Anomale Diffusion
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Anomale Diffusion ist in der statistischen
Physik eine besondere Art des Transportprozesses Diffusion
bzw. der brownschen
Molekularbewegung, die in vielen komplexen (z.B. viskoelastischen)
Medien auftritt. Sie lässt sich nicht durch das gewöhnliche (Fick’sche)
Diffusionsgesetz beschreiben. Im Unterschied zu normaler Diffusion wächst die mittlere
quadratische Verschiebung
eines anomal diffundierenden Teilchens, also der Raum, den das Teilchen in der
Zeit
durchwandert, nicht proportional zu
,
sondern folgt typischerweise einem Potenzgesetz
mit Anomalieparameter α. Anomale Diffusion beschreibt Zufallsbewegungen mit
lang-reichweitigen Korrelationen, für die der zentrale
Grenzwertsatz der Statistik nicht mehr gilt. Solche Transportprozesse treten
zum Beispiel in Zellen
oder beim Reiseverhalten von Menschen auf.
Definition und Eigenschaften
Definition
Übliche Diffusionsprozesse lassen sich makroskopisch durch die Fick’sche Diffusionsgleichung beschreiben. Mikroskopisch geht diese Beschreibung in eine Brown’sche Molekularbewegung (Wiener-Prozess) über, mit der mittleren quadratische Verschiebung:
Der Faktor
gibt die Zahl der Raumdimensionen an und der Parameter D ist der Diffusionskoeffizient.
Anomale Diffusion zeichnet sich dagegen durch folgende Abhängigkeit aus:
Hier ist
ein verallgemeinerter Diffusionskoeffizient und
der Anomalieparameter. Die Einheit dieses verallgemeinerten
Diffusionskoeffizienten ist
,
hängt also vom Anomalieparameter ab. Man unterscheidet zwei Regime, die auch in
der Abbildung ganz oben dargestellt sind:
- Subdiffusion (
): Diese Art der verlangsamten diffusiven Bewegung kann etwa im Inneren von Zellen und bei Random Walks auf fraktalen Strukturen beobachtet werden.
- Der Spezialfall
beschreibt die gewöhnliche normale Diffusion.
- Superdiffusion (
): Diese beschleunigte Diffusion tritt z.B. bei Lévy-Flügen auf, oder etwa bei der Bewegung von Geldscheinen bzw. Reisebewegung von Menschen.
- Der Spezialfall
wird ballistische Diffusion (englisch ballistic diffusion) genannt. Dies entspricht einem Fall, wo zusätzlich zur Diffusionsbewegung auch eine Drift vorliegt.
Anomale Diffusion als makroskopischer Effekt
Anomale Diffusion an sich ist zunächst ein makroskopischer Effekt. Wie die verschiedenen obigen Beispiele schon zeigen, ist das Herleiten der mikroskopischen Ursache der anomalen Diffusion nicht einfach möglich.
Zeitabhängiger Diffusionskoeffizient und Gedächtnis
Die mittlere quadratische Verschiebung lässt sich formal auch durch einen
zeitabhängigen Diffusionskoeffizienten
ausdrücken:
Der Diffusionskoeffizient ist also nicht mehr zeitlich konstant, das Verhalten (die "Diffusionsgeschwindigkeit") eines Teilchens hängt also davon ab, wie lange es sich schon bewegt (für Subdiffusion wird es z.B. immer langsamer, je länger es sich bewegt). Dies bedeutet, dass quasi ein Gedächtnis im System vorhanden ist, das die aktuelle Bewegung von der Vorgeschichte abhängig macht. Ein detaillierteres mathematisches Modell hierfür wird weiter unten im Abschnitt Anomale Diffusion und die Langevin-Gleichung beschrieben.
Auftreten anomaler Diffusion
Anomale Diffusionsphänomene treten in verschiedenen Systemen auf. Hier sollen einige Beispiele zusammengefasst werden, die teilweise im restlichen Artikel näher erläutert werden:
- Superdiffusion mit
:
- im theoretischen Random-Walk-Modell des Lévy-Fluges
- bei der Bewegung von Geldscheinen bzw. Reisebewegung von Menschen. Reisende Menschen verbleiben z.B. typischerweise einige Zeit in einer Stadt und bewegen sich dort auf kleiner räumlicher Skala. Mit einer gewissen (niedrigen, aber nicht verschwindenden) Wahrscheinlichkeit unternehmen sie dann eine Reise in eine entfernte Stadt, was zu einem großen Sprung führt. Lévy-Flüge sind ein theoretisches Modell für solches Verhalten.
- Bewegung einzelner Zellen in Zellaggregaten
- Subdiffusion mit
:
- Im Inneren von Zellen beobachtet man Subdiffusion bei der Bewegung von Makromolekülen durch das Cytoplasma. Eine Ursache hierfür kann das sog. molecular crowding sein, also das Vorhandensein vieler (dicht gepackter) Makromoleküle und Organellen im Zytoplasma
- Auf Membranen von Zellen wird ebenfalls anomale Diffusion beobachtet. Die Zellmembran ist hier ein komplexes System aus vielen verschiedenen Bausteinen (Flüssig-Mosaik-Modell).
- Random Walks auf fraktalen Strukturen, wie etwa Perkolationsklustern. Dies kann auch experimentell durch NMR-Diffusivitätsmessungen in porösen Systemen gezeigt werden.
