Fehlerfortpflanzung
Bei vielen Messaufgaben ist eine Größe nicht direkt messbar, sondern sie ist indirekt aus mehreren messbaren Größen nach einer festgelegten mathematischen Beziehung zu bestimmen. Da jeder Messwert der einzelnen Größen von seinem richtigen Wert abweicht (siehe Messabweichung, älterer Begriff Messfehler), wird auch das Ergebnis der Rechnung von seinem richtigen Wert abweichen. Die einzelnen Abweichungen werden mit der Formel übertragen. Dieses wird Fehlerfortpflanzung genannt. Für diese existieren Rechenregeln, mit denen die Abweichung des Ergebnisses bestimmt oder abgeschätzt werden kann.
Seit der Unterscheidung zwischen Messabweichung und Messfehler ist der Begriff Fehlerfortpflanzung als überholt anzusehen. Da sich noch kein neuer Begriff etabliert hat, wird zur sprachlichen Einheitlichkeit hier noch der Begriff Fehler beibehalten.
Aufgabe
- Häufig soll ein Ergebnis
aus einer Größe
oder im allgemeinen Fall aus mehreren Größen
,
,
berechnet werden. Mit einer fehlerbehafteter Bestimmung der Eingangsgröße(n) wird auch die Ergebnisgröße falsch berechnet. Nach groben Fehlern muss neu gerechnet werden. Sonst ist es eher angebracht, nur die Auswirkung des Fehlers oder der Fehler auf das Ergebnis zu bestimmen.
- Mathematisch gesagt: Hat eine Funktion
mit mehreren unabhängigen Variablen
, die um ein kleines
falsch sind, so wird auch das Ergebnis
falsch um ein kleines
. Dieses
soll berechnet werden können.
- Messtechnisch gesagt: Ist ein Messergebnis aus Messwerten verschiedener Größen auszurechnen, wobei diese Messwerte von ihren richtigen Werten abweichen, so wird ein Ergebnis berechnet, das entsprechend auch vom richtigen Ergebnis abweicht. Die Größe der Abweichung des Messergebnisses soll ausgerechnet werden können (im Rahmen des quantitativ Sinnvollen, siehe Fehlergrenze).
Möglichkeiten, Einschränkungen
Systematischer Fehler
Systematische Fehler sind im Prinzip bestimmbar, sie haben einen Betrag und ein Vorzeichen.
- Beispiel: Die in einem Verbraucher umgesetzte elektrische Leistung soll berechnet und dazu die Stromstärke durch den Verbraucher gemessen werden. Dazu wird ein Strommesser in die Leitung geschaltet. An dem Messgerät fällt aber eine Spannung ab; dadurch wird die Spannung am Verbraucher kleiner als die Speisespannung; dadurch wird bei einem ohmschen Verbraucher die Stromstärke auch kleiner; es wird etwas zu wenig gemessen (negative Rückwirkungsabweichung, die sich bei bekannter Speisespannung und bei bekanntem Messgeräte-Innenwiderstand ausrechnen lässt). Die aus Speisespannung und gemessener Stromstärke berechnete Leistung wird damit auch zu niedrig angegeben.
Bei systematischen Fehlern der Eingangsgrößen lässt sich mittels der Fehlerfortpflanzungs-Regeln der systematische Fehler der Ausgangsgröße berechnen.
Messgerätefehler
Ferner kann nicht davon ausgegangen werden, dass die vom Messgerät erfasste Größe ohne Messgerätefehler angezeigt wird. In seltenen Fällen ist anhand einer Fehlerkurve zu dem Messwert der zugehörige systematische Fehler bekannt. Im Allgemeinen ist von einem Messgerätefehler nur dessen Grenzwert, die Fehlergrenze bekannt.
- Beispiel: Kann die Stromstärke im obigen Beispiel nur mit einer Fehlergrenze von 4 % bestimmt werden, kann die Fehlergrenze der Leistung nicht niedriger sein.
Bei Fehlergrenzen der Eingangsgrößen lässt sich mittels der Fehlerfortpflanzungs-Regeln die Fehlergrenze der Ausgangsgröße berechnen.
Zufälliger Fehler
Soweit bisher behandelt, gibt es mehrere Eingangsgrößen (unabhängige Variable, Messgrößen) und davon jeweils nur einen Wert. Anders ist es bei zufälligen Fehlern, die erkannt werden, wenn von einer Eingangsgröße mehrere Werte vorliegen – gewonnen durch wiederholte Bestimmung (Messung) unter konstanten Bedingungen. Die Abschätzung zufälliger Fehler führt auf eine Komponente der Messunsicherheit. Ihre Bestimmung ist ein Ziel der Fehlerrechnung.
Bei Unsicherheiten der Eingangsgrößen lässt sich mittels der Fehlerfortpflanzungs-Regeln die Unsicherheit der Ausgangsgröße berechnen.
