Anfangswertproblem
Als Anfangswertproblem (abgekürzt AWP), manchmal auch Anfangswertaufgabe (abgekürzt AWA) oder Cauchy-Problem genannt, bezeichnet man in der Analysis eine wichtige Klasse von Differentialgleichungen. Die Lösung eines Anfangswertproblems ist die Lösung der Differentialgleichung unter zusätzlicher Berücksichtigung eines vorgegebenen Anfangswertes.
In diesem Artikel wird das Anfangswertproblem zunächst für gewöhnliche Differentialgleichungen und später auch für partielle Differentialgleichungen erklärt.
Gewöhnliche Differentialgleichungen
Anfangswertproblem 1. Ordnung
Ein Anfangswertproblem erster Ordnung ist ein Gleichungssystem, das aus einer gewöhnlichen Differentialgleichung erster Ordnung
und einer zusätzlichen Anfangsbedingung
besteht, mit
- dem Anfangswert
und
- einem Zeitpunkt
.
Eine konkrete Funktion
ist eine Lösung des Anfangswertproblems, wenn sie beide Gleichungen erfüllt.
Gesucht ist also eine Funktion ,
die die Bedingungen der Differentialgleichung und des Anfangswertes erfüllt. Ist
die Funktion
stetig, so ist dies nach dem Hauptsatz
der Integralrechnung genau dann der Fall, wenn
für alle
im Definitionsintervall gilt.
Anfangswertproblem k-ter Ordnung
Gegeben seien
und eine Funktion
.
Ihr Definitionsbereich
sei hierbei eine Teilmenge
von
,
worin
ein Intervall
bezeichnet, welches
umfasst. Dann heißt
ein Anfangswertproblem -ter
Ordnung. Jedes Anfangswertproblem
-ter
Ordnung lässt sich umschreiben in ein Anfangswertproblem 1. Ordnung.
Ein spezielles Anfangswertproblem ist das Riemann-Problem, bei dem die Anfangsdaten konstant sind bis auf eine Unstetigkeitsstelle.
Anfangswertprobleme treten z.B. in den Naturwissenschaften auf, wenn ein mathematisches Modell für natürliche Prozesse gesucht wird.
Lösbarkeit
Wichtige Sätze, die die Lösbarkeit von Anfangswertproblemen für gewöhnliche Differentialgleichungen betreffen, sind der (lokale) Existenzsatz von Peano und der Existenz- und Eindeutigkeitssatz von Picard-Lindelöf. Ein Hilfsmittel ist die grönwallsche Ungleichung.
Beispiel
Das Anfangswertproblem
welches zu
korrespondiert, hat unendlich viele Lösungen, nämlich neben der trivialen Lösung
auch noch für jedes
die Lösungen
sowie
Damit Anfangswertprobleme eindeutige Lösungen besitzen, sind
Zusatzeigenschaften (an )
nachzuweisen. Dies kann beispielsweise über den Satz von
Picard-Lindelöf geschehen, dessen Voraussetzungen in diesem Beispiel jedoch
nicht erfüllt werden.
Numerische Lösungsmethoden
Zur numerischen Lösung von Anfangswertproblemen werden Einschritt- oder Mehrschrittverfahren eingesetzt. Dabei wird die Differentialgleichung mittels einer Diskretisierung approximiert.
Partielle Differentialgleichungen
Verallgemeinert man das Cauchy-Problem auf mehrere Veränderliche, etwa
Veränderliche
,
so erhält man partielle
Differentialgleichungen. Im Folgenden stehe
für einen Multiindex der Länge
.
Beachte, dass es genau
Multiindizes mit
gibt. Es sei weiter eine Funktion
in
Variablen gegeben. Beim allgemeinen Cauchy-Problem sucht man nach Funktionen
,
die von
Variablen
abhängen und die Gleichung
- (1)
erfüllen. Beachte, dass die Stelligkeit
von
gerade so gewählt wurde, dass man
und alle partiellen Ableitungen
einsetzen kann. Darüber hinaus fordert man, dass die gesuchten Funktionen den im
Folgenden beschriebenen sogenannten Anfangs- bzw. Randbedingungen genügen. Zu
deren Formulierung sei
eine Hyperfläche
der Klasse Ck
mit Normalenfeld
.
Mit
seien die Normalenableitungen
bezeichnet. Sind dann
vorgegebene auf
definierte Funktionen, so fordert man beim allgemeinen Cauchy-Problem, dass die
Funktionen
zusätzlich die Bedingungen
- (2)
auf
erfüllen. Die Funktionen
heißen die Cauchy-Daten des Problems, jede Funktion
,
die beide Bedingungen (1) und (2) erfüllt, heißt eine Lösung des
Cauchy-Problems.
