Tor (Mathematik)

Der Tor-Funktor ist ein mathematischer Begriff aus dem Teilgebiet der homologischen Algebra. Es handelt sich um einen Bi-Funktor, der bei der Untersuchung des Tensorprodukts auftritt. Er ist neben dem Ext-Funktor eine der wichtigsten Konstruktionen der homologischen Algebra.

Motivation mittels Tensorprodukten

Wir betrachten Kategorien von Moduln über einem Ring R. Ist

0\rightarrow X\xrightarrow{\alpha} Y\xrightarrow{\beta} Z\rightarrow 0

eine kurze exakte Sequenz von links-R-Moduln und Modul-Morphismen und ist A ein rechts-R-Modul, so führt das Tensorieren obiger Sequenz von links mit A zu einer exakten Sequenz

A\otimes_R X\xrightarrow{\mathrm{id}_A\otimes \alpha} A\otimes_R Y\xrightarrow{\mathrm{id}_A\otimes \beta} A\otimes_R Z\rightarrow 0

von abelschen Gruppen, die sich im Allgemeinen nicht mit dem Nullobjekt nach links zu einer exakten Sequenz fortsetzen lässt, das heißt \mathrm{id}_A\otimes \alpha ist im Allgemeinen nicht injektiv, oder kurz: Der Tensorfunktor ist rechtsexakt aber im Allgemeinen nicht linksexakt.

Als Beispiel betrachte man die kurze exakte Sequenz

0\rightarrow \Z\xrightarrow{\alpha} \Z\xrightarrow{\beta} \Z_2\rightarrow 0

von \mathbb {Z} -Moduln, wobei \alpha(n) := 2n und \beta die natürliche Abbildung von \mathbb {Z} auf die Restklassengruppe \Z_2=\{\overline{0},\overline{1}\} sei. Tensoriert man diese Sequenz mit \Z_2, so ist \mathrm{id}_{\Z_2}\otimes \alpha nicht injektiv, denn es ist

(\mathrm{id}_{\Z_2}\otimes \alpha)(\overline{1}\otimes 1) = \mathrm{id}_{\Z_2}(\overline{1})\otimes \alpha(1) = \overline{1}\otimes 2\cdot 1 = 2\cdot \overline{1}\otimes 1 = \overline{0}\otimes 1 = 0.

Dabei wurde der Faktor 2 von der torsionsfreien Gruppe \mathbb {Z} mittels Tensoroperation in die Torsionsgruppe \Z_2 verschoben und hat dort zu einer 0 geführt. Das ist der typische Grund, warum die Injektivität des Morphismus \alpha beim Übergang zur tensorierten Sequenz verloren geht. Die fehlende Injektivität führt zum Auftreten eines Kerns und gibt Anlass zu folgender Definition.

Definition

Es seien A ein rechts-R-Modul und B ein links-R-Modul. Weiter sei

0\rightarrow S\xrightarrow{\mu} P\xrightarrow{\nu} B\rightarrow 0

eine kurze exakte Sequenz mit projektivem Modul P. Dann definiert man die abelsche Gruppe

\mathrm{Tor}(A,B):=\mathrm{ker}(A\otimes_R S \xrightarrow{\mathrm{id}_A\otimes \mu}A\otimes_R P)

und man kann zeigen, dass diese Definition nicht von der gewählten exakten Sequenz 0\rightarrow S\rightarrow P\rightarrow B\rightarrow 0 mit projektivem P abhängt. Das rechtfertigt die Schreibweise \mathrm{Tor}(A,B) ohne Hinweis auf diese Sequenz. Manchmal fügt man noch den Ring R an und schreibt \mathrm{Tor}^R(A,B).

Ist {\displaystyle \alpha \colon A\rightarrow A'} ein Morphismus, so entnimmt man dem kommutativen Diagramm

\begin{array}{cccccc} 
A\otimes_R S & \xrightarrow{\mathrm{id}_A\otimes \mu} & A\otimes_R P & \xrightarrow{\mathrm{id}_A\otimes \nu} & A\otimes_R B & \rightarrow 0\\
\downarrow_{\alpha\otimes \mathrm{id}_S} &  & \downarrow_{\alpha\otimes \mathrm{id}_P} & & \downarrow_{\alpha\otimes \mathrm{id}_B} & \\
A'\otimes_R S & \xrightarrow{\mathrm{id}_{A'}\otimes \mu} & A'\otimes_R P & \xrightarrow{\mathrm{id}_{A'}\otimes \nu} & A'\otimes_R B & \rightarrow 0
\end{array}
,

dass die Einschränkung von  \alpha\otimes \mathrm{id}_S den Kern von \mathrm{id}_A\otimes \mu nach \mathrm{ker}(\mathrm{id}_{A'}\otimes \mu) abbildet und so einen Gruppenhomomorphismus {\displaystyle \alpha _{*}\colon \mathrm {Tor} (A,B)\rightarrow \mathrm {Tor} (A',B)} definiert. Auf diese Weise erhält man einen Funktor {\displaystyle \mathrm {Tor} ^{R}(-,B)\colon {\mathfrak {rMod}}_{R}\rightarrow {\mathfrak {Ab}}} von der Kategorie der rechts-R-Moduln in die Kategorie der abelschen Gruppen.

