Molekülorbitaltheorie

Die Molekülorbitaltheorie (kurz MO-Theorie) ist neben der Valenzstrukturtheorie (VB-Theorie) eine von zwei komplementären Möglichkeiten, die Elektronenstruktur von Molekülen zu beschreiben. Beim MO-Verfahren werden die Atomorbitale aller Atome vermischt und spalten sich dabei in bindende und antibindende, über das Molekül delokalisierte Molekülorbitale auf. Das Verfahren wurde (etwas später als das VB-Verfahren) von Friedrich Hund und Robert S. Mulliken entwickelt und wird heute für die meisten quantenchemischen Rechnungen verwendet.

Physikalische Erklärung

Eine n-Elektronen-Wellenfunktion hat, wenn der Spin nicht beachtet wird, die allgemeine Form \Psi(\vec r_1, \ldots \vec r_n). Das Produkt mit der komplex konjugierten Funktion \Psi^{*} (\vec r_1, \ldots \vec r_n) \cdot \Psi(\vec r_1, \ldots \vec r_n) ist reell und gibt die Wahrscheinlichkeitsdichte wieder, das erste Elektron an der Stelle \vec r_1, das 2-te an der Stelle \vec r_2 usw. zu finden.

Die exakte Wellenfunktion lässt sich analytisch nicht finden. Eine zielführende Vereinfachung ist es, die Elektronen als stochastisch unabhängig anzusehen. Mathematisch bedeutet das, einen Produktansatz zu verwenden \Psi(\vec r_1, \ldots\vec r_n)= \prod_{i=1}^n \Psi_i(\vec r_i). Dieser Ansatz ist auch als Hartree-Produkt bekannt. Die \Psi_i( \vec r_i) geben die Aufenthaltsbereiche für die einzelnen Elektronen an. Sie werden als Molekülorbitale bezeichnet. Um das Pauli-Prinzip einzuhalten, wird die Wellenfunktion als Slater-Determinante (einer Summe von n Produkten) angesetzt. Dann sind die Elektronen ununterscheidbar und wechseln zwischen allen Orbitalen. Dabei ist gewährleistet, dass die Wellenfunktion antisymmetrisch unter Vertauschung zweier Elektronen ist, wie es für Fermionen gelten muss.

Abgesehen davon, dass MO-Schemata im Allgemeinen nicht die wahre Situation wiedergeben können, ist zu beachten, dass sie in der MO-Theorie nicht eindeutig bestimmt sind. Entscheidend ist nur die Summe über alle quadrierten Orbitale, die Elektronendichte (das ist auch die Grundlage für die Dichtefunktionaltheorie). Mathematisch gesprochen ist die Wellenfunktion gegenüber einer unitären Lineartransformation invariant. Ein Beispiel dazu sind die beiden angegebenen Modelle zur Beschreibung der Doppelbindung.

Mathematische Grundlagen

Gesucht werden Lösungen der Schrödingergleichung eines Moleküls. Die Rechnungen sind aber wesentlich schwieriger auszuführen als bei einem isolierten Atom. Im Normalfall, wenn mehr als ein Elektron betrachtet wird, gibt es im Sinne eines Dreikörperproblems keine analytisch angebbaren exakten Lösungen. Daher müssen Näherungsmethoden herangezogen werden. Dafür eignen sich das VB- und das MO-Verfahren, die zu ähnlichen Ergebnissen führen.

Wichtig ist die Born-Oppenheimer-Näherung, nach der die Elektronen- und Kernbewegung isoliert betrachtet werden können, weil sich die Elektronen im Vergleich zum Kern viel schneller bewegen. Somit können Elektronenverteilung und Schwingung getrennt behandelt werden.

Zur näherungsweisen Bestimmung der Molekülorbitale dient das Rayleigh-Ritz-Prinzip. Das besagt, dass, wenn man mit einer beliebigen Funktion den Erwartungswert des Hamiltonoperators bildet, der Erwartungswert größer gleich dem Erwartungswert der Eigenfunktion des Hamiltonoperators mit dem geringsten Eigenwert ist. Man muss also in einer Extremwertaufgabe die Funktion mit dem tiefsten Energieerwartungswert auswählen. Diese ist dann wahrscheinlich die beste Näherung.

