Wirtinger-Kalkül

Wilhelm Wirtinger

Bei dem Wirtinger-Kalkül, und seiner Verallgemeinerung durch die Dolbeault-Operatoren, handelt es sich um einen mathematischen Kalkül aus der Funktionentheorie. Der Wirtinger-Kalkül ist nach dem Mathematiker Wilhelm Wirtinger und die Dolbeault-Operatoren sind nach Pierre Dolbeault benannt. Mit Hilfe dieser Objekte kann die Darstellung komplexer Ableitungen übersichtlicher gestaltet werden. Außerdem finden die Dolbeault-Operatoren Anwendung in der Theorie der quasikonformen Abbildungen.

Wirtinger-Kalkül

Eine komplexe Zahl {\displaystyle z\in \mathbb {C} } wird durch {\displaystyle z:=x+\mathrm {i} y} in zwei reelle Zahlen zerlegt. Sei {\displaystyle G\subset \mathbb {C} } ein Gebiet und {\displaystyle f=u+\mathrm {i} v\colon G\to \mathbb {C} } eine (reell) differenzierbare Funktion. Dann existieren die partiellen Ableitungen

{\displaystyle {\frac {\partial f}{\partial x}}={\frac {\partial u}{\partial x}}+\mathrm {i} {\frac {\partial v}{\partial x}}}

und

{\displaystyle {\frac {\partial f}{\partial y}}={\frac {\partial u}{\partial y}}+\mathrm {i} {\frac {\partial v}{\partial y}}}.

Im nächsten Abschnitt werden nun die Wirtinger-Ableitungen eingeführt, welche ebenfalls partielle Differentialoperatoren sind. Jedoch sind diese einfacher zu berechnen, da die komplexwertige Funktion nicht in Real- und Imaginärteil zerlegt werden muss. Statt der Koordinaten x und y verwendet man {\displaystyle z=x+\mathrm {i} y} und {\displaystyle {\bar {z}}=x-\mathrm {i} y}.

Motivation und Definition

Mit Hilfe der partiellen Ableitungen schreibt sich das (totale) Differential von f als

{\displaystyle \mathrm {d} f={\frac {\partial f}{\partial x}}\mathrm {d} x+{\frac {\partial f}{\partial y}}\mathrm {d} y}.

Aus {\displaystyle z=x+\mathrm {i} y} und {\displaystyle {\bar {z}}=x-\mathrm {i} y} ergibt sich

\textstyle x = \frac12 (z + \bar z) und {\displaystyle \textstyle y={\frac {1}{2\mathrm {i} }}(z-{\bar {z}})={\frac {\mathrm {i} }{2}}({\bar {z}}-z)}.

Für die Differentiale erhält man daraus

{\displaystyle \mathrm {d} x={\frac {1}{2}}(\mathrm {d} z+\mathrm {d} {\bar {z}})} und {\displaystyle \mathrm {d} y={\frac {\mathrm {i} }{2}}(\mathrm {d} {\bar {z}}-\mathrm {d} z)}.

Einsetzen in das totale Differential und Umsortieren liefert

{\displaystyle \mathrm {d} f={\frac {1}{2}}\left({\frac {\partial f}{\partial x}}-\mathrm {i} {\frac {\partial f}{\partial y}}\right)\mathrm {d} z+{\frac {1}{2}}\left({\frac {\partial f}{\partial x}}+\mathrm {i} {\frac {\partial f}{\partial y}}\right)\mathrm {d} {\bar {z}}}.

Um (formal) die Beziehung

{\displaystyle \mathrm {d} f={\frac {\partial f}{\partial z}}\mathrm {d} z+{\frac {\partial f}{\partial {\bar {z}}}}\mathrm {d} {\bar {z}}}

zu erhalten, setzt man

{\displaystyle {\frac {\partial f}{\partial z}}:={\frac {1}{2}}\left({\frac {\partial f}{\partial x}}-\mathrm {i} {\frac {\partial f}{\partial y}}\right)}

und

{\displaystyle {\frac {\partial f}{\partial {\bar {z}}}}:={\frac {1}{2}}\left({\frac {\partial f}{\partial x}}+\mathrm {i} {\frac {\partial f}{\partial y}}\right)}.

Dies sind die Wirtinger-Ableitungen.

Für \textstyle\frac{\partial f}{\partial z} schreibt man auch kurz \,\partial f, für \textstyle\frac{\partial f}{\partial \bar{z}} schreibt man \bar \partial f. Der Operator \overline{\partial} heißt Cauchy-Riemann-Operator.

Holomorphe Funktionen

Der Wirtinger-Kalkül findet insbesondere in der Funktionentheorie Anwendung, da für holomorphe Funktionen die Notation sich auf ein Minimum reduziert. Außerdem ist dieser Kalkül sehr stabil, wie Eigenschaften 3 und 4 im nächsten Abschnitt zeigen.

Eine reell differenzierbare Funktion ist genau dann eine holomorphe Funktion, wenn \overline{\partial} f = 0 gilt. In diesem Fall ist \partial f die Ableitung von f. Dies gilt, da die Gleichung \overline{\partial} f = 0 eine sehr kurze Darstellung der Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen ist. Aus diesem Grund trägt der Operator \overline{\partial} den Namen Cauchy-Riemann-Operator.

Gilt hingegen für eine reell differenzierbare Funktion f die Gleichung \partial f = 0 so nennt man diese Funktion antiholomorph und das reelle Differential kann mit Hilfe von Eigenschaft 1 aus \overline{\partial} f berechnet werden.

Eigenschaften

Beziehung zur partiellