Halbeinfache Lie-Algebra
Halbeinfache Lie-Algebren werden in der mathematischen Theorie der Lie-Algebren untersucht. Die endlichdimensionalen, halbeinfachen, komplexen Lie-Algebren lassen sich vollständig klassifizieren. Sie setzen sich aus einfachen Lie-Algebren zusammen, woher ihr Name resultiert. Diese Theorie geht im Wesentlichen auf Arbeiten von Wilhelm Killing und Élie Cartan Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Die heute zur Klassifikation verwendeten Dynkin-Diagramme wurden 1947 von Eugene Dynkin eingeführt. Wesentliche Teile der Theorie finden sich im Standardwerk von James E. Humphreys über Darstellungen von Lie-Algebren aus dem Jahre 1972, dort fehlt die Beschreibung der sogenannten exzeptionellen Lie-Algebren. Diese kann man in einem älteren Lehrbuch von Richard D. Schafer über nicht-assoziative Algebren aus dem Jahre 1966 finden. Das unten angegebene Lehrbuch von Roger Carter enthält eine modernere, leicht zugängliche Darstellung.
Definitionen und Charakterisierungen
Wir betrachten hier endlichdimensionale Lie-Algebren
über einem algebraisch
abgeschlossenen Körper
der Charakteristik
,
der Körper
der komplexen Zahlen ist das
prominenteste Beispiel. Manche der folgenden Ausführungen kommen mit schwächeren
Voraussetzungen an den Grundkörper aus, aber an einigen Stellen der Theorie
benötigt man die Existenz von Eigenwerten
und daher die algebraische Abgeschlossenheit, und die Division durch ganze
Zahlen und daher die Charakteristik
.
Es gibt eine Reihe äquivalenter Möglichkeiten, halbeinfache Lie-Algebren zu definieren. Eine Lie-Algebra heißt einfach, falls sie nicht abelsch ist und außer dem Nullraum und sich selbst keine weiteren Ideale enthält. Die namensgebende Definition lautet:
- Eine Lie-Algebra heißt halbeinfach, wenn sie eine direkte Summe einfacher Ideale ist.
Eine alternative Beschreibung verwendet das Radikal
einer Lie-Algebra
,
das sich als größtes auflösbares
Ideal in
definieren lässt.
- Eine Lie-Algebra ist genau dann halbeinfach, wenn ihr Radikal der Nullraum ist.
Daraus ergibt sich sofort
- Eine Lie-Algebra ist genau dann halbeinfach, wenn sie keine vom Nullraum verschiedenen auflösbaren Ideale enthält.
- Eine Lie-Algebra ist genau dann halbeinfach, wenn sie keine vom Nullraum verschiedenen abelschen Ideale enthält.
Ist
die adjungierte
Darstellung, die jedes
auf den durch
definierten Endomorphismus
auf
abbildet, so wird durch
eine symmetrische Bilinearform
auf
definiert, die nach Wilhelm Killing benannte Killing-Form.
- Eine Lie-Algebra ist genau dann halbeinfach, wenn ihre Killing-Form nicht-ausgeartet ist.
Dieses Cartan-Kriterium ist prinzipiell ein Verfahren zur Überprüfung der Halbeinfachheit, auch wenn dies im Einzelfall sehr mühsam sein kann. Man bestimme die Killing-Form, genauer die darstellende Matrix bzgl. einer Basis. Die Lie-Algebra ist genau dann halbeinfach, wenn die Determinante dieser Matrix nicht 0 ist.
Beispiele
Das einfachste Beispiel ist die dreidimensionale, spezielle, lineare Lie-Algebra
mit der Basis
.
Bezüglich der angegebenen Basis haben die Adjungierten der Basis-Elemente
folgende Matrix-Darstellungen, die wir als Gleichheit schreiben: .
Dies liest man aus den Kommutatorbeziehungen der Basis-Elemente ab. Da zum Beispiel
,
ergibt sich die erste Spalte der Matrix-Darstellung von ,
usw. Die darstellende Matrix der Killing-Form besteht definitionsgemäß aus den
Spuren aller möglichen Produkte dieser 3er-Matrizen und man erhält nach einiger
Rechnung
mit Determinante −128. Also ist
nach dem Killing-Form Kriterium halbeinfach. Man kann leicht zeigen, dass
sogar einfach ist, was die aufwändige Rechnung einsparen würde, aber wir werden
dieses Beispiel unten noch einmal aufgreifen.