Bei Messgerätefehlern kann gemäß davon ausgegangen werden, dass der Betrag des zufälligen Fehlers wesentlich kleiner ist als die Fehlergrenze (anderenfalls ist auch der zufällige Fehler bei der Festlegung der Fehlergrenze zu berücksichtigen). Bei voneinander unabhängigen Messwerten, deren Qualität von den Fehlergrenzen der Messgeräte bestimmt wird, ist die Untersuchung zufälliger Fehler dann aber nicht sinnvoll.
Fehler des mathematischen Modells
Die zu berechnende Größe muss durch die mathematische Formel korrekt beschrieben werden. Um leichter rechnen zu können oder mangels vollständiger Kenntnis wird aber oft auf Näherungen ausgewichen.
- Beispiel: Die Speisespannung im obigen Beispiel wird als bekannt angenommen, wie das bei Bezug aus einer Konstantspannungsquelle zulässig ist. Falls die Quelle aber belastungsabhängig ist, ist ihre Kenngröße „Leerlaufspannung“ nicht mehr die Speisespannung; es entsteht ein weiterer Fehler.
Ein Fehler der Ausgangsgröße, welcher aufgrund eines unzureichenden mathematischen Modells für den Zusammenhang mit den Eingangsgrößen entsteht, lässt sich mit Fehlerfortpflanzungs-Regeln nicht berechnen.
Regeln zur Fehlerfortpflanzung
Fehler
Eine fehlerbehaftete Größe
Der Einfluss einer fehlerbehafteten Eingangsgröße
auf das Ergebnis
kann mittels der Taylorreihe
abgeschätzt werden:
Bei genügend kleinem
kann die Reihenentwicklung nach dem linearen Glied abgebrochen werden, weil
Glieder mit
und noch höheren Potenzen erst recht klein werden. Damit ergibt sich die
Näherungslösung
Dieses liefert eine Regel zur Fehlerfortpflanzung, wenn die -Werte
als absolute
Fehler angesehen werden.
- Anwendung bei Proportionalität
- Für die Ausgangsgröße
enthält deren absoluter Fehler
die spezielle Proportionalitätskonstante
. Besser wird mit dem relativen Fehler
gerechnet, der unabhängig von
ist und stets genauso groß wie der relative Fehler
der Eingangsgröße
.
- Anwendung bei umgekehrter Proportionalität (Kehrwertbildung)
- Der relative Fehler der Ausgangsgröße hat denselben Betrag wie der relative Fehler der Eingangsgröße, aber entgegengesetztes Vorzeichen.
Mehrere fehlerbehaftete Größen
Bei mehreren voneinander unabhängigen Eingangsgrößen wird die entsprechende
Reihenentwicklung
verwendet, ebenfalls bis zum linearen Glied als Näherungslösung für
kleine :
-
-
:
Gesamtfehler des Ergebnisses
:
Fehler der Eingangsgröße
:
relativer Fehler der Eingangsgröße
:
relativer Fehler des Ergebnisses
-
Die allgemeine Lösung vereinfacht sich für die vier Grundrechenarten:
* Bei Addition | ||
* Bei Subtraktion | ||
* Bei Multiplikation | ||
* Bei Division |
- Hinweis: Dabei sind Angaben mit ungewissem Vorzeichen (±) keine Angaben von Fehlern; der Unterschied zwischen Fehler und Fehlergrenze ist zu beachten. Bei Fehlergrenzen und Messunsicherheiten gelten andere Sachverhalte, siehe dazu die nächsten Abschnitte.
Die Formeln gelten nur, wenn die tatsächlichen Werte der Fehler mit Vorzeichen bekannt sind. Bei Fehlerfortpflanzung können sich die Fehler mehr oder weniger ergänzen oder aufheben.
- Beispiel: Wenn
um 2 % zu groß und
um 3 % zu groß sind:
- Dann wird bei der Multiplikation
um 5 % zu groß.
- Dann wird bei der Division
um 1 % zu klein.
- Dann wird bei der Multiplikation
- Zur Verdeutlichung eine Primitiv-Anwendung: Wer
ausrechnen will, aber im Zähler eine um 2 % zu große Zahl einsetzt und im Nenner eine um 3 % zu große Zahl, berechnet
und erhält 0,99. Dieses Ergebnis weicht vom richtigen Wert 1,00 um –1 % ab. Diese Feststellung zum Fehler lässt sich mit der Formel
einfacher bekommen. Und das Minuszeichen vor
ist offensichtlich richtig!
Fehlergrenzen
Sind nicht die Fehler selber bekannt, sondern nur ihre Grenzen, so lässt sich
derselbe mathematische Ansatz verwenden, wenn die -Werte
als Fehlergrenzen angesehen werden. Diese sind vorzeichenlos, also als Betrag
definiert. Für das Ergebnis lässt sich so auch nur die Fehlergrenze ausrechnen;
dazu ist mit der ungünstigsten Vorzeichenkombination zu rechnen, indem
Beträge addiert werden.
-
-
:
Gesamtfehlergrenze des Ergebnisses
:
Fehlergrenze der Eingangsgröße
:
relative Fehlergrenze der Eingangsgröße
:
relative Fehlergrenze des Ergebnisses
-
Die allgemeine Lösung vereinfacht sich bei den vier Grundrechenarten:
* Bei Addition und Subtraktion | |
* Bei Multiplikation und Division |
- Beispiel: Wenn
um bis 2 % zu groß oder zu klein und
um bis 3 % zu groß oder zu klein sein können:
- Dann kann bei der Multiplikation wie bei der Division
um bis 5 % zu groß oder zu klein sein.
