Prinzip des kleinsten Zwanges
Prinzip des kleinsten Zwanges (auch gaußsches Prinzip des kleinsten 
Zwanges) ist ein von Carl 
Friedrich Gauß 1829 aufgestellter und von Philip 
Jourdain ergänzter Satz der klassischen Mechanik, wonach ein mechanisches 
System sich so bewegt, dass der Zwang zu jedem Zeitpunkt  
minimiert wird. 
Der Zwang ist dabei definiert als[1]:
wobei über die Massenpunkte i summiert wird, mit den vorgegebenen 
eingeprägten Kräften , 
den Massen der Punktteilchen 
 
und den Beschleunigungen 
. 
Die einzelnen Punktteilchen, aus denen man sich das System zusammengesetzt 
denkt, sind dabei zusätzlichen Zwangsbedingungen unterworfen. Die eingeprägten 
Kräfte dürfen explizit von der Zeit, vom Ort und der Geschwindigkeit abhängen, 
nicht jedoch von der Beschleunigung. 
Bei der Minimierung des Zwanges bezüglich der Beschleunigungen stehen alle 
mit den Zwangsbedingungen verträglichen Bewegungen zur Konkurrenz, bei denen zur 
Zeit  
die Lagen und die Geschwindigkeiten übereinstimmen. Konkurrenz bedeutet, dass 
alle möglichen Bewegungen betrachtet werden – auch die, die wegen des Prinzip 
des kleinsten Zwanges in der Realität gar nicht auftreten. 
In der obigen Gleichung stehen die Differenzen zwischen den Beschleunigungen der Massenelemente und den Beschleunigungen, die sie als freie Massen unter der Einwirkung der an ihnen angreifenden eingeprägten Kräfte erfahren würden. Das Prinzip lässt sich damit wie folgt formulieren:
bzw.
- , 
mit  
(nur die Beschleunigung wird variiert). 
Das Prinzip des kleinsten Zwangs ist für sehr allgemein formulierte Zwangsbedingungen gültig. In diese können die Zeit, die Orte und Geschwindigkeiten nichtlinear eingehen. Dadurch grenzt sich das Prinzip des kleinsten Zwangs zum Beispiel vom d'Alembert'schen Prinzip der virtuellen Arbeit ab, bei dem in der einfachsten Fassung holonome Zwangsbedingungen gefordert werden. Cornelius Lanczos[2] nennt es eine geniale Neuinterpretation des d'Alembertschen Prinzips der Mechanik durch Carl Friedrich Gauß, der damit eine Formulierung der mechanischen Prinzipien gefunden hatte, die in der Form seiner Methode der kleinsten Quadrate eng verwandt war.
Beispiel
 
  
Gegeben ist ein Pendel mit 2 Punktmassen und masseloser starrer Stange (s. Abbildung 1). Die Kräfte Fe1 und Fe2 sind die eingeprägten Kräfte mit den Beträgen m1g und m2g. at1 und at2 sind die Tangentialbeschleunigungen der Massen m1 und m2, an1 und an2 die zugehörigen Normalbeschleunigungen. Der Zwang ist damit:
Bei der Bestimmung des Minimums für obigen Ausdruck ist zu beachten, dass die Variation der Normalbeschleunigungen wegen der gelenkigen Aufhängung verschwindet, während für die Tangentialbeschleunigungen gilt:
und
Somit wird
Wegen der Willkürlichkeit von  
folgt nach Kürzung des Faktors 2 die Bewegungsgleichung: 
Eine formale Interpretation
Im Folgenden wird eine Interpretation des gaußschen Prinzips für ein allgemeines Punktmassensystem mit Zwangsbedingungen gegeben.
Systembeschreibung
 
