Freie Gruppe
In der Mathematik heißt eine Gruppe
frei, wenn sie eine Teilmenge
enthält, sodass jedes Gruppenelement auf genau eine Weise als (reduziertes) Wort
von Elementen in
und deren Inversen geschrieben werden kann. Hierbei ist die Reihenfolge der
Faktoren wichtig: Wenn man verlangt, dass alle Elemente der Gruppe kommutieren
sollen, dann erhält man das verwandte, aber sehr verschiedene Konzept der freien
abelschen Gruppe.
Freie Gruppen spielen in der Gruppentheorie eine universelle Rolle und erlauben, jede Gruppe durch Erzeuger und Relationen darzustellen. Sie treten auch in der algebraischen Topologie auf, zum Beispiel als Fundamentalgruppe von Graphen (siehe Satz von Nielsen-Schreier) oder von Flächen wie der punktierten Ebene.
Definition
Eine Gruppe
heißt frei über einer Teilmenge
,
wenn sich jedes Gruppenelement
auf genau eine Weise schreiben lässt als Produkt
mit Faktoren
,
wobei
für alle
,
und Exponenten
,
wobei
für alle
.
Unter den genannten Bedingungen nennt man
ein reduziertes Wort über
.
Demnach ist
frei über
,
wenn sich jedes Element von
eindeutig als reduziertes Wort über
schreiben lässt. Die Existenz einer solchen Schreibweise ist gleichbedeutend
damit, dass
ein Erzeugendensystem
von
ist. Die Eindeutigkeit ist gleichbedeutend damit, dass zwischen den Elementen
von
keine algebraischen Relationen bestehen (außer der in jeder Gruppe gültigen
Kürzungsrelation
)
oder dass das neutrale Element der Gruppe sich mit den Elementen aus
in reduzierter Form ausschließlich als deren leeres Produkt darstellen lässt.
Ist
frei über
,
so sagt man daher auch,
werde frei von
erzeugt. Man nennt dann
ein freies Erzeugendensystem oder auch Basis der Gruppe
.
Universelle Eigenschaft
Eine Gruppe
ist genau dann frei über einer Teilmenge
,
wenn sie folgende universelle
Eigenschaft hat: Ist
eine beliebige Abbildung
der Menge
in eine Gruppe
,
dann gibt es genau einen Gruppenhomomorphismus
,
der
fortsetzt, also
für alle
erfüllt.
Diese universelle Abbildungseigenschaft ist zu obiger Definition äquivalent. Jede der beiden Charakterisierungen kann also als Definition freier Gruppen verwendet werden, und in der Literatur finden sich beide Zugänge. Die jeweils andere Charakterisierung ist dann eine Folgerung.
Beispiele
Die Gruppe
der ganzen
Zahlen ist frei über
.
Die universelle Abbildungseigenschaft besagt hier: Zu jeder Gruppe
und jedem beliebigen Element
gibt es genau einen Gruppenhomomorphismus
mit
.
Dieser ist gegeben durch
für alle
.
Die zyklische Gruppe
der Ordnung
ist keine freie Gruppe. Diese wird von einem Element
der Ordnung
erzeugt, und die Relation
verhindert, dass
frei ist. Man kann sich
vorstellen als die Rotationsgruppe des regelmäßigen
-Ecks
in der Ebene, erzeugt von einer Rotation
um den Winkel
.
Jedes Element lässt sich dann schreiben als
mit
,
aber diese Schreibweise ist nicht eindeutig, denn
.
Das kartesische
Produkt
mit der komponentenweisen Addition ist eine freie abelsche
Gruppe über
,
aber keine freie Gruppe. Allgemein ist eine freie abelsche Gruppe über einer
Menge
mit mehr als einem Element keine freie Gruppe.
Sei
die Drehung des
um die x-Achse
um den Winkel
und
die Drehung des
um die y-Achse
um den Winkel
.
Dann ist die von
und
erzeugte Untergruppe der allgemeinen
linearen Gruppe
eine freie Gruppe über
.
Eine solche freie Drehgruppe über einem zweielementigen Erzeugendensystem tritt
im Beweis des Banach-Tarski-Paradoxons
auf.
Konstruktion
Zu jeder Menge
gibt es eine freie Gruppe
über
.
Diese kann wie folgt konstruiert werden.
Um zunächst zu jedem Element
auch ein Inverses
zu haben, betrachten wir die Menge
und definieren hierauf eine Involution
durch
.
Wir identifizieren hierbei
mit
vermöge der Abbildung
.
Sei
die Menge aller Wörter
über dem Alphabet
(vgl. Kleenesche
Hülle). Die Verkettung von Wörtern definiert hierauf eine Verknüpfung
.
Damit wird
zum freien Monoid über
.
