Spin-Bahn-Kopplung
Die Spin-Bahn-Kopplung oder Spin-Bahn-Wechselwirkung ist eine in der Atom-, Kern- und Elementarteilchenphysik auftretende Wechselwirkung, deren Stärke von der Stellung des Spins des Teilchens relativ zu seinem Bahndrehimpuls abhängt. Bei gebundenen Teilchen führt die Spin-Bahn-Wechselwirkung zu einer Aufspaltung von Energieniveaus, die zur Feinstruktur des Niveauschemas beiträgt. Für die Elektronen der Atomhülle sind diese Effekte relativ geringfügig, haben aber wichtige Auswirkungen auf den Atombau.
Die Spin-Bahn-Wechselwirkung wird im Rahmen der nichtrelativistischen Quantenmechanik durch einen eigenen Term in der Schrödingergleichung ausgedrückt, der das Skalarprodukt von Bahn- und Spindrehimpuls des Teilchens enthält. In der relativistischen Quantenmechanik ergibt sich ein entsprechender Energiebeitrag automatisch.
Gebundene Teilchen
Die Spin-Bahn-Wechselwirkung wurde bei den Elektronen in der Atomhülle zuerst beobachtet. Hier bewirkt sie eine Aufspaltung der Spektrallinien und trägt damit (neben relativistischen Effekten und dem Darwin-Term) zur Feinstruktur der Atomspektren bei. Ein bekannter Fall ist die Aufspaltung der gelben D-Linie von Natrium, die sich bereits mit einem guten Prisma beobachten lässt.
Wesentlich stärker ist die Spin-Bahn-Kopplung für die Protonen und Neutronen im Atomkern (siehe Schalenmodell (Kernphysik)).
Im Atom gebundene Elektronen
Nimmt man Eigendrehimpuls (Spin) und magnetisches Moment des Elektrons als vorgegeben, lässt sich die Spin-Bahn-Kopplung anschaulich schon im Bohrschen Atommodell begründen: Aus der Maxwelltheorie und der speziellen Relativitätstheorie folgt, dass auf ein Elektron, wenn es im elektrischen Feld eines Atomkerns kreist, ein magnetisches Feld wirkt. Im Ruhesystem des Elektrons wird nämlich eine kreisende Bewegung des Kerns wahrgenommen. Diese Bewegung stellt aufgrund der Ladung des Kerns einen Kreisstrom dar, welcher nach dem Gesetz von Biot-Savart ein Magnetfeld parallel zum Bahndrehimpulsvektor erzeugt. Da das magnetische Moment des Elektrons zu seinem Spin antiparallel ist, ergibt sich für eine Spinrichtung parallel zum Feld eine höhere Energie und für die entgegengesetzte eine niedrigere. Da für einen Spin 1/2 nur diese zwei Einstellmöglichkeiten existieren, wird ein einzelnes Energieniveau in zwei Niveaus aufgespalten, und es gibt in den optischen Spektren zwei gegenüber der ursprünglichen Lage leicht verschobene Linien, die bei grober Betrachtung aber als eine erscheinen.
In der nichtrelativistischen Quantenmechanik wird für jedes Elektron ein entsprechender Summand in der Schrödingergleichung hinzugefügt, in der relativistischen Quantenmechanik ergeben sich Spin, magnetisches Moment und Spin-Bahn-Wechselwirkung automatisch aus der Diracgleichung.
Spin-Bahn-Kopplungsenergie für ein Elektron
Der Operator für die Spin-Bahn-Wechselwirkung eines Elektrons im elektrostatischen Zentralfeld lautet
Darin ist die Spin-Bahn-Kopplungskonstante
me bezeichnet die Elektronenmasse, e die Elektronenladung, µ0 die magnetische Feldkonstante und das reduzierte plancksche Wirkungsquantum, r den Abstand des Elektrons vom Atomkern.
