Zeitableitung
Die Zeitableitung ist eine Ableitung eines Wertes nach der Zeit. Aus dem Ort eines Körpers entstehen durch mehrfach hintereinander angewandte Zeitableitung die Geschwindigkeit, die Beschleunigung und der Ruck. Allgemein entsteht durch Zeitableitung die Änderungsrate des Werts, der wie beim Ort eine physikalische Größe oder beispielsweise eine ökonomische Funktion sein kann.
Die Umkehrung der Zeitableitung ist die Zeitintegration, für die in Form der numerischen Simulation mächtige Lösungsverfahren zur Verfügung stehen. So können Vorhersagen über zukünftige Werte ermittelt werden, die bei der Wertung und/oder Entscheidungsfindung helfen. Insbesondere können die hinter der Zeitableitung stehenden Annahmen und Theorien validiert oder falsifiziert werden. In der Wissenschaftstheorie nach Karl Popper nimmt die Falsifizierbarkeit einer Theorie oder Hypothese eine zentrale Rolle ein.
Gewöhnlich ist
von lateinisch tempus die Variable, die die Zeit bezeichnet.
Notation
Für die Zeitableitung einer Funktion
()
werden viele Notationen verwendet. Auf Gottfried Wilhelm
Leibniz geht die Leibniz-Notation
zurück. Isaac Newton benutzte den Überpunkt (Newton-Notation)
der häufig in der Physik verwendet wird. Hängt der Funktionswert nicht nur
von der Zeit, sondern auch von anderen Größen
ab, dann bedeutet die partielle
Ableitung
die Zeitableitung bei konstant gehaltenem .
Mehrfache Zeitableitungen, wie beispielsweise die zweite, werden notiert als
Analog werden auch Zeitableitungen für vektorielle Größen geschrieben:
Um die Ableitungen überhaupt durchführen zu können, wird die Zeit als kontinuierliche Größe angenommen. Diese Annahme wird im Artikel „Zeit“ diskutiert, siehe dort „Grenzen des physikalischen Zeitbegriffs“.
Besondere Zeitableitungen
Relative Zeitableitung
Auf der Erde werden die Geschwindigkeiten im Alltag relativ zur Umgebung gemessen. Beispielsweise misst der Tachometer im Auto die Geschwindigkeit relativ zum Untergrund. Zusätzlich dreht sich jedoch die Erde um sich selbst. Soll dies berücksichtigt werden, dann addiert sich zur ersteren lokalen oder relativen Geschwindigkeit auf der Erdoberfläche noch ein Anteil hinzu, der sich aus der Rotation der Erde ergibt:
Mathematisch lässt sich das mit einem rotierenden Bezugssystem darstellen.
Sei
ein Vektor mit Komponenten
bezüglich eines
Basissystems
.
Nach der Produktregel
lautet die Zeitableitung:
Darin ist
die relative Zeitableitung zum Basissystem ,
wo dieses als konstant angenommen wird.
Bei einem Orthonormalsystem
kommt nur eine
Rotation des Bezugssystems in Frage, bei der sich die Zeitableitung der
Basisvektoren im dreidimensionalen Raum unserer Anschauung gemäß
aus dem Kreuzprodukt
mit der Winkelgeschwindigkeit
des Bezugssystems errechnet. Damit ergibt sich
und die vollständige Zeitableitung
Lokale und materielle Zeitableitung
Bei einem ausgedehnten Körper kann eine ihm zugeordnete Größe, beispielsweise
die Temperatur ,
bei ungleichmäßiger Verteilung vom Ort
oder vom betrachteten Partikel
des Körpers abhängen. Die Zeitableitung einer solchen Größe kann entsprechend
ausgewertet werden:
- bei festgehaltenem Raumpunkt (lokale Zeitableitung) oder
- bei festgehaltenem Teilchen (materielle oder substantielle Ableitung).
Weil sich die physikalischen Gesetze in der klassischen Mechanik auf materielle Punkte beziehen, ist dort die substantielle Zeitableitung bestimmend.
Die partielle Zeitableitung
ist die lokale Zeitableitung, d.h. die Änderungsrate, die an einem
festen Raumpunkt
zu beobachten ist. Beispielsweise misst ein Außenthermometer
die Temperatur am Ort seiner Anbringung.
Die materielle Zeitableitung ist die Zeitableitung bei festgehaltenem
Partikel .
Das Thermometer würde hier nur die Temperatur und deren Rate beim Partikel
messen.
In der Lagrange’schen Darstellung ist die materielle Zeitableitung die partielle Ableitung nach der Zeit:
In der Euler’schen Darstellung setzt sich die materielle Zeitableitung zusammen aus dem lokalen und einem zusätzlichen konvektiven Anteil:
mit
- dem Temperaturgradienten
- der Geschwindigkeit
des zur Zeit
am Ort
befindlichen Teilchens.
Siehe auch Totales_Differential
Objektive Zeitableitung
Ein Insasse eines fahrenden Zuges wird die Geschwindigkeit eines vorbei fliegenden Vogels anders beurteilen als ein in der Nähe befindlicher Fußgänger. Die Geschwindigkeit ist demnach vom Standpunkt abhängig, sie ist genauer nicht bezugssysteminvariant oder kürzer nicht objektiv.
Für die Formulierung eines Materialmodells, in dem die Raten konstitutiver Variablen auftreten, wie beispielsweise beim newtonschen Fluid, werden objektive Zeitableitungen dieser Variablen benötigt. Denn es entspricht nicht der Erfahrung, dass ein bewegter Beobachter ein anderes Materialverhalten misst als ein ruhender.
Für ein objektives räumliches Vektorfeld
ist beispielsweise die Zeitableitung
wieder objektiv; darin ist
der Geschwindigkeitsgradient.
Besonders elegante Formulierungen für objektive Zeitableitungen ergeben sich in konvektiven Koordinaten.
Verwendung
Physik
Zeitableitungen sind ein Schlüsselbegriff in der Physik, wo sie in vielen Grundgleichungen vorkommen, unter anderem:
- Die Kraft ist die Zeitableitung des Impulses,
- Die Leistung ist die Zeitableitung der Energie und
- der elektrische Strom ist die Zeitableitung der elektrischen Ladung.
Chemie
Die Theorie des Übergangszustandes ermöglicht die Bestimmung der absoluten Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten einer chemischen Reaktion. Diese Reaktionsrate kann dann in einer Ratengleichung verwendet werden, die eine Differentialgleichung erster Ordnung in der Zeit ist.
Biologie
Die Populationsdynamik ist die Veränderung der Größe biologischer Populationen in kürzeren oder längeren Zeiträumen. Die Zeitableitung der Populationsgröße ist die Differenz aus Geburtenrate und Sterberate, die wiederum von der Populationsgröße beeinflusst werden.
Wirtschaftswissenschaften
In der Wirtschaftswissenschaft beschreiben theoretische Modelle, zum Beispiel das Solow-Modell, das Verhalten ökonomischer Variablen über der Zeit. Dabei treten Zeitableitungen der ökonomischen Variablen auf:
- Zur Vorratsinvestition zählen die Vorratsveränderungen der Lagerbestände und Betriebsstoffe, also deren Zeitableitungen.
- Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes ist der Quotient aus dem nominalen Bruttoinlandsprodukt und der Geldmenge selbst.



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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 24.04. 2024