Auf
betrachten wir die Äquivalenzrelation,
die durch die elementaren Umformungen
erzeugt wird. Zwei Wörter in
sind also genau dann äquivalent, wenn sie durch eine endliche Folge von Einfügen
oder Entfernen von Unterwörtern der Form
mit
ineinander übergehen. Die Menge
der Äquivalenzklassen
bezeichnen wir mit
.
Die Verknüpfung auf
induziert auf der Quotientenmenge
eine wohldefinierte Verknüpfung
.
Nach Konstruktion wird
damit zur freien Gruppe über
.
Die freie Gruppe über
ist in folgendem Sinne eindeutig: Sind
und
zwei freie Gruppen über
,
dann sind sie kanonisch isomorph,
das heißt, es gibt genau einen Gruppenisomorphismus
mit der Eigenschaft
für alle
.
Diese Eindeutigkeit erlaubt es, von der freien Gruppe über
zu sprechen.
Ist
die leere Menge, dann ist
die einelementige Gruppe, die nur aus dem neutralen
Element besteht.
Wortproblem
Das Wortproblem lässt sich in einer freien Gruppe
sehr einfach lösen. Zu jedem gegebenen Wort
in den freien Erzeugern
findet man wie folgt ein äquivalentes reduziertes Wort: man fasst
benachbarte gleiche Erzeuger zusammen, bis schließlich
für alle
,
und entfernt anschließend überflüssige Einträge um
für alle
sicherzustellen. Man gelangt somit zu einem reduzierten Wort, das dasselbe
Gruppenelement darstellt, und diese Darstellung ist nach Definition eindeutig.
Auf diese Weise lassen sich je zwei Elemente von
miteinander vergleichen und feststellen, ob sie gleich oder verschieden
sind.
Dieses Vergleichsverfahren setzt wesentlich voraus, dass zwischen den Erzeugern keine Relationen bestehen. Im Gegensatz hierzu ist in einer durch Erzeuger und Relationen gegebenen Gruppe das Wortproblem oft schwierig und im Allgemeinen algorithmisch nicht lösbar (Satz von Novikov und Boone).
Rang
Ist eine Gruppe
sowohl frei über
als auch frei über
,
dann haben die Mengen
und
dieselbe Mächtigkeit.
Diese heißt Rang der freien Gruppe
.
Nach obiger Konstruktion gibt es für jede Mächtigkeit
bis auf Isomorphie genau eine freie Gruppe vom Rang
.
Um zu beweisen, dass der Rang eindeutig bestimmt ist, kann man auf
verschiedene Arten vorgehen. Für eine freie Gruppe
über einer Menge
endlicher Mächtigkeit
gelingt dies besonders einfach: Aufgrund der universellen Abbildungseigenschaft
von
besteht die Menge
aller Gruppenhomomorphismen in die zyklische Gruppe
aus genau
Elementen. Damit ist
durch die Gruppe
eindeutig festgelegt.
Allgemein kann man die freie Gruppe
abelsch machen, und die so erhaltene Faktorgruppe
ist frei abelsch vom Rang
.
Dieser Rang entspricht der Dimension des Vektorraums
über einem Körper
(zum Beispiel
)
und ist damit eindeutig durch die Gruppe
festgelegt.
Basiswechsel und Automorphismen
Eine freie Gruppe
vom Rang
hat unendlich viele Basen. Jeder Automorphismus
bildet eine Basis
auf eine neue Basis
ab. Umgekehrt existiert zu je zwei solchen Basen
und
genau ein Automorphismus
mit
.
Das deutet bereits an, selbst wenn die freien Gruppen selbst recht leicht zu
verstehen sind, so sind doch ihre Automorphismengruppen hochgradig kompliziert
und interessant.
Untergruppen
Jede Untergruppe einer freien Gruppe ist frei, nach dem Satz von Nielsen-Schreier (benannt nach Jakob Nielsen und Otto Schreier).
Eine freie Gruppe vom Rang
hat offenbar zu jeder Mächtigkeit
eine Untergruppe des Rangs
.
Im Falle
existieren sogar Untergruppen von abzählbar
unendlichem Rang (Satz
von Nielsen-Schreier). Diese erstaunliche Eigenschaft steht in Gegensatz zu
freien abelschen Gruppen (wo der Rang einer Untergruppe höchstens so groß wie
der Rang der ganzen Gruppe ist) oder Vektorräumen über einem Körper (wo die
Dimension eines Unterraums nie größer als die Dimension des ganzen Raums
ist).
Weitere Eigenschaften
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Die Eigenschaften freier Gruppen im nicht-abelschen Fall (für Rang )
unterscheiden sich stark vom abelschen Fall (für Rang
oder
).
Letztere sind gewissermaßen zwei Ausnahmen vom generischen Fall:
- Die freie Gruppe vom Rang
ist die triviale Gruppe, die nur aus dem neutralen Element besteht.
- Die freie Gruppe vom Rang
ist die unendlich zyklische Gruppe
und damit abelsch.