- Diffusion in Polymernetzwerken
- Die Monomerbewegung von langen Polymeren wie DNA zeigt auf begrenzten Zeitskalen ebenfalls die Charakteristik anomaler Diffusion, hier ausgelöst durch die eingeschränkte interne Bewegung des Polymers (siehe z.B. das einfache Rouse-Modell für die Polymerdynamik).
- Ladungsträgertransport in amorphen Halbleitern
Theoretische Beschreibung durch Random Walks
Normale Diffusion
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Wie schon erwähnt, zeigen gewisse Random Walk-Prozesse
ein anomal diffusives Verhalten. Dabei beschreibt man das Fortschreiten der
(hier im Beispiel eindimensionalen) Bewegung in diskreten Zeitschritten .
Der Positionssprung
von einem Zeitschritt zum nächsten ist für normale Diffusion gauß-verteilt:
Diese charakteristische Gauß-Verteilung gilt aufgrund des zentralen
Grenzwertsatzes der Statistik für viele Vorgänge. Sind allerdings wie in den
folgenden Beispielen seine Voraussetzungen nicht mehr erfüllt (z.B. weil
die Varianz
(Stochastik)
der obigen Verteilung nicht mehr definiert werden kann), so kann man anomal
diffusives Verhalten beobachten.
Lévy-Flüge
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Anomale Superdiffusion tritt in Random Walk-Prozessen auf, bei denen die Sprunglängenverteilung endlastig ist. Hier gilt der zentrale Grenzwertsatz nicht mehr, da die Varianz von endlastigen Verteilungen divergiert. Ein Beispiel sind die bereits erwähnten Lévy-Flüge, bei denen selten (aber häufiger als in einer Gauß-Verteilung) sehr lange Sprünge vorkommen können. Die Sprunglängenverteilung nimmt hier mit einem Potenzgesetz ab:
Im Bild rechts sind einige Schritte eines solchen Prozesses gezeigt. Die seltenen großen Sprünge sind gut zu erkennen.
Continuous time random walks (CTRW)
Ein weiterer Random
Walk-Prozess mit anomal diffusiver Charakteristik sind sog. Continuous
time random walks (CTRW). Dabei ist die Bewegung nicht in gleich
lange Zeitschritte
zerteilt, sondern bei gleich bleibender Sprunglänge
wird die Wartezeit zwischen zwei Sprüngen aus einer Verteilung betrachtet.
Man kann das auch als Diffusion auf einem Gitter mit Fallen auffassen, wobei die
Fallen das diffundierende Teilchen unterschiedlich lange festhalten können. Ist
die Wartezeitverteilung endlastig, also:
so führt auch dieses zu anomaler Subdiffusion mit Anomalieparameter .
Kontinuierliche theoretische Modelle
Anomale Diffusion und die Langevin-Gleichung
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Normal diffundierende Teilchen in einem viskosen Medium können über die Langevin-Gleichung beschrieben werden:
Dabei ist x(t) der Teilchenort zur Zeit t, ξ der
Reibungskoeffizient und Fst eine stochastische Kraft mit
verschwindender Korrelation ,
also weißes
Rauschen. Diese stochastische Differentialgleichung lässt sich zur
fraktionalen
Langevin-Gleichung verallgemeinern:
Dabei ist nun
ein sog. memory kernel (deutsch etwa
Gedächtnis-Faltungskern), der eine (auch langreichweitige) zeitliche Kopplung
induziert. Die Bewegung des Teilchens hängt also auch von seiner Vergangenheit
(Integral
)
ab, was bei normaler Brownscher Bewegung nicht der Fall war (dies entspricht
einem nicht-markovschen
Random-Walk). Nimmt man nun im Speziellen wieder ein Potenzgesetz für
an, also
so folgt auch aus diesem Ansatz eine anomale mittlere quadratische
Verschiebung mit Anomalie α.
Mit diesem Ansatz kann man anomale Diffusion modellieren, wie sie in viskoelastischen
Medien auftritt. Alternativ kann man den stochastischen Term korrelieren
lassen, etwa .
Dies entspricht einer Diffusion mit Hindernissen, die für Zeitskalen, in
der einerseits die Hindernisgröße und andererseits der mittlere Hindernisabstand
nicht verschwindet gegenüber diffundierten Distanzen, auch eine anomale
Subdiffusion ist.
Fraktionale Diffusionsgleichung
Mit Hilfe der in der Fraktionale
Infinitesimalrechnung definierten fraktionalen
Integro-Differential-Operatoren lässt sich die oft zur Modellierung normaler
Diffusionsphänomene herangezogene Fokker-Planck-Gleichung
auf anomale Diffusion erweitern.
Diese (dann fraktionale) Differentialgleichung beschreibt die Zeitentwicklung
der Aufenthaltswahrscheinlichkeit
diffundierender Teilchen am Ort
zur Zeit
.
Dabei ist der Riemann-Liouville-Operator
anschaulich als die
-te
Ableitung der Funktion
nach der Zeit definiert über die Integraldarstellung:
Dabei ist
die Gamma-Funktion.
Die Lösung dieser fraktionalen Differentialgleichung führt wieder auf die
anomale mittlere quadratische Verschiebung:
Literatur
- Ralf Metzler, Joseph Klafter: The random walk's guide to anomalous diffusion: a fractional dynamics approach. In: Physics Reports. 339, Nr. 1, Dezember 2000, S. 1–77. doi:10.1016/S0370-1573(00)00070-3.
- Rainer Klages, Günter Radons, Igor M. Sokolov (Herausgeber) Anomalous Transport, John Wiley & Sons, 2008, ISBN 978-3-527-40722-4
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 18.04. 2023