Daraus ergibt sich für Zustände mit folgende Energieverschiebung:
j ist die Quantenzahl des Gesamtdrehimpulses des Teilchens, der in halbzahligen Vielfachen von gequantelt ist. Da der Entartungsgrad der Niveaus ist, bleibt ihr gewichteter Schwerpunkt von der Spin-Bahn-Aufspaltung unbeeinflusst (Regel der Spektroskopischen Stabilität). Im Bohrschen Modell ist r der Bahnradius des Elektrons, (n Hauptquantenzahl, Bohrscher Radius). Daher ist am größten für die innerste bohrsche Bahn (n=1). Insgesamt wächst die Aufspaltung durch Spin-Bahn-Kopplung mit steigender Ordnungszahl also wie . In quantenmechanischer Behandlung ist der Faktor durch den über das jeweilige Orbital genommenen Mittelwert zu ersetzen. Bei Vernachlässigung der Einflüsse anderer Elektronen ergibt sich
Der Abstand zwischen den aufgespaltenen Niveaus zu beträgt . Er tritt z.B. bei der Röntgenphotoelektronenspektroskopie (XPS), bei der Absorption von Röntgenstrahlung und der Emission von charakteristischer Röntgenstrahlung experimentell in Erscheinung, weil diese Prozesse direkt von der Bindungsenergie einzelner Elektronen in inneren Schalen des Atoms abhängen.
jj-Kopplung bei mehreren Elektronen
Wegen der Stärke der Spin-Bahn-Wechselwirkung bei großem Z (z.B. bei Blei mit Z=82) spielt bei schweren Atomen die gegenseitige Störung der Elektronen keine so große Rolle. Jedes Elektron befindet sich daher in einem Zustand mit einer „guten Quantenzahl“ ji für seinen Gesamtdrehimpuls. Die Drehimpulse ji der einzelnen Elektronen setzen sich zum Gesamtdrehimpuls J des Atoms zusammen. Dabei sind nur die Elektronen in nicht vollbesetzten Schalen zu berücksichtigen, denn der Gesamtdrehimpuls einer abgeschlossenen Schale ergibt sich immer zu Null. Die Gesamtdrehimpulse der einzelnen Elektronen sind mit Quantenzahlen also wohldefiniert und koppeln zum Gesamtdrehimpuls der Atomhülle mit einer Quantenzahl . Dieses Kopplungsschema heißt jj-Kopplung.
LS-Kopplung bei mehreren Elektronen
Die LS-Kopplung herrscht bei den leichteren Atomen vor. Irrtümlich wird sie aufgrund ihres Namens leicht mit der Spin-Bahn-Wechselwirkung in Zusammenhang gebracht, obwohl diese beim Zustandekommen der LS-Kopplung gerade vernachlässigt wird. Die oben beschriebene Abhängigkeit der Energie eines jeden einzelnen Elektrons vom Skalarprodukt ist bei kleineren Kernladungszahlen Z nämlich so schwach, dass die Elektronen in einer nicht abgeschlossenen Schale in erster Linie durch ihre wechselseitige Coulombabstoßung beeinflusst werden, die von den Spins unabhängig ist. Die Gesamtwellenfunktion eines Energieeigenzustands ist daher in guter Näherung als ein Produkt einer Ortswellenfunktion aller Elektronen mit einer Spinfunktion aller Elektronen anzusetzen. In solchen Zuständen hat (außer für ) kein Elektron einen Zustand inne, der durch eine Quantenzahl für seinen Gesamtdrehimpuls gekennzeichnet ist. Jedoch hat der Gesamtbahndrehimpuls
eine feste Größe (Quantenzahl , Eigenwert zum Operator ), die auch die Energie dieser Zustände bestimmt. Die entarteten Zustände zum gleichen werden formal weiter aufgeschlüsselt nach der Quantenzahl für den Gesamtspin der Elektronen:
- .
(Tatsächlich braucht man abgeschlossene Schalen dabei nicht zu berücksichtigen, denn sie haben automatisch .) Wenn mindestens zwei Elektronen in derselben Unterschale sind, dann können und jeweils mehrere verschiedene Werte haben, die alle zur gleichen Energie gehören (Entartung), sofern die Coulombabstoßung und weitere Energiebeiträge – noch – vernachlässigt sind. Dabei kommen nur die Kombinationen von und vor, die dem Pauli-Prinzip entsprechen, d.h. die eine antisymmetrische Wellenfunktion ergeben, wenn zwei Elektronen miteinander vertauscht werden. Nun sind die Ortswellenfunktion zweier Elektronen zu gegebenem für sich allein bei Vertauschung (innerhalb einer Unterschale) immer schon entweder symmetrisch oder antisymmetrisch, je nachdem ob gerade oder ungerade ist. Auch die Spinwellenfunktion zu gegebenem Gesamtspin ist entweder symmetrisch oder antisymmetrisch, nur im umgekehrten Sinn. Damit insgesamt eine fermionische antisymmetrische Wellenfunktion entsteht, müssen Orts- und Spinfunktion eines Niveaus entgegengesetzte Symmetrie haben.