Weiter kann man die Rollen von A und B vertauschen, das heißt man geht von der exakten Sequenz 0\rightarrow S\rightarrow P\rightarrow A von rechts-R-Moduln aus und zeigt, dass man mit \mathrm{ker}( S\otimes_R B \rightarrow P\otimes_R B) eine zu obiger Definition natürlich isomorphe Gruppe erhält, die daher ebenfalls mit \mathrm{Tor}(A,B) bzw. \mathrm{Tor}^R(A,B) bezeichnet werden kann. Insgesamt erhält man so einen Bi-Funktor

{\displaystyle \mathrm {Tor} ^{R}(-,-)\colon {\mathfrak {rMod}}_{R}\times {\mathfrak {lMod}}_{R}\rightarrow {\mathfrak {Ab}}}

von dem Produkt der Kategorie der rechts-Moduln über R mit der Kategorie der links-Moduln über R in die Kategorie der abelschen Gruppen.

Der Tor-Funktor ist additiv, das heißt man hat natürliche Isomorphismen

\mathrm{Tor}^R(A\oplus A',B)\cong \mathrm{Tor}^R(A,B) \oplus \mathrm{Tor}^R(A',B)
\mathrm{Tor}^R(A,B\oplus B')\cong \mathrm{Tor}^R(A,B) \oplus \mathrm{Tor}^R(A,B')

für rechts-R-Moduln A,A^' und links-R-Moduln B,B^'.

Abelsche Gruppen

Wählt man \mathbb {Z} als Grundring, so bewegt man sich in der Kategorie der abelschen Gruppen, denn diese sind genau die \mathbb {Z} -Moduln, und man muss wegen der Kommutativität des Grundrings nicht zwischen links- und rechts-Moduln unterscheiden. In dieser Kategorie ergeben sich gewisse Vereinfachungen und man findet einen Zusammenhang zwischen dem Tor-Funktor und der für ihn namensgebenden Torsion von Gruppen.

Alternative Beschreibung von Tor(A,B)

Im Falle abelscher Gruppen A und B kann \mathrm{Tor}(A,B) wie folgt durch Erzeuger und Relationen präsentiert werden.

Die Menge {\mathcal {E}} der Erzeuger sei die Menge aller Symbole \langle a,m,b\rangle mit a\in A, m\in \Z, b\in B, am = 0 und mb=0, wobei hier die \mathbb {Z} -Modul-Operation nur aus praktischen Gründen einmal links und einmal rechts geschrieben wurde, eine Unterscheidung ist, wie oben erwähnt, nicht nötig. Die Menge {\mathcal {R}} der Relationen enthalte alle Ausdrücke der Form

\langle a_1+a_2,m,b \rangle = \langle a_1,m,b \rangle + \langle a_2,m,b \rangle,\quad \langle a_1,m,b \rangle, \langle a_2,m,b \rangle \in \mathcal{E}
\langle a,m,b_1+b_2 \rangle = \langle a,m,b_1 \rangle + \langle a,m,b_2 \rangle,\quad \langle a,m,b_1 \rangle, \langle a,m,b_2 \rangle \in \mathcal{E}
\langle a,mn,b \rangle = \langle am,n,b \rangle, \quad \langle am,n,b \rangle \in \mathcal{E}
\langle a,mn,b \rangle = \langle a,m,nb \rangle, \quad \langle a,m,nb \rangle \in \mathcal{E}

Dann kann man zeigen, dass die durch \langle \mathcal{E}|\mathcal{R}\rangle präsentierte Gruppe zu \mathrm{Tor}(A,B) isomorph ist. Zur Konstruktion einer Abbildung \langle \mathcal{E}|\mathcal{R}\rangle \rightarrow \mathrm{Tor}(A,B) sei 0\rightarrow S\xrightarrow{\mu} P\xrightarrow{\nu} B\rightarrow 0 eine kurze exakte Sequenz mit projektivem \mathbb {Z} -Modul P und \langle a,m,b\rangle ein Erzeuger. Wähle p\in P mit \nu(p)=b. Dann ist \nu(mp)= mb = 0 und wegen der Exaktheit gibt es genau ein s\in S mit \mu(s)=mp. Man kann zeigen, dass a\otimes s nicht von der Wahl p abhängt. Da

(\mathrm{id}_A\otimes \mu)(a\otimes s) = a\otimes \mu(s) = a\otimes mp = am\otimes p = 0\otimes p = 0,

liegt a\otimes s im Kern von \mathrm{id}_A\otimes \mu und damit definitionsgemäß in \mathrm{Tor}(A,B). Die vorgestellte Konstruktion definiert daher eine Abbildung \langle \mathcal{E}|\mathcal{R}\rangle \rightarrow \mathrm{Tor}(A,B), von der man zeigen kann, dass es sich um einen Gruppenisomorphismus handelt.

