Variationsrechnung
Die Variationsrechnung ist ein Teilgebiet der Mathematik, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts insbesondere von Leonhard Euler und Joseph-Louis Lagrange entwickelt wurde.
Zentrales Element der Variationsrechnung bildet die Euler-Lagrange-Gleichung
,
die für
gerade zur Lagrange-Gleichung
aus der klassischen
Mechanik wird.
Grundlagen
Die Variationsrechnung beschäftigt sich mit reellen Funktionen von Funktionen, die auch Funktionale genannt werden. Solche Funktionale können etwa Integrale über eine unbekannte Funktion und ihre Ableitungen sein. Dabei interessiert man sich für stationäre Funktionen, also solche, für die das Funktional ein Maximum, ein Minimum (Extremale) oder einen Sattelpunkt annimmt. Einige klassische Probleme können elegant mit Hilfe von Funktionalen formuliert werden.
Das Schlüsseltheorem der Variationsrechnung ist die Euler-Lagrange-Gleichung, genauer „Euler-Lagrange’sche Differentialgleichung“. Diese beschreibt die Stationaritätsbedingung eines Funktionals. Wie bei der Aufgabe, die Maxima und Minima einer Funktion zu bestimmen, wird sie aus der Analyse kleiner Änderungen um die angenommene Lösung hergeleitet. Die Euler-Lagrangesche Differentialgleichung ist lediglich eine notwendige Bedingung. Weitere notwendige Bedingungen für das Vorliegen einer Extremalen lieferten Adrien-Marie Legendre und Alfred Clebsch sowie Carl Gustav Jacob Jacobi. Eine hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung stammt von Karl Weierstraß.
Die Methoden der Variationsrechnung tauchen bei den Hilbertraum-Techniken, der Morsetheorie und bei der symplektischen Geometrie auf. Der Begriff Variation wird für alle Extremal-Probleme von Funktionen verwendet. Geodäsie und Differentialgeometrie sind Bereiche der Mathematik, in denen Variationen eine Rolle spielen. Besonders am Problem der minimalen Oberflächen, die etwa bei Seifenblasen auftreten, wurde viel gearbeitet.
Anwendungsgebiete
Die Variationsrechnung ist die mathematische Grundlage aller physikalischen Extremalprinzipien und deshalb besonders in der theoretischen Physik wichtig, so etwa im Lagrange-Formalismus der klassischen Mechanik bzw. der Bahnbestimmung, in der Quantenmechanik in Anwendung des Prinzips der kleinsten Wirkung und in der statistischen Physik im Rahmen der Dichtefunktionaltheorie. In der Mathematik wurde die Variationsrechnung beispielsweise bei der riemannschen Behandlung des Dirichlet-Prinzips für harmonische Funktionen verwendet. Auch in der Steuerungs- und Regelungstheorie findet die Variationsrechnung Anwendung, wenn es um die Bestimmung von Optimalreglern geht.
Ein typisches Anwendungsbeispiel ist das Brachistochronenproblem: Auf welcher Kurve in einem Schwerefeld von einem Punkt A zu einem Punkt B, der unterhalb, aber nicht direkt unter A liegt, benötigt ein Objekt die geringste Zeit zum Durchlaufen der Kurve? Von allen Kurven zwischen A und B minimiert eine den Ausdruck, der die Zeit des Durchlaufens der Kurve beschreibt. Dieser Ausdruck ist ein Integral, das die unbekannte, gesuchte Funktion, die die Kurve von A nach B beschreibt, und deren Ableitungen enthält.
Ein Hilfsmittel aus der Analysis reeller Funktionen in einer reellen Veränderlichen
Im Folgenden wird eine wichtige Technik der Variationsrechnung demonstriert, bei der eine notwendige Aussage für eine lokale Minimumstelle einer reellen Funktion mit nur einer reellen Veränderlichen in eine notwendige Aussage für eine lokale Minimumstelle eines Funktionals übertragen wird. Diese Aussage kann dann oftmals zum Aufstellen beschreibender Gleichungen für stationäre Funktionen eines Funktionals benutzt werden.
