für diese Erweiterung gültig bleiben. Genauer lautet eine sinnvolle
Forderung: Stimmen zwei Ausdrücke in endlich vielen Variablen im Endlichen stets
überein, sofern beide Seiten (also auch alle benutzten Teilausdrücke) definiert
sind, und ist auch nicht aus trivialen Gründen stets eine Seite undefiniert, so
soll diese Gleichheit der beiden Ausdrücke auch in der Erweiterung gelten, also
wenn auch unendliche Werte für die Variablen zugelassen sind und alle
Teilausdrücke definiert sind. Eine solche Gleichung ist beispielsweise .
Im Endlichen gilt dies für
,
d.h. sobald
und
definiert sind (das Produkt ist hier immer definiert). Wenn für den Fall
in der Erweiterung
definiert wird, muss entweder
gelten oder das Produkt
undefiniert sein.
Zusätzlich zu den Grundrechenarten interessiert noch die Potenzrechnung,
d.h. man möchte dem Ausdruck
für möglichst viele
einen Wert so zuweisen, dass die Potenzgesetze
,
,
immer dann gelten, wenn alle auftretenden Teilausdrücke definiert sind.
Rechenregeln aus Stetigkeit
Die genannten (algebraisch formulierten) Bedingungen sind auf jeden Fall dann
erfüllt, wenn die Operationen stetig fortgesetzt werden. Es gibt jedoch
beispielsweise keine stetige Abbildung
bzw.
,
die auf
mit der Addition übereinstimmt. Daher ist die stetige Fortsetzung grundsätzlich
nur partiell möglich. Durch möglichst weitreichende stetige Fortsetzung ergeben
sich folgende Rechenregeln, bei denen für auf diesem Wege nicht zu definierende
Ausdrücke der Wert „?“ notiert wird:
Grundrechenarten
in |
in |
---|---|
Vergleiche | |
|
|
Negation | |
|
|
Addition und Subtraktion | |
|
|
|
|
Multiplikation | |
|
|
|
|
Kehrwerte | |
|
|
|
|
Division | |
|
|
|
|
Potenzen
![](bilder/Domain-of-x-to-y-with-closure-at-infinity.png)
Im Folgenden wird nur im affinen Fall
die stetige Fortsetzung des Potenzierens angegeben. Hierbei ist zu beachten,
dass bereits im Endlichen
nur (reell) definiert ist, wenn
(und
beliebig) oder
und
oder
und
.
Ausdruck | Wert | Bedingung |
---|---|---|
? | ||
? | ||
? | ||
? | ||
? | ||
Der Wert von
mit negativem
und endlichem nicht-ganzen
bleibt undefiniert, da diese Stellen nicht zum Abschluss des
Definitionsbereiches der endlichen Potenzfunktion gehören. Zu den stetigen
Fortsetzungen mit nichtpositiver Basis
ist zu beachten, dass diese Stellen zwar zum Abschluss des Definitionsbereiches
gehören, aber keine inneren
Punkte des Abschlusses sind. Es gibt daher gänzlich außerhalb des
Definitionsbereiches liegende Folgen, die gegen diese Stellen konvergieren.
Funktionswerte
Einige Standardfunktionen lassen sich stetig ins Unendliche zu Abbildungen
fortsetzen, so etwa
und
(in
ist
jedoch nicht definiert).
In der Maßtheorie wird eine Funktion
mit einer nichtleeren Menge
numerisch genannt. Numerische Funktionen können als Supremum oder Infimum
einer Folge reeller Funktionen auftreten. Auch in der Optimierung werden
teilweise aus praktischen Gründen die Funktionswerte
zugelassen. Funktionen, die diese Werte annehmen heißen erweiterte
Funktionen.
Undefinierte Ausdrücke
Mit der Methode der stetigen Fortsetzung lässt sich in
für die Grundrechnungsarten-Ausdrücke
bzw. in
für
kein Wert angeben. Prinzipiell wäre es denkbar, eine geeignete – notwendig unstetige – Festsetzung zu finden. Das ist für die genannten Ausdrücke jedoch nicht möglich, ohne das Permanenzprinzip zu verletzen, d.h. ohne Widerspruch zu den üblichen Rechenregeln. Dies zeigt im Einzelnen die folgende Aufstellung:
:
- Wegen
für alle
folgt durch das Permanenzprinzip, dass
gelten sollte, wenn der Ausdruck definiert ist. Dies führt jedoch auf den Widerspruch
.
- Wegen
in
:
- Analog, da
.
