Stochastische Integration
Die Theorie der stochastischen Integration befasst sich mit Integralen und Differentialgleichungen in der Stochastik. Sie verallgemeinert die Integralbegriffe von Henri Léon Lebesgue und Thomas Jean Stieltjes auf eine breitere Menge von Integratoren. Es sind stochastische Prozesse mit unendlicher Variation, insbesondere der Wiener-Prozess, als Integratoren zugelassen. Die Theorie der stochastischen Integration stellt dabei die Grundlage der stochastischen Analysis dar, deren Anwendungen sich zumeist mit der Untersuchung stochastischer Differentialgleichungen beschäftigen.
Integralbegriffe nach Itō und Stratonowitsch
Seien
zwei (nicht notwendigerweise unabhängige)
reellwertige stochastische
Prozesse auf einem gemeinsamen Wahrscheinlichkeitsraum
.
Als Itō-Integral (nach Itō
Kiyoshi) von
nach
über dem Intervall
bezeichnet man die Zufallsvariable
Das zugehörige Stratonowitsch-Integral (nach Ruslan
Leontjewitsch Stratonowitsch) berechnet sich für dieselbe Wahl von
als
Beim Itō-Integral wird der Integrand
also stets am Anfang des
-Intervalls
ausgewertet, bei Stratonowitsch werden der Anfangs- und Endwert gemittelt. Bei
gewöhnlichen (Riemann-
oder Lebesgue-)
Integralen von deterministischen (nicht zufälligen) und hinreichend glatten
(beispielsweise stetigen)
Funktionen hat dies keinen Einfluss auf das Ergebnis, doch im stochastischen
Fall gilt: Sind
und
nicht unabhängig, so kann das tatsächlich zu verschiedenen Werten führen (siehe
Beispiel unten).
Als Klasse der möglichen Integratoren
werden in der allgemeinsten Formulierung Semimartingale
zugelassen, die Integranden
sind vorhersagbare
Prozesse.
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Beispiel
Sei
ein (Standard-)Wiener-Prozess.
Zu berechnen ist das Itō-Integral
.
Schreibt man der Kürze halber
und benutzt man die Identität
so erhält man aus obiger Integrationsvorschrift
Benutzt man nun einerseits, dass
gilt, sowie andererseits die Eigenschaft, dass
i.i.d.
-verteilt
ist (wegen der unabhängigen,
normalverteilten
Zuwächse der Brownschen Bewegung), so folgt mit dem Gesetz der
großen Zahlen für den hinteren Grenzwert
Um das entsprechende Stratonowitsch-Integral zu berechnen, nutzt man die Stetigkeit der Brownschen Bewegung aus:
Itō- und Stratonowitsch-Integral über demselben Prozess führen also zu verschiedenen Ergebnissen, wobei das Stratonowitsch-Integral eher der intuitiven Ahnung aus der gewöhnlichen (deterministischen) Integralrechnung entspricht.
Martingaleigenschaft
Der bei weitem am häufigsten verwendete Integrator
ist eine Brownsche Bewegung. Der entscheidende Vorteil, den das
Stratonowitsch-Integral nicht hat und der letztendlich dazu führte, dass sich
das Itō-Integral weitgehend als Standard durchgesetzt hat, ist die folgende
Eigenschaft:
- Sei
ein Lévy-Prozess mit konstantem Erwartungswert,
eine nicht vorgreifende beschränkte Funktion von
und
(d.h., für jedes
ist
messbar bezüglich der σ-Algebra
, die von den Zufallsvariablen
erzeugt wird), so ist der Prozess
- ein lokales
Martingal bezüglich der natürlichen Filtrierung
von
. Unter zusätzlichen Beschränktheitsbedingungen ist der Integralprozess sogar ein Martingal.
Anwendung: Itō-Prozess
Ausgehend vom Itōschen Integralbegriff ist es nun möglich, eine breite Klasse
von stochastischen Prozessen zu definieren: Demnach wird ein stochastischer
Prozess
mit
Itō-Prozess genannt, wenn es eine Brownsche Bewegung
mit
und stochastische Prozesse
,
gibt mit
wobei angenommen wird, dass die beiden Integrale existieren. In Differentialschreibweise wird diese Gleichung als
notiert. Ein Itō-Prozess kann also als verallgemeinerter Wiener-Prozess mit zufälliger Drift und Volatilität angesehen werden.
Das Prädikat „
ist ein Itō-Prozess“ wird somit zu einem stochastischen Pendant zum Begriff der
Differenzierbarkeit.
Ausgehend hiervon wurden dann von Itō selbst die ersten
stochastischen
Differentialgleichungen definiert.
Hängen der Driftkoeffizient
und der Diffusionskoeffizient
nicht von der Zeit ab, so spricht man von Itō-Diffusion
– hängen sie zusätzlich von der Zeit ab, so liegt dagegen ein allgemeinerer
Itō-Prozess vor.
Durch zahlreiche Anwendungen in der mathematischen Modellierung, insbesondere in der statistischen Physik und der Finanzmathematik, hat sich der Itō-Kalkül inzwischen zu einem unverzichtbaren mathematischen Werkzeug entwickelt.
Siehe auch
Literatur
- J. Jacod, A. Shiryaev: Limit theorems for stochastic processes. Springer, Berlin.
- P. Protter: Stochastic integrals and differential equations. Springer, Berlin.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 11.10. 2021