Punktmassen mit Koordinaten  
 
bewegen sich unter Einfluss eingeprägter Kräfte, die von der Zeit, Ort und 
Geschwindigkeiten abhängen.  
Die Bewegung des freien Systems wird durch die Gleichung
beschrieben ( 
ist die Massenmatrix), wobei nun der Ort 
 
als zeitabhängige Funktion zu interpretieren ist und 
 
die erste bzw. zweite Zeitableitung sind. 
Bei dem zu untersuchenden System sind jedoch  
zusätzliche Zwangsbedingungen gegeben 
, 
die durch die Gleichung 
mit einer vektorwertigen Funktion  
beschrieben werden. 
Mit Hilfe des gaußschen Prinzips soll die Bewegungsgleichung des Systems mit Zwangsbedingungen aufgestellt werden, die an die Stelle der Bewegungsgleichung für das freie System tritt.
Interpretation des gaußschen Prinzips
Das oben verbal formulierte gaußsche Prinzip stellt nicht nur eine 
Optimierungsaufgabe dar, sondern eine ganze Familie durch die Zeit  
parametrisierter Optimierungsaufgaben, denn der Zwang soll zu jedem Zeitpunkt 
ein Minimum annehmen (das ist einer der feinen Unterschiede des gaußschen 
Prinzips zum Prinzip 
der stationären Wirkung, bei dem die Wirkung 
 
ein von der gesamten Bewegung 
 
abhängiges Funktional ist). 
Zu jedem festen Zeitpunkt  
konkurrieren alle zweimal stetig im Kurvenparameter 
 
differenzierbaren Kurven 
die die Zwangsbedingung
erfüllen, an der Stelle  
durch denselben Ort 
gehen und dieselbe Geschwindigkeit
haben um das Zwangsminimum.
Zum Aufstellen einer Gleichung für die den Zwang minimierende Bewegung  
wird eine im Abschnitt „Ein 
Hilfsmittel aus der Analysis reeller Funktionen in einer reellen 
Veränderlichen“ des Eintrages zur Variationsrechnung vorgestellte 
Methode verwendet. 
Aus der Menge aller konkurrierender Kurven wird eine beliebige 
reell-parametrige Schar  
herausgegriffen, die nach dem Scharparameter 
 
differenzierbar sei. Die Kurve für 
, 
also 
, 
soll gerade mit der physikalisch ausgezeichneten Bewegung 
 
übereinstimmen. Das heißt, dass zu jeder Zeit 
 
der vom Scharparameter 
 
abhängigen Zwang 
an der Stelle  
ein Minimum annimmt (die zweite Darstellung dient im Wesentlichen einer 
übersichtlicheren Notation). Hält man die Zeit 
 
fest, so ist 
 
nur noch von 
 
abhängig. Eine notwendige Bedingung dafür, dass diese Funktion bei 
 
ein Minimum annimmt, ist, dass die Ableitung des Zwangs nach 
 
bei 
 
gleich null wird, also 
Berücksichtigt man, dass diese Gleichung für jede beliebige gemäß den obigen 
Voraussetzungen gewählte Kurvenschar  
gelten muss, erhält man daraus die Bewegungsgleichung für das System mit den 
vorgegebenen Zwangsbedingungen. 
Das wird im nächsten Abschnitt weiter ausgeführt.
Übergang zum jourdainschen Prinzip und zur lagrangeschen Darstellung
Entsprechend der eben skizzierten Vorgehensweise werden nun die Bewegungsgleichungen in einer der Berechnung besser zugänglichen Form aufgestellt. Das dadurch entstehende Gleichungssystem wird auch als jourdainsches Prinzip oder Prinzip der virtuellen Leistung interpretiert.
Zunächst führt man die Differentiation nach  
in der letzten abgesetzten Gleichung weiter aus. 
Hierbei wurde benutzt, dass viele Terme der inneren Ableitung wegen  
und 
 
gleich null sind. 
Um zu verdeutlichen, dass in der Klammer die linke Seite der Kräftebilanz für 
das freie System steht, wird noch die Massenmatrix  
in die Klammer hinein gezogen. 
Die mit den Zwangsbedingungen verträglichen Variationen der Beschleunigung 
 