Da wir im Rahmen der Klassifikation alle halbeinfachen Lie-Algebren angeben werden, erübrigen sich hier weitere Beispiele.
Die allgemeine
lineare Lie-Algebra
ist nicht halbeinfach, denn die Vielfachen der Einheitsmatrix
bilden ein abelsches Ideal. Dieses ist gleich dem Radikal dieser Algebra.
Grundlegende Eigenschaften
Zunächst kann man aus jeder Lie-Algebra eine halbeinfache konstruieren:
- Für jede Lie-Algebra
ist die Quotientenalgebra
halbeinfach.
Die obige Liste der äquivalenten Charakterisierungen stellt gleichzeitig eine
Liste von Eigenschaften halbeinfacher Lie-Algebren dar. Weitere Eigenschaften
einer halbeinfachen Lie-Algebra
sind:
- Ideale und homomorphe Bilder sind wieder halbeinfach.
- Das Zentrum
von
ist der Nullraum, denn das Zentrum ist ein abelsches Ideal.
, das heißt, die von allen Produkten erzeugte Unteralgebra fällt mit der Algebra selbst zusammen.
- Nach dem Satz
von Weyl ist jede endlichdimensionale Darstellung
von
vollständig reduzibel.
, das heißt, die Lie-Algebra der Derivationen auf
stimmt mit dem Bild der adjungierten Darstellung überein, kurz alle Derivationen auf
sind inner.
- Die Cartan-Unteralgebren
von
sind genau die maximalen Unteralgebren aus diagonalisierbaren Elementen. Diese Unteralgebren sind abelsch.
Klassifikation
Einleitung
Im Folgenden betrachten wir nur Lie-Algebren über einem algebraisch abgeschlossenen Körper der Charakteristik 0. Die endlichdimensionalen, halbeinfachen unter ihnen lassen sich vollständig klassifizieren. Dazu wird jeder solchen Algebra ein geometrisches Objekt, ein sogenanntes reduziertes Wurzelsystem, zugeordnet. Dabei handelt es sich um ein endliches Erzeugendensystem eines euklidischen Vektorraums mit einschränkenden Bedingungen für Winkel und Längenverhältnisse unter den erzeugenden Vektoren. Dann zeigt man, dass durch dieses Wurzelsystem die Isomorphie-Klasse der halbeinfachen Lie-Algebra eindeutig bestimmt ist und dass es zu jedem solchen Wurzelsystem eine zugehörige halbeinfache Lie-Algebra gibt. Die einfachen Lie-Algebren, die nach obiger Definition ja die Bausteine der halbeinfachen bilden, lassen sich alle angeben; es handelt sich um vier unendliche Reihen einfacher Lie-Algebren sowie um fünf weitere, sogenannte exzeptionelle, Lie-Algebren. Jede endlichdimensionale, halbeinfache Lie-Algebra ist isomorph zu einer endlichen direkten Summe solcher einfacher Lie-Algebren.
Konstruktion des Wurzelsystems
Zu einer endlichdimensionalen, halbeinfachen Lie-Algebra
konstruieren wir wie folgt ein reduziertes
Wurzelsystem. Man wähle eine Cartan-Unteralgebra
von
.
Alle Elemente aus
sind simultan
diagonalisierbar, das heißt es gibt endlich viele lineare Funktionale
auf
,
für die
nicht der Nullraum ist, und
ist die Vektorraumsumme dieser
.
Die vom Nullfunktional verschiedenen Funktionale
bilden ein endliches Erzeugendensystem
im Dualraum von
.
Das
-Erzeugnis
von
trägt die zur auf
nicht-ausgearteten Killing-Form duale Bilinearform
.
Beachte, dass
als Körper der Charakteristik 0 den Primkörper
enthält. Diese Bilinearform lässt sich zu einer positiv definiten symmetrischen
Bilinearform auf den
-Vektorraum
erweitern, ebenso wie alle
,
deren Erweiterungen mit demselben Namen bezeichnet seien. Man kann zeigen, dass
ein reduziertes Wurzelsystem bilden.
Beispiel
Zur Verdeutlichung der angegebenen Konstruktion greifen wir obiges Beispiel
der
noch einmal auf.
ist eine Cartan-Unteralgebra, die Diagonalisierbarkeit von
liest man mühelos an obiger Matrix-Darstellung ab. Da
eindimensional ist und
die Eigenwerte
2, 0 und −2 hat, sind die
genau für die Funktionale
,
und
vom Nullraum verschieden, es ist also
.