Durch eine geeignete Koordinatentransformation
kann man sich auf den Fall
zurückziehen. Dann spielt die letzte Variable eine Sonderrolle, denn die
Anfangsbedingungen sind dort gegeben, wo diese Variable 0 ist. Da diese Variable
in vielen Anwendungen als Zeit interpretiert wird, benennt man sie gern in
(lateinisch tempus = Zeit) um, die Anfangsbedingungen beschreiben dann die
Verhältnisse zum Zeitpunkt
.
Die Variablen sind also
.
Da die betrachtete Hyperebene durch die Bedingung
gegeben ist, wird die Normalenableitung einfach zur Ableitung nach
.
Schreibt man abkürzend
und
,
so lautet das Cauchy-Problem nun
- (1')
- (2')
.
Ein typisches Beispiel ist etwa die dreidimensionale Wellengleichung
,
wobei
eine Konstante,
eine vorgegebene Funktion und
der Laplace-Operator
seien.
Ist
eine Lösung, was gleichzeitig ausreichende Differenzierbarkeit implizieren soll,
so sind alle Ableitungen
mit
bereits durch die Cauchy-Daten vorgegeben, denn es ist
.
Lediglich die Ableitung
ist nicht durch (2') festgelegt, hier kann also nur (1') eine Bedingung stellen.
Damit (1') tatsächlich eine nicht-triviale Bedingung und damit das
Cauchy-Problem nicht von vornherein schlecht
gestellt ist, wird man fordern, dass man die Gleichung (1') nach
auflösen kann. Das Cauchy-Problem hat dann die Form
- (1")
- (2")
,
wobei
eine geeignete Funktion der Stelligkeit
sei. In der zuletzt gegebenen Formulierung haben alle auftretenden Ableitungen
eine Ordnung
,
und die
-te
Ableitung nach
tritt tatsächlich auf, denn dies ist gerade die linke Seite von (1") und sie
kommt nicht auf der rechten Seite von (1") vor. Man nennt
daher auch die Ordnung des Cauchy-Problems. Das obige Beispiel der
dreidimensionalen Wellengleichung ist offenbar leicht in diese Form zu bringen,
es liegt daher ein Cauchy-Problem der Ordnung 2 vor.
Sind alle Cauchy-Daten analytisch, so sichert der Satz von Cauchy-Kowalewskaja eindeutige Lösungen des Cauchy-Problems.
Bestimmung der Integrationskonstante
In der Schulmathematik wird die Bestimmung der Integrationskonstante eines unbestimmten Integrals für einen gegebenen Punkt als Anfangswertproblem bezeichnet.
Beispiel
Gesucht ist die Stammfunktion
der gebrochenrationalen
Funktion
gegeben durch
,
die durch den Punkt
geht.
Zunächst faktorisieren wir den Nenner:
.
Nun können wir substituieren:
.
Als nächstes müssen wir die x-Koordinate des Punktes einsetzen und den Term mit dem y-Wert gleichsetzen
.
Die gesuchte Stammfunktion lautet demnach:
.
Abstraktes Cauchy-Problem
Seien
ein Banachraum und
ein linearer
oder nichtlinearer Operator. Die Fragestellung, ob bei gegebenem
,
und
eine differenzierbare Funktion
mit
für alle
existiert, die das Anfangswertproblem
erfüllt, bezeichnet man als abstraktes Cauchy-Problem. Zu ihrer Lösbarkeit benötigt man die Theorie der stark stetigen Halbgruppen bzw. der analytischen Halbgruppen. Zu den verschiedenen Anfangsbedingungen und Operatoren gibt es verschiedene Arten des Lösungsbegriffes, im linearen distributionelle Lösungen, im nichtlinearen die integrale Lösung. Mit klassisch differenzierbaren, beziehungsweise fast überall differenzierbaren Lösungen beschäftigt sich die nachgelagerte Regularitätstheorie.
Literatur
- Wolfgang Walter: Gewöhnliche Differentialgleichungen: Eine Einführung. 7. Auflage. Springer, 2000, ISBN 3-540-67642-2.
- Martin Hermann: Numerik gewöhnlicher Differentialgleichungen. Band 1: Anfangswertprobleme und lineare Randwertprobleme. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Walter de Gruyter Verlag, Berlin und Boston, 2017, ISBN 978-3-11-050036-3.



© biancahoegel.de
Datum der letzten Änderung: Jena, den: 11.10. 2021