- Analog, da
:
- Wegen
für alle
soll
gelten. Andererseits gilt
, soweit die linke Seite definiert ist. Demnach ergibt sich der Widerspruch
- Wegen
:
- Wegen
und
ergibt sich
- Wegen
:
- Auch hier folgt
.
- Auch hier folgt
in
:
- Aus
folgt, dass
gelten soll, folglich
. Wegen
folgt
.
- Aus
Den aufgelisteten Ausdrücken einen Wert zuzuweisen, ist also auf
„vernünftige“ Weise nicht möglich. Abgesehen von
mit
werden die so in
nicht definierten Ausdrücke auch als unbestimmte
Ausdrücke bezeichnet, für die es allerdings in bestimmten Einzelfällen
gleichwohl möglich ist, mittels der Regel
von de l’Hospital gültige Zahlenwerte zu berechnen.
Abweichend von obiger Liste wird in einigen Gebieten der Mathematik,
namentlich der Maßtheorie,
gewöhnlich
vereinbart, da auf diese Weise zahlreiche Aussagen konziser
zu fassen sind. In dem Fall ist darauf zu achten, dass niemals der Kehrwert von
unendlich benutzt wird, bzw. es ist auf die Festsetzung
zu verzichten. Andernfalls müssten die Ausnahmen der gewöhnlichen Rechenregeln
(nämlich, dass nicht immer
gilt) regelmäßig durch Fallunterscheidungen bedacht werden, und dies machte den
Vorteil der Abkürzung wieder wett.
Algebraische Fortsetzung des Potenzierens
Anders als bei den vier Grundrechenarten ist es auch unabhängig von Stetigkeitsbetrachtungen möglich, konsistent (aber unstetig)
zu definieren.[1]
Dass zumindest kein anderer Wert für diese Ausdrücke definiert werden kann,
ergibt sich direkt aus dem Permanenzprinzip, da im Endlichen
gilt. Diese Festsetzungen sind konsistent in dem Sinne, dass die Potenzgesetze
,
und
gelten, wann immer alle Teilausdrücke definiert sind.
Im Zusammenhang mit Grenzwertuntersuchungen jedoch werden die Ausdrücke ,
und sogar
mit zu den unbestimmten Ausdrücken gezählt, da in dem Zusammenhang Stetigkeit
ausschlaggebend ist. In bestimmten Einzelfällen allerdings ist es auch hier
möglich, mittels der Regel
von de l’Hospital für die og. Ausdrücke gültige Zahlenwerte zu
berechnen.
Das Lösen von Gleichungen
Beim Lösen von Gleichungen ist Vorsicht geboten, wenn man mit Unendlichkeiten
arbeitet, da zusätzliche Lösungen existieren können. Besonders offensichtlich
wird dies bei der Gleichung ,
die für endliche
stets genau eine Lösung hat. Dagegen hat
gar keine und
unendlich viele. Einige weitere Beispiele, die sich aus den obigen Rechenregeln
ergeben, zeigt die folgende Tabelle:
Gleichung | Lösungen in |
Zusätzlich in |
Zusätzlich in |
---|---|---|---|
Beim Umformen von Gleichungen kann nicht mehr allgemein auf die Kürzungseigenschaft
der Addition (aus
folgt
)
zurückgegriffen werden, sondern nur unter der Voraussetzung, dass
endlich ist. Die Kürzungseigenschaft der Multiplikation (aus
folgt
),
die auch im Endlichen nur unter der Voraussetzung
gilt, ist ebenfalls für unendliches
ungültig. Die letzte Gleichung aus obiger Tabelle,
,
lässt sich nicht äquivalent umformen zu
,
denn diese hat im Gegensatz zu ersterer keine unendliche Lösung (für
ist die rechte Seite nicht definiert).
Komplexe Zahlen
Wenn man statt von den reellen von den komplexen
Zahlen
ausgeht, betrachtet man hauptsächlich die zu einer Sphäre
homöomorphe Einpunktkompaktifizierung
(Riemannsche
Zahlenkugel). Die Rechenregeln für die Grundrechenarten stimmen hierbei im
Wesentlichen mit denen für die Einpunktkompaktifizierung von
überein. Es gibt auch hier alternative Ansätze, bei denen
zu einer abgeschlossenen Kreisscheibe
oder zur projektiven
Ebene kompaktifiziert wird.
Anmerkungen
- ↑
Wolfram
Alpha liefert zwar Indeterminate als Ergebnis von
(Eingabe: 1^Infinity), andererseits 1 für
(Eingabe: prod_{n=1}^Infinity 1).
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 28.10. 2023