- Dann kann bei der Multiplikation wie bei der Division
Messunsicherheiten
Eine fehlerbehaftete Größe
Gibt es von der Größe
mehrere mit zufälligen Fehlern behaftete Werte
mit
,
so ergibt sich nach den Regeln der Fehlerrechnung
für Normalverteilung
gegenüber dem Einzelwert eine verbesserte Aussage durch Bildung des arithmetischen
Mittelwertes
:
Jeder neu hinzukommende Wert verändert mit seinem individuellen zufälligen
Fehler den Mittelwert und macht ihn somit unsicher. Die Unsicherheit ,
die dem berechneten Mittelwert anhaftet, ist gegeben durch:
Anschaulich sind hier näherungsweise die quadrierten zufälligen Fehler
addiert worden. Für große
strebt die Unsicherheit gegen null, und bei Abwesenheit systematischer Fehler
strebt der Mittelwert gegen den richtigen Wert.
Wird in einer Rechnung zur Fehlerfortpflanzung als Eingangsgröße
der Mittelwert
verwendet, so wirkt sich dessen Unsicherheit
auf die Unsicherheit
des Ergebnisses
aus. Bei genügend kleinem
kann dieser Wert für die Fehlerfortpflanzung als
in die lineare Näherung der Taylorreihe eingesetzt werden. Dabei ist zu
beachten, dass Unsicherheiten als Beträge definiert sind:
Mehrere fehlerbehaftete Größen
Voneinander unabhängige fehlerbehaftete Größen
Bei mehreren voneinander unabhängigen Eingangsgrößen
seien die Mittelwerte jeweils mit einer Unsicherheit
bestimmt worden. Das Ergebnis
wird aus den Mittelwerten berechnet. Zur Berechnung seiner Unsicherheit
wird wieder mit der linearen Näherung bei mehreren unabhängigen Variablen
begonnen; allerdings müssen – wie bei der Berechnung der
Unsicherheit – die quadrierten Beiträge der Einzel-Unsicherheiten
addiert werden.
Diese Gleichung „wurde früher „Gauß’sches Fehlerfortpflanzungsgesetz“ genannt“. „Sie betrifft jedoch nicht die Fortpflanzung von Messabweichungen (früher „Fehler“), sondern die von Unsicherheiten.“
Die Gleichung vereinfacht sich für die vier Grundrechenarten:
* Bei Addition und Subtraktion | ||
* Bei Multiplikation und Division |
Das Gesetz ist nur anwendbar, wenn sich die Modellfunktion
bei Änderungen der Einflussgrößen
im Bereich ihrer Standardunsicherheiten
hinreichend linear verhält. Ist dies nicht der Fall, ist das Rechenverfahren
erheblich aufwändiger. Die Norm DIN 1319
und der „Leitfaden zur Angabe der
Unsicherheit beim Messen“ geben Hinweise, wie eine unzulässige
Nichtlinearität zu erkennen und zu umgehen ist. Außerdem ist Varianzhomogenität
vorausgesetzt.
Voneinander abhängige fehlerbehaftete Größen
Bei einer Abhängigkeit (Korrelation)
zwischen
fehlerbehafteten Größen muss das Gauß’sche Fehlerfortpflanzungsgesetz unter
Einbeziehung der Kovarianzen
oder der Korrelationskoeffizienten
zwischen jeweils zwei Größen zum verallgemeinerten (generalisierten)
Gauß’schen Fehlerfortpflanzungsgesetz erweitert werden:
mit der Kovarianz .
Für unabhängige Größen fallen die Korrelationsterme weg und es ergibt sich die
Formel aus dem Abschnitt für unabhängige Größen. Die relative Unsicherheit einer
Größe, die sich aus zwei vollkommen korrelierten Größen ableitet, kann dabei
kleiner (besser) werden als die beiden relativen Unsicherheiten der
Eingangsgrößen.
Die Fehlerfortpflanzung für ein Ergebnis
und den korrelierten Messfehlern, lässt sich auch folgender Maßen
formulieren:
mit
als Kovarianzmatrix.
Generalisiertes Fehlerfortpflanzungsgesetz
Mit Hilfe des Matrixformalismus kann das allgemeine Fehlerfortplanzungsgesetz kompakt ausgedrückt werden als:
wobei
und
die jeweiligen Kovarianzmatrizen der Vektoren
und
sind und
die Jacobi-Matrix
.
Dabei handelt es sich hier nicht nur um ein Ergebnis
wie im oben genannten Beispiel, sondern um einen Vektor mit vielen Ergebnissen,
die aus den Eingangsgrößen
abgeleitet werden. Die Standardabweichung für jedes
ergibt sich nun aus den Wurzeln der Diagonalelemente
.



© biancahoegel.de
Datum der letzten Änderung: Jena, den: 10.05. 2024