Charakterisierung torsionsfreier Gruppen

Für eine abelsche Gruppe A sind folgende Aussagen äquivalent:

Insbesondere ist \mathrm{Tor}(A,B)=0, falls eine der Gruppen gleich \mathbb {Z} oder \mathbb {Q} ist.

Endlich erzeugte abelsche Gruppen

\mathrm{Tor}(A,B) lässt sich für endlich erzeugte abelsche Gruppen vollständig berechnen. Nach dem Hauptsatz über endlich erzeugte abelsche Gruppen sind solche Gruppen direkte Summen von zyklischen Gruppen, so dass \mathrm{Tor}(A,B) wegen der Additivität des Tor-Funktors nur noch für zyklische Gruppen zu bestimmen ist. Ist eine der Gruppen gleich \mathbb {Z} , so ist \mathrm{Tor}(A,B)=0 und es bleibt nur noch der Fall endlicher zyklischer Gruppen. Sei \Z_n die zyklische Gruppe der Ordnung n. Dann folgt

\mathrm{Tor}(\Z_n,B) \cong \{b\in B; nb=0\}

und daraus, wenn man den größten gemeinsamen Teiler von m und n mit (m,n) bezeichnet:

\mathrm{Tor}(\Z_m,\Z_n) \cong \Z_{(m,n)},

was man aber auch direkt aus der Definition mit der Auflösung 0\rightarrow \Z\xrightarrow{a\mapsto ma} \Z \rightarrow \Z_m herleiten kann. Damit ist \mathrm{Tor}(A,B) für endlich erzeugte abelsche Gruppen bestimmt.

Tor als Ableitung des Tensor-Funktors

Eine allgemeinere Definition erhält man durch

\mathrm{Tor}_n^R(A,B) := L_n(-\otimes_R B)(A) \cong L_n(A\otimes_R -)(B)

als n-te Linksableitung des Tensorfunktors. Ist der Grundring R durch den Kontext gegeben, so lässt man ihn in der Bezeichnung fort und schreibt einfach \mathrm{Tor}_n(A,B). Man erhält so eine Folge von Bi-Funktoren

{\displaystyle \mathrm {Tor} _{n}^{R}(-,-)\colon {\mathfrak {rMod}}_{R}\times {\mathfrak {lMod}}_{R}\rightarrow {\mathfrak {Ab}}}.

Verwendet man projektive Auflösungen zur Berechnung von \mathrm{Tor}_n^R(A,B), so sieht man, dass \mathrm{Tor}_1^R(A,B) mit dem oben definierten \mathrm{Tor}-Funktor zusammenfällt.

Man erhält aus der allgemeinen Theorie folgende lange exakte Sequenzen, die zeigen, wie der Tor-Funktor die fehlende Linksexaktheit des Tensorfunktors kompensiert.

Ist 0\rightarrow A\rightarrow A^{'}\rightarrow A^{''}\rightarrow 0 eine kurze exakte Sequenz von rechts-R-Moduln und B ein links-R-Modul, so hat man eine lange exakte Sequenz

\ldots \rightarrow \mathrm{Tor}_2(A^{''},B) \rightarrow \mathrm{Tor}_1(A,B) \rightarrow \mathrm{Tor}_1(A^{'},B) \rightarrow \mathrm{Tor}_1(A^{''},B)
\rightarrow  A\otimes_R B\rightarrow A^{'}\otimes_R B\rightarrow A^{''}\otimes_R B\rightarrow 0.

Ist 0\rightarrow B\rightarrow B^{'}\rightarrow B^{''}\rightarrow 0 eine kurze exakte Sequenz von links-R-Moduln und A ein rechts-R-Modul, so hat man eine lange exakte Sequenz

\ldots \rightarrow \mathrm{Tor}_2(A,B^{''}) \rightarrow \mathrm{Tor}_1(A,B) \rightarrow \mathrm{Tor}_1(A,B^{'}) \rightarrow \mathrm{Tor}_1(A,B^{''})
\rightarrow  A\otimes_R B\rightarrow A\otimes_R B^{'} \rightarrow A\otimes_R B^{''} \rightarrow 0.
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Basierend auf einem Artikel in: Wikipedia.de
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 19.10. 2021