Damit besteht das Wurzelsystem aus einem Vektor zusammen mit seinem Negativen.
Das ist ohnehin klar, wenn man weiß, dass dies bis auf Isomorphie das einzige
eindimensionale, reduzierte Wurzelsystem ist.
Unabhängigkeit von der Cartan-Unteralgebra
Ist
ein Lie-Algebren-Isomorphismus,
>
wie oben, so ist
ebenfalls eine Cartan-Unteralgebra und obige Konstruktion für
liefert ein isomorphes Wurzelsystem, im Wesentlichen weil man
durch die gesamte Konstruktion ziehen kann.
Die Konstruktion eines Wurzelsystems verwendet aber die Wahl einer
Cartan-Unteralgebra .
Damit man hier eine nur von
abhängige Isomophie-Invariante erhält, muss man zeigen, dass jede andere
Cartan-Unteralgebra zu einem isomorphen Wurzelsystem führt. Hier hilft der
sogenannte Konjugationssatz weiter, für den keine Halbeinfachheit erforderlich
ist:
- Für eine endlich-dimensionale Lie-Algebra über einem algebraisch abgeschlossenen Körper sind alle Cartan-Unteralgebren zueinander konjugiert.
Ist also
neben
eine weitere Cartan-Unteralgebra, so gibt es einen Isomorphismus
,
sogar eine Konjugation, mit
,
und die eingangs gemachte Bemerkung zeigt, dass die Wahlen
bzw.
zu isomorphen Wurzelsystemen führen.
Fazit: Die oben beschriebene Konstruktion eines reduzierten Wurzelsystems ist
eine Isomorphie-Invariante der Lie-Algebra ,
das heißt, isomorphe, endlichdimensionale, halbeinfache Lie-Algebren haben
isomorphe Wurzelsysteme.
Der Isomorphiesatz
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Bislang wissen wir, dass isomorphe, endlichdimensionale, halbeinfache Lie-Algebren isomorphe reduzierte Wurzelsysteme besitzen. Der sogenannte Isomorphiesatz sagt aus, dass umgekehrt zwei endlichdimensionale, halbeinfache Lie-Algebren mit isomorphen reduzierten Wurzelsystemen ihrerseits isomorph sind (beachte die Annahmen über den Grundkörper).
Die reduzierten Wurzelsysteme kennt man aber alle. Sie zerfallen in irreduzible Komponenten, das heißt Zusammenhangskomponenten der zugehörigen Dynkin-Diagramme, und diese korrespondieren zu einfachen direkten Summanden der Lie-Algebra. Die irreduziblen, reduzierten Wurzelsysteme kann man aufzählen. Wie im Artikel über Wurzelsysteme ausgeführt, sind dies
.
In der nebenstehenden Skizze sind die zugehörigen Dynkin-Diagramme angegeben. Genauer werden durch die Kürzel Isomorphieklassen von Wurzelsystemen definiert; man sagt daher auch, ein Wurzelsystem sei vom angegebenen Typ. Auch eine Lie-Algebra mit entsprechendem Wurzelsystem heißt Lie-Algebra dieses Typs. Damit ist jede endlichdimensionale, halbeinfache Lie-Algebra isomorph zu einer direkten Summe einfacher Ideale, deren Typen in obiger Liste vorkommen.
Der Existenzsatz
Nach dem bisher Gesagten wissen wir, dass die reduzierten Wurzelsysteme endlichdimensionaler, einfacher Lie-Algebren von oben aufgelisteten Typen sein müssen. Umgekehrt stellt sich natürlich die Frage, ob es zu jedem Typ eines reduzierten Wurzelsystems tatsächlich eine passende einfache Lie-Algebra gibt. Diese Frage wird durch den sogenannten Existenzsatz positiv beantwortet.
Nach einem auf Jean-Pierre Serre zurückgehenden Verfahren kann man mittels freier Lie-Algebren, wobei dann auch unendlichdimensionale Algebren vorkommen, und auf ihnen erklärter Relationen, das sind zwischen den Erzeugern der freien Algebra bestehende Gleichungen, die Existenz der gesuchten Lie-Algebren nachweisen. Die Relationen ergeben sich aus den Wurzelsystemen, sie erzeugen ein Ideal in einer gewissen freien Lie-Algebra und man muss schließlich zeigen, dass die Quotientenalgebra eine endlichdimensionale, halbeinfache Lie-Algebra mit dem vorgegebenen Wurzelsystem ist.