Einfach einen vollständigen Satz von Basisfunktionen auszuwählen, den Erwartungswert für eine allgemeine lineare Kombination dieser zu bilden und anschließend den Erwartungswert zu minimieren ist eine zu komplizierte Aufgabe. Man reduziert zur Vereinfachung des Problems das nach Born-Oppenheimer-Näherung erhaltene Mehrelektronenproblem auf ein Einelektronenproblem. Eine Möglichkeit hierfür ist die Hartree-Fock-Self-Consistent-Field-Methode, die, da es sich um ein nichtlineares Problem handelt, iterativ gelöst werden muss. Die Lösungen dieser Gleichung sind Einelektronenwellenfunktionen, sogenannte Orbitale. Das Prinzip ist, dass auf jedes Elektron das gemittelte Potential aller anderen Elektronen wirkt. Die anderen Elektronen wiederum befinden sich in den Orbitalen, die die Hartree-Fock-Gleichung beschreibt, weshalb man die Methode auch Self-Consistent-Field-Methode nennt.

MO-Verfahren

Das MO-Verfahren (von engl. molecular orbital) nach Friedrich Hund und Robert Sanderson Mulliken ordnet alle Elektronen des Moleküls einem Satz Molekülorbitalen zu. Die Veranschaulichung erfolgt durch Elektronenwolken, die meist über das gesamte Molekül delokalisiert sind.

Molekülorbitale können als Linearkombinationen zu einer endlichen Basis angesetzt werden. Dann werden in einem erweiterten Eigenwertproblem die Molekülorbitale bestimmt. Als Basis können, wie von Lennard-Jones vorgeschlagen, die Atomorbitale der isolierten Atome im Sinne der LCAO-Näherung (von engl. Linear Combination of Atomic Orbitals) verwendet werden.

Grundsätzlich könnten beliebige Funktionen als Basis herangezogen werden. Gute Lösungen mit wenig Rechenaufwand werden erhalten, wenn physikalisch sinnvolle Funktionen verwendet werden. Dafür eignen sich, wie Lennard-Jones als erster feststellte, die Atomorbitale, die in isolierten Atomen die Elektronen richtig beschreiben. Man spricht dann von LCAO. Zur Verbesserung können auch die Atomorbitale variiert oder weitere Funktionen in den Basissatz eingeschlossen werden.

Das MO-Verfahren kann bei kleinen symmetrischen Molekülen intuitiv verstanden werden. Aus Symmetriegründen ergeben sich die Molekülorbitale aus Addition bzw. Subtraktion der Atomorbitale. Bei komplizierteren Molekülen setzen sich die Molekülorbitale als Linearkombination von verschiedenen Atomorbitalen zusammen. Genau genommen wechselwirken auch schon in der zweiten Periode die 2s und 2pz-Orbitale, sodass auch schon dort kompliziertere Linearkombinationen erhalten würden. Bei konjugierten π-Systemen stellt die Hückel-Näherung eine Methode zur groben Bestimmung von MOs dar.

Ein grundsätzlicher Fehler dieser Methode ist, dass die Elektronen (bis auf Einhaltung des Pauli-Prinzips) als statistisch unabhängig voneinander gesehen werden. Viel aufwändigere korrelierte Rechnungen, v.a. CI (engl. für configuration interaction), beachten auch die Elektronen-Korrelation.

Zeichnen von LCAO-MO-Diagrammen

Qualitative LCAO-MO-Diagramme können auch ohne Rechnung gezeichnet werden. Zu beachten ist, dass bei der Linearkombination zweier AOs ein bindendes MO mit tieferer Energie als das tieferliegende AO und ein antibindendes MO mit höherliegender Energie als das höherliegende AO gebildet werden. Die Aufspaltung wird in erster Näherung von der Überlappung bestimmt. So kann man z.B. vorhersagen, dass eine σ-Bindung stärker aufspaltet als eine π-Bindung.

σ-Bindung

σ-Bindung
Molekülorbital von H2
Molekülorbital von H2
Molecular orbitals sq.svg
s-q-MO
Molecular orbital of hydrogen fluoride
s-p-MO
Molecular orbital of acetylene
q-q-MO

Als σ-Bindung wird eine Bindung bezeichnet, die rotationssymmetrisch zur Bindungsachse ist. Anders ausgedrückt werden Orbitale mit der magnetischen Quantenzahl ml = 0 kombiniert, d.h. s-, p-, dz2-Orbitale und Mischungen (Hybride) aus diesen. Hybridorbitale werden für gewöhnlich unabhängig von der Hybridisierung als q-Orbitale bezeichnet.

Beispiele:


Das Molekülorbital der Doppelbindung

Es ist spiegelsymmetrisch bezüglich der Bindungsachse.