- Eine freie Gruppe vom Rang
ist nicht abelsch und ihr Zentrum besteht nur aus dem neutralen Element.
Die Abelschmachung der freien Gruppe vom Rang
ist die freie abelsche Gruppe vom Rang
,
isomorph zu
.
Ist
eine freie Gruppe vom Rang
,
dann ist die Kommutator-Untergruppe
frei von abzählbar unendlichem Rang. Im einfachsten Fall, für die freie Gruppe
über den Erzeugern
,
wird
frei erzeugt von den Kommutatoren
mit
.
Jede freie Gruppe ist torsionsfrei, das heißt, sie enthält keine nicht-trivialen Elemente endlicher Ordnung.
Der Cayley-Graph
einer freien Gruppe
ist ein Baum,
und
operiert hierauf frei
und orientierungstreu. Umgekehrt gilt: Operiert eine Gruppe
frei und orientierungstreu auf einem Baum, dann ist
eine freie Gruppe.
Ist
eine freie Gruppe vom Rang
,
dann hat jedes Erzeugendensystem
mindestens
Elemente. Hat ein Erzeugendensystem
genau
Elemente, dann ist es frei.
Anwendungen
Gruppentheorie
Freie Gruppen dienen in der Gruppentheorie dazu, eine gegebene Gruppe
durch Erzeuger und Relationen darzustellen. Sei hierzu
ein Erzeugendensystem der Gruppe
.
(Zum Beispiel kann man immer
nehmen. Meist wählt man
jedoch möglichst klein. Wenn
als endliche Menge gewählt werden kann, dann nennt man
eine endlich erzeugte Gruppe.) Der Gruppenhomomorphismus
,
der die Abbildung
auf
fortsetzt, ist dann surjektiv. Der Kern
beschreibt die algebraischen Relationen, die zwischen den Erzeugern aus
in
gelten. Die Faktorgruppe
ist dann zur vorgegebenen Gruppe
isomorph.
Algebraische Topologie
Freie Gruppen treten auch in der algebraischen Topologie auf, zum Beispiel als Fundamentalgruppen von Graphen oder Flächen wie der punktierten Ebene:
- Die Fundamentalgruppe jedes zusammenhängenden Graphen ist frei. Diese Tatsache kann zu einem topologischen Beweis des Satzes von Nielsen-Schreier benutzt werden.
- Die Fundamentalgruppe der
-fach punktierten Ebene
ist eine freie Gruppe vom Rang
. Eine Basis
kann hierbei geometrisch angegeben werden durch Homotopieklassen von Wegen, wobei
einmal um den Punkt
läuft. (Der Raum
ist homotopieäquivalent zu einem Graphen, siehe das vorhergehende Beispiel.)
- Ebenso ist die Fundamentalgruppe einer berandeten kompakten Fläche vom
Geschlecht
mit
Randkompenenten frei, und zwar vom Rang
. (Für unberandete Flächen vom Geschlecht
besteht allerdings eine Relation und die Fundamentalgruppe ist nicht frei.)
Logik erster Stufe und Tarskis Fragen
Um 1945 stellte der Logiker Alfred Tarski zwei Fragen, die im Laufe der Jahre berühmt wurden und für ihre Schwierigkeit berüchtigt sind:
- Haben alle freien Gruppen vom Rang
dieselbe elementare Theorie? Das heißt, stimmen für diese Gruppen alle Sätze überein, die sich in der Logik erster Stufe formulieren lassen?
- Sind diese elementaren Theorien entscheidbar?
Beide Fragen wurden im Jahr 2006 gelöst: Zlil Sela hat gezeigt, dass alle freien Gruppen vom Rang
dieselbe elementare Theorie haben
und Olga Kharlampovich und Alexei Myasnikov konnten zudem zeigen, dass diese Theorie entscheidbar ist.
Geschichte
Bereits 1882 wies Walther von Dyck darauf hin, dass freie Gruppen die einfachst möglichen Präsentationen besitzen, nämlich solche ohne jede Relation. Die systematische Untersuchung freier Gruppen wurde jedoch erst in den 1920er Jahren von Jakob Nielsen begonnen, der freien Gruppen ihren heutigen Namen gab und viele ihrer grundlegenden Eigenschaften bewies, insbesondere den Satz von Nielsen-Schreier. Otto Schreier bewies diesen Satz in voller Allgemeinheit im Jahre 1927. Max Dehn erkannte die Beziehungen zur algebraischen Topologie und gab als erster einen topologischen Beweis des Satzes von Nielsen-Schreier. Kurt Reidemeister stellte diese Entwicklung 1932 in seinem Lehrbuch über kombinatorische Topologie dar. In den 1930er Jahren entwickelte dann Wilhelm Magnus die Beziehung zwischen der absteigenden Zentralreihe freier Gruppen und freier Lie-Algebren.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 29.08. 2021