Was nun noch fehlt ist eine konkrete Realisierung dieser einfachen
Lie-Algebren, deren vollständige Angabe natürlich ebenfalls den Existenzsatz
beweist. Für die vier Reihen
ist das sehr einfach, die exzeptionellen Lie-Algebren
ergeben sich aus Algebren von Derivationen auf anderen exzeptionellen,
nicht-assoziativen Algebren, genauer auf gewissen Jordan-Algebren und auf
der Cayley-Algebra.
Nach Angabe dieser Liste kann man bis auf Isomorphie alle endlichdimensionalen,
halbeinfachen Lie-Algebren hinschreiben.
Die klassischen Algebren
Die einfachen Lie-Algebren zu den Wurzelsystemen
nennt man die klassischen Algebren. Diese können leicht angegeben
werden.
ist mit der Kommutatorklammer
eine -dimensionale,
einfache Lie-Algebra vom Typ
,
das heißt, das zugehörige reduzierte Wurzelsystem ist von diesem Typ. Man nennt
sie die spezielle lineare Algebra, da sie die Lie-Algebra zur speziellen
linearen Gruppe ist. Der Fall
ist das oben vorgestellte Beispiel.
Es sei
die
-Einheitsmatrix,
0 bezeichne eine Nullmatrix jeweils passender Größe und
stehe für die Transponierte
einer Matrix
.
heißt orthogonale Algebra und ist mit der Kommutatorklammer eine
einfache -dimensionale,
einfache Lie-Algebra vom Typ
.
heißt symplektische Algebra und ist mit der Kommutatorklammer eine
einfache -dimensionale,
einfache Lie-Algebra vom Typ
.
heißt orthogonale Algebra und ist mit der Kommutatorklammer eine
einfache -dimensionale,
einfache Lie-Algebra vom Typ
.
Die hier erneut verwendete Bezeichnung als orthogonale Algebra birgt
keine Verwechslungsgefahr, da die Größen der auftretenden Matrizen jeweils
gerade bzw. ungerade sind.
Die exzeptionellen Algebren
Wir beginnen mit dem einfacheren Fall der Lie-Algebra vom Typ .
- Bezeichnet
die Cayley-Algebra über
, so ist die Algebra
der Derivationen auf
eine 14-dimensionale einfache Lie-Algebra vom Typ
.
Die Angabe der exzeptionellen Lie-Algebren zu
ist aufwändiger, da hier exzeptionelle Jordan-Algebren ins Spiel kommen. Die
Involution auf der Cayley-Algebra
sei mit einem Querstrich bezeichnet. Dann definiere
,
das ist der 27-dimensionale Raum der „hermiteschen“
3er-Matrizen über .
Das Jordan-Produkt
macht diesen Raum zu einer mit
bezeichneten Jordan-Algebra. Das ist nicht selbstverständlich, da der Raum der
3er-Matrizen über
nicht assoziativ ist. (Man kann zeigen, dass
exzeptionell ist, das heißt, nicht isomorph zu einer Jordan-Algebra ist, die
sich von einer assoziativen Algebra herleitet.) Hiermit können wir den nächsten
exzeptionellen Lie-Typ realisieren:
- Die Algebra
der Derivationen auf
ist mit der Kommutatorklammer eine 52-dimensionale, einfache Lie-Algebra vom Typ
.
Wir vergrößern nun .
Für
bezeichne
die Rechtsmultiplikation mit
,
das heißt
,
wobei hier das Jordan-Produkt verwendet wird. Weiter sei
die Menge aller Elemente aus
mit Spur 0, das heißt, für die in oben verwendeter Definition
gilt.
- Die Summe
in
ist mit der Kommutatorklammer eine 78-dimensionale, einfache Lie-Algebra vom Typ
.
Für die 133-dimensionale, einfache Lie-Algebra vom Typ
und die 248-dimensionale, einfache Lie-Algebra vom Typ
wird auf das unten angegebene Lehrbuch von Richard D. Schafer bzw. auf die dort
angegebene Literatur verwiesen.
Literatur
- James E. Humphreys: Introduction to Lie Algebras and Representation Theory. Springer, Berlin/ New York 1972, ISBN 0-387-90053-5
- Richard D. Schafer: An Introduction to Nonassociative Algebras. Courier Dover Publications, 1966, ISBN 0-486-68813-5
Siehe auch
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 01.02. 2022