σ-π-Modell

Molekülorbital der π-Bindung im Ethen

Eine Doppelbindung besteht aus einer σ-Bindung und aus einer π-Bindung, wobei die Bindungspartner im sp2-hybridisierten Zustand vorliegen: drei Hybridorbitale weisen in die Ecken eines gleichseitigen Dreiecks, senkrecht dazu steht das pz-Orbital, das nicht für die Hybridisierung verwendet wurde. Die σ-Bindung entsteht durch Überlappung zweier Hybridorbitale, die π-Bindung entsteht durch Überlappung der zwei pz-Orbitale. Da beide pz-Orbitale parallel zueinander stehen müssen, entsteht ein neues Molekülorbital mit einer Knotenebene. Das π-Molekülorbital wird durch Kombination von Orbitalen mit |ml| = 1 gebildet. Es enthält eine Knotenebene in der Kernachse.

Beispiel Ethen: Die beiden Hälften des π-Molekülorbitals liegen ober- und unterhalb der Ebene der σ-Bindungen (blau, die C-C- und H-C-Sigma-Bindungen sind nur als schwarze Linien dargestellt).

Beispiel Ethin: Die Bindungssituation im Ethin (Trivialname Acetylen), das eine Dreifachbindung enthält, setzt sich aus einer \sigma-Bindung, die zwischen der Kernverbindungsachse lokalisiert ist, und zwei \pi-Bindungen zusammen.

τ-Modell

τ-Modell
Molekülorbitale nach dem τ-Modell
Molekülorbitale nach dem τ-Modell

Eine selten angewandte Methode zur Beschreibung von Doppelbindungen ist das τ-Modell. s- und p-Orbitale werden zuerst gemischt (beide C-Atome sind sp³-hybridisiert) und aus den beiden Hybridorbitalen die Doppelbindung zusammengesetzt. Die τ-Bindungen entstehen durch Überlappung von jeweils zwei Hybridorbitalen, es bilden sich zwei spiegelbildliche Molekülorbitale („Bananen-Bindungen“). Es zeigt sich, dass das τ-Modell Bindungswinkel und -längen passend wiedergibt.

Die Unterscheidung ist nur in der VB-Theorie sinnvoll. Bei einer LCAO-Methode gehen die beiden Modelle ineinander über, da in beiden Fällen in der Summe die gleiche Elektronendichte erhalten wird. Diese ist das einzig relevante.

Delokalisation

Konjugierte π-Bindung
Delokalisiertes Molekülorbital bei 1,3-Butadien
Delokalisiertes Molekülorbital bei 1,3-Butadien

Delokalisation tritt dann auf, wenn ein Molekül mehrere Doppelbindungen enthält, die konjugiert sind. Das heißt, dass zwischen ihnen immer genau eine Einfachbindung ist. Dazu müssen alle pz-Orbitale zueinander parallel und in direkter Nachbarschaft stehen. Dann können alle pz-Orbitale zu einem einzigen Molekülorbital kombiniert werden, was quantenmechanisch bewiesen werden kann.

Beispiele in chemischen Verbindungen

Wasserstoff

Wasserstoff
bindend antibindend
Additive Überlagerung der Wellenfunktion
Additive Überlagerung der Wellenfunktion,
wobei a und b die Positionen der Protonen sind
Subtraktive Überlagerung der Wellenfunktion
Subtraktive Überlagerung der Wellenfunktion
Bindendes Molekülorbital
Bindendes Molekülorbital
Antibindendes Molekülorbital
Antibindendes Molekülorbital
Besetzung der Molekülorbitale von Wasserstoff und Helium
Wasserstoff Helium
Besetzung beim Wasserstoff
Besetzung beim Wasserstoff
Besetzung beim Helium
Besetzung beim Helium

Die zur Bindung notwendigen vereinzelten Elektronen befinden sich jeweils im 1s-Orbital der beiden Atome Ha und Hb, das durch die Eigenfunktionen ψa(1s) und Ψb(1s) beschrieben wird.

Die Addition der Wellenfunktionen ψa(1s) + ψb(1s) ergibt ein rotationssymmetrisches bindendes Molekülorbital ( σ(1s) ) mit erhöhter Ladungsdichte zwischen den Kernen der Bindungspartner. Durch die Anziehung der Kerne durch die Ladung hält das Molekül zusammen.

Die Subtraktion der Wellenfunktionen ψa(1s) − ψb(1s) ergibt ein antibindendes Molekülorbital ( σ*(1s) ) mit einer Knotenebene zwischen den Kernen der Bindungspartner. Durch die resultierende geringe Elektronendichte zwischen den Kernen kommt es zu einer Abstoßung der Atome.