Sei ein Funktional
auf einem Funktionenraum
gegeben (
muss mind. ein topologischer
Raum sein). Das Funktional habe an der Stelle
ein lokales Minimum.
Durch den folgenden einfachen Trick tritt an die Stelle des „schwierig
handhabbaren“ Funktionals
eine reelle Funktion
,
die nur von einem reellen Parameter
abhängt „und entsprechend einfacher zu behandeln ist“.
Mit einem
sei
eine beliebige stetig durch den reellen Parameter
parametrisierte Familie von Funktionen
.
Dabei sei die Funktion
(d.h.,
für
)
gerade gleich der stationären Funktion
.
Außerdem sei die durch die Gleichung
definierte Funktion
an der Stelle
differenzierbar.
Die stetige Funktion
nimmt dann an der Stelle
ein lokales Minimum an, da
ein lokales Minimum von
ist.
Aus der Analysis für reelle Funktionen in einer reellen Veränderlichen ist
bekannt, dass dann
gilt. Auf das Funktional übertragen heißt das
Beim Aufstellen der gewünschten Gleichungen für stationäre Funktionen wird
dann noch ausgenutzt, dass die vorstehende Gleichung für jede beliebige
(„gutartige“) Familie
mit
gelten muss.
Das soll im nächsten Abschnitt anhand der Euler-Gleichung demonstriert werden.
Euler-Lagrange-Gleichung; Variationsableitung; weitere notwendige bzw. hinreichende Bedingungen
Gegeben seien zwei Zeitpunkte
mit
und eine in allen Argumenten zweifach stetig differenzierbare Funktion, die Lagrangefunktion
.
Beispielsweise ist bei der Lagrangefunktion des freien relativistischen
Teilchens mit Masse
und
das Gebiet
das kartesische Produkt von
und dem Inneren der Einheitskugel.
Als Funktionenraum
wird die Menge aller zweifach stetig differenzierbaren Funktionen
gewählt, die zum Anfangszeitpunkt
und zum Endzeitpunkt
die fest vorgegebenen Orte
bzw.
einnehmen:
und deren Werte zusammen mit den Werten ihrer Ableitung in
liegen,
.
Mit der Lagrangefunktion
wird nun das Funktional
,
die Wirkung, durch
definiert. Gesucht ist diejenige Funktion ,
die die Wirkung
minimiert.
Entsprechend der im vorhergehenden Abschnitt vorgestellten Technik
untersuchen wir dazu alle differenzierbaren einparametrigen Familien ,
die für
durch die stationäre Funktion
des Funktionals gehen (es gilt also
).
Genutzt wird die im letzten Abschnitt hergeleitete Gleichung
.
Hereinziehen der Differentiation nach dem Parameter
in das Integral liefert mit der Kettenregel
Dabei stehen
für die Ableitungen nach dem zweiten bzw. dritten Argument und
für die partielle Ableitung nach dem Parameter
.
Es wird sich später als günstig erweisen, wenn im zweiten Integral statt
wie im ersten Integral
steht. Das erreicht man durch partielle Integration:
An den Stellen
und
gelten unabhängig von
die Bedingungen
und
.
Ableiten dieser beiden Konstanten nach
liefert
.
Deshalb verschwindet der Term
und man erhält nach Zusammenfassen der Integrale und Ausklammern von
die Gleichung
und mit
Außer zum Anfangszeitpunkt und zum Endzeitpunkt unterliegt
keinen Einschränkungen. Damit sind die Zeitfunktionen
bis auf die Bedingungen
beliebige zweimal stetig differenzierbare Zeitfunktionen. Die letzte Gleichung
kann nach dem Fundamentallemma
der Variationsrechnung also nur dann für alle zulässigen
erfüllt sein, wenn der Faktor
im gesamten Integrationsintervall gleich null ist (das wird in den Bemerkungen
etwas detaillierter erläutert). Damit erhält man für die stationäre Funktion
die Euler-Lagrange-Gleichung
,
die für alle
erfüllt sein muss.