Wird im nächsten Schritt die Coulomb-Abstoßung der Elektronen berücksichtigt, wird die Energie des Zustands angehoben. Dieser Energiebeitrag ist für die Ortswellenfunktionen zu verschiedenen Gesamtbahndrehimpulsen verschieden, insbesondere ist die Abstoßung für eine symmetrische Ortswellenfunktion größer als für antisymmetrische. Die Energie hängt also vom Symmetriecharakter der Ortswellenfunktion ab, der, wie eben dargestellt, zum Symmetriecharakter der jeweiligen Spinfunktion passen muss. So ergibt sich schließlich für jeden Wert von eine andere Energie, obwohl die Spins der Elektronen an den Wechselwirkungen rechnerisch überhaupt noch nicht beteiligt wurden. Für leichte Atome (bis etwa zur Kernladungszahl ) ist das eine gute Näherung. Den schließlich beobachtbaren Niveaus leichter Atome können damit die Quantenzahlen und zugeordnet werden. Dies ist das LS-Kopplungsschema. Zur jj-Kopplung ist es in gewissem Sinn entgegengesetzt.
Im folgenden Schritt wird die immer noch existente Spin-Bahn-Kopplung bei jedem Elektron berücksichtigt. Sie macht sich durch eine weitere feine Aufspaltung bemerkbar, durch die jedem möglichen Eigenwert zum Gesamtdrehimpuls eine etwas verschiedene Energie zugeordnet wird. Es entsteht ein Multiplett mit (im Allgemeinen) eng benachbarten Niveaus, die in ihren Quantenzahlen und alle übereinstimmen.
In LS-Kopplung hat also jedes Elektron nach wie vor die Quantenzahlen , aber nicht . Ein Niveau der ganzen Atomhülle hat die drei Quantenzahlen , die im Termsymbol zusammengefasst werden.
Mit zunehmender Kernladungszahl wird die Beschreibung nach der LS-Kopplung eine immer schlechtere Näherung, bis ab mittleren Kernladungszahlen die Spin-Bahn-Wechselwirkung der einzelnen Elektronen so groß wird, dass das jj-Kopplungsschema zunehmend besser zutrifft. Man sagt, die LS-Kopplung wird aufgebrochen. Der Übergangsbereich zwischen beiden Kopplungsschemata wird als intermediäre Kopplung (engl. intermediate coupling) bezeichnet. Sie zeichnet sich bspw. durch eine Aufweichung des Interkombinationsverbotes auf.
Gelegentlich wird die LS-Kopplung nach den Physikern Henry Norris Russell und Frederick Albert Saunders als Russell-Saunders-Kopplung bezeichnet.
Aufspaltung im Magnetfeld
Ein Niveau mit bestimmtem , und enthält einzelne Zustände mit verschiedenem . Ohne Magnetfeld sind sie energetisch entartet und bilden ein einziges Niveau. Bei endlichem Magnetfeld gilt das nicht mehr:
- In einem schwachen Magnetfeld behalten die drei Quantenzahlen , und ihren Sinn, aber die Energien spalten nach den auf. Es entstehen Niveaus (mit gleichen , , ). Die magnetische Zusatzenergie dieser Energieeigenzustände ist proportional zum inneren Magnetfeld und zu (siehe Zeeman-Effekt und Landé-Faktor).
- Wird diese Aufspaltung so groß, dass sie gegenüber dem Energieunterschied zu den Niveaus mit benachbarten -Werten nicht mehr vernachlässigbar ist, wird die Kopplung von und zu einem festen Wert zunehmend aufgebrochen. Die Energieeigenzustände haben dann nach wie vor die Quantenzahlen und , aber keinen festen -Wert mehr. Ihre Energien variieren nichtlinear mit dem Magnetfeld, bis im Extremfall des starken Feldes (Paschen-Back-Effekt) die Zustände zu festen Werten und zu Energieeigenzuständen werden und deren Energien wieder linear vom Magnetfeld abhängen.
Ungebundene Teilchen
Wenn ein Teilchen beispielsweise gestreut und dadurch aus seiner Flugrichtung abgelenkt wird, ruft die Spin-Bahn-Wechselwirkung im Allgemeinen eine Abhängigkeit des differentiellen Wirkungsquerschnitts vom Azimutwinkel hervor (siehe auch Spinpolarisation, Mott-Streuung). Auch in Kernreaktionen und für alle Elementarteilchen mit starker Wechselwirkung (Hadronen) spielt sie eine entsprechende Rolle.
Basierend auf Artikeln in: Wikipedia.deSeite zurück
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 07.11. 2021