Die Molekülorbitale können (wie die Atomorbitale) mit maximal zwei Elektronen entgegengesetzten Spins besetzt werden. Da jedes Wasserstoffatom jeweils ein Elektron zur Verfügung stellt, wird das bindende Molekülorbital im energieärmsten Grundzustand mit einem Elektronenpaar besetzt, während das antibindende leer bleibt. (Im angeregten Zustand ist das bindende und das antibindende Molekülorbital mit je einem Elektron besetzt.)

Ein anderes Beispiel ist Helium. Hier ist jedes 1s-Orbital bereits mit einem Elektronenpaar besetzt. Bei der Kombination dieser Atomorbitale müsste sowohl das bindende als auch das antibindende Molekülorbital mit je einem Elektronenpaar besetzt werden. Ihre Wirkungen würden sich gegenseitig aufheben, es kommt keine Bindung zustande.

Sauerstoff

LCAO-MO-Schema von Triplett-Sauerstoff: Besetzung der Energieniveaus

Das LCAO-MO-Schema kann wie oben beschrieben qualitativ abgeleitet werden. Jedes Sauerstoff-Atom hat im Grundzustand sechs Valenzelektronen auf dem zweiten Hauptenergieniveau. Die zwölf Valenzelektronen eines O2-Sauerstoffmoleküls werden auf die vier bindenden (σs, σx, πy und πz) und drei der vier antibindenden Molekülorbitale (σs*, πy*, πz*) verteilt. Da zwei antibindende Orbitale mit nur einem Elektron besetzt sind (eine „halbe Bindung“), resultiert eine Doppelbindung.

Di-Sauerstoff hat im Grundzustand, einem Triplettzustand, gemäß der Hund’schen Regel zwei ungepaarte Elektronen parallelen Spins. Durch diese Elektronenverteilung lässt sich der Paramagnetismus und der diradikalische Charakter des Sauerstoffs erklären. Interessanterweise senkt der Diradikalcharakter die Reaktionsfähigkeit, da eine konzertierte Reaktion der Spinerhaltung widersprechen würde. Besonders reaktionsfähig ist der angeregte Singulett-Sauerstoff.

Eine weitere Folge der MO-Besetzung ist, dass es für O2 schwierig ist, eine korrekte Lewis-Formel anzugeben. Entweder wird der Diradikalcharakter vernachlässigt oder die Doppelbindung.

1,3-Butadien

π-System des Butadiens

Das π-System des Butadiens setzt sich zusammen aus 4 pz-Orbitalen, die am Anfang mit je einem Elektron besetzt sind. Diese 4 Atomorbitale werden nun zu vier Molekülorbitalen linear kombiniert. Die Koeffizienten erhält man durch variationelle Minimierung der Energie mit dem Rayleigh-Ritz-Prinzip z.B. mit der Hückel- oder der Hartree-Fock-Methode, oder durch symmetrieadaptierte Linearkombination (SALK). Dabei entstehen die rechts gezeichneten Orbitale. Die rot/blaue Färbung gibt an, ob das Orbital vor dem Quadrieren ein negatives oder positives Vorzeichen hatte. Physikalisch hat sie keine Relevanz.

Jedes dieser Orbitale kann mit 2 Elektronen besetzt werden. Es werden also die beiden unteren Orbitale voll aufgefüllt und die beiden oberen bleiben leer. Energetisch besonders günstig ist das Orbital, bei dem die Koeffizienten der pz-Orbitale das gleiche Vorzeichen haben und sich daher die Elektronen fast frei über das ganze Molekül bewegen können.

Man erkennt die von SALK geforderte Eigenschaft, dass in jedem Molekülorbital alle Symmetrieelemente des Moleküls erhalten bleiben. Weiterhin sieht man, wie mit zunehmender Energie die Anzahl an Knotenebenen steigt.

Bindungsordnung

Die Bindungsordnung bezeichnet die Zahl der effektiven Bindungen zwischen zwei Atomen. Sie ist die Hälfte der Differenz der Zahl der bindenden und der antibindenden Valenzelektronen. Wenn keine Mesomerie auftritt, d.h. nur in einfachen Fällen, ist sie gleich der Anzahl der Bindungsstriche der Lewis-Schreibweise der Verbindung.

Siehe auch

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Basierend auf einem Artikel in: Wikipedia.de
 
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Datum der letzten Änderung:  Jena, den: 16.04. 2019