erhält man durch Ableitung der Zwangsbedingung 
nach  
an der Stelle 
 
und dann nach 
. 
Hier wurden der Übersicht halber die Argumente weggelassen und mit  
die partiellen Ableitungen nach Zeit (i=1), Ort (i=2) und Geschwindigkeit (i=3) 
bezeichnet. Bei der anschließenden Differentiation nach 
 
nutzt man wieder aus, dass für 
 
die Variationen von Ort und Geschwindigkeit gleich null sind und erhält die 
gewünschte Bedingung dafür, dass 
 mit den Zwangsbedingungen verträglich ist: 
Führt man in der letzten Gleichung und in der letzten Gleichung für  
für die Variation der Beschleunigung 
 
das Zeichen 
 
ein und substituiert man (korrekterweise) 
 
und 
, 
so erhält man letztendlich aus dem gaußschen Prinzip die übliche Schreibweise 
für das jourdainsche Prinzip der virtuellen Leistung: 
Die physikalisch ausgezeichnete Bewegung  
verläuft gerade so, dass zu jedem Zeitpunkt 
 
die Gleichung 
für alle  
mit  
erfüllt ist.
Das kann so interpretiert werden, dass zumindest in den Richtungen , 
in denen sich das System momentan frei bewegen kann, das System mit 
Zwangsbedingungen auch die Bewegungsgleichungen des freien Systems erfüllen 
muss. 
Die Größen  
werden als virtuelle Geschwindigkeiten bezeichnet. 
Für eine effektivere Berechnung kann man das vorstehende Gleichungssystem wie folgt in die lagrangesche Darstellung (Lagrangegleichung 1. Art) überführen, die auch zum d´Alembert Prinzip äquivalent ist.
Mit der zweiten Gleichung wird ausgedrückt, dass die Menge aller zulässigen 
 
gerade der Kern der Matrix 
 
ist und die erste Gleichung besagt, dass 
 
im orthogonalen Komplement dieser Menge liegt. Insgesamt erhält man also 
 
Denn aus  
folgt 
. 
Es gibt also einen (zeitabhängigen) Vektor 
 
(der Lagrange-Multiplikator), mit dem 
gilt (Lagrangegleichungen 1. Art).
Eine Interpretation dafür ist, dass senkrecht zu den möglichen virtuellen 
Geschwindigkeiten  
beliebige Zwangskräfte 
 
wirken können. 
Explizite Ableitung des d'Alembert Prinzips
Holonome 
Zwangsbedingungen , 
in denen die Geschwindigkeiten nicht explizit vorkommen, können in die bisherige 
Behandlung einbezogen werden, indem man setzt:  
Aus der Anschauung ist klar, dass die Zwangsbedingung für den Ort, die das System in eine bestimmte Bahn zwingt, auch die möglichen Geschwindigkeiten einschränkt. Es ergibt sich im jourdainschen Prinzip:
Da danach die Variation der Geschwindigkeiten in den Zwangsflächen erfolgt, 
kann man die  
durch die virtuellen Verschiebungen 
 
ersetzen und es ergibt sich die übliche Form des d´Alembert Prinzips: 
Die physikalisch ausgezeichnete Bewegung  
verläuft so, dass zu jedem Zeitpunkt 
 
die Gleichung 
für alle  
mit 
erfüllt ist. Die Lagrangegleichungen 1. Art folgen wie oben:
mit . 
Literatur
- Cornelius Lanczos: The Variational Principles of Mechanics. Dover.
Anmerkungen
- ↑ Form nach dem Buch von Cornelius Lanczos, wo der Vorfaktor 1/2 aus der Ableitung aus dem d´Alembert Prinzip stammt, er kann bei anderen Autoren auch wegfallen
- ↑ The Variational Principles of Mechanics, Dover, S. 106

 Wikipedia.de
  
    Wikipedia.de

© biancahoegel.de
Datum der letzten Änderung: Jena, den: 25.11. 2020