Die angegebene, zum Verschwinden zu bringende Größe bezeichnet man auch als
Eulerableitung der Lagrangefunktion ,
Vor allem in Physikbüchern wird die Ableitung
als Variation bezeichnet. Dann ist
die Variation von
.
Die Variation der Wirkung
ist wie bei
eine Linearform in den Variationen der Argumente, ihre Koeffizienten
heißen Variationsableitung des Funktionals
.
Sie ist im betrachteten Fall die Eulerableitung der Lagrangefunktion
.
Bemerkungen
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Bei der Herleitung der Euler-Lagrange-Gleichung wurde berücksichtigt, dass
eine stetige Funktion ,
die für alle mindestens zweimal stetig differenzierbaren Funktionen
mit
bei Integration über
den Wert null ergibt, identisch gleich null sein muss.
Das ist leicht einzusehen, wenn man berücksichtigt, dass es zum Beispiel mit
eine zweimal stetig differenzierbare Funktion gibt, die in einer -Umgebung
eines willkürlich herausgegriffenen Zeitpunktes
positiv und ansonsten null ist. Gäbe es eine Stelle
,
an der die Funktion
größer oder kleiner null wäre, so wäre sie aufgrund der Stetigkeit auch noch in
einer ganzen Umgebung
dieser Stelle größer bzw. kleiner null. Mit der eben definierten Funktion
ist dann jedoch das Integral
im Widerspruch zur Voraussetzung an
ebenfalls größer bzw. kleiner null. Die Annahme, dass
an einer Stelle
ungleich null wäre, ist also falsch. Die Funktion
ist also wirklich identisch gleich null.
Ist der Funktionenraum
ein affiner Raum, so wird die
Familie
in der Literatur oftmals als Summe
mit einer frei wählbaren Zeitfunktion
festgelegt, die der Bedingung
genügen muss. Die Ableitung
ist dann gerade die Gateaux-Ableitung
des Funktionals
an der Stelle
in Richtung
.
Die hier vorgestellte Version erscheint dem Autor etwas günstiger, wenn die
Funktionenmenge
kein affiner Raum mehr ist (wenn sie beispielsweise durch eine nichtlineare
Nebenbedingung eingeschränkt ist; siehe etwa gaußsches
Prinzip des kleinsten Zwanges). Sie ist ausführlicher in[1]
dargestellt und lehnt sich an die Definition von Tangentialvektoren an
Mannigfaltigkeiten an.
Im Falle eines weiteren, einschränkenden Funktionals ,
der den Funktionenraum
dadurch einschränkt, dass
gelten soll, kann man analog zum reellen Fall das Verfahren der Lagrange-Multiplikatoren
anwenden:
für beliebiges
und ein festes
.
Verallgemeinerung für höhere Ableitung und Dimensionen
Die obige Herleitung mittels partieller Integration lässt sich auf Variationsprobleme der Art
übertragen, wobei in den Abhängigkeiten Ableitungen
(siehe Multiindex-Notation) auch
höherer Ordnung auftauchen, etwa bis zur Ordnung
.
In diesem Fall lautet die Euler-Lagrange-Gleichung
,
wobei die Euler-Ableitung als
zu verstehen ist (und wobei
in selbsterklärender Weise symbolisch die entsprechende Abhängigkeit von
repräsentiert,
steht für den konkreten Wert der Ableitung von
).
Insbesondere wird auch über
summiert.
Anmerkungen
- ↑ Wladimir I. Smirnow: Lehrgang der höheren Mathematik (= Hochschulbücher für Mathematik. Bd. 5a). Teil 4, 1. (14. Auflage, deutschsprachige Ausgabe der 6. russischen Auflage). VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1988, ISBN 3-326-00366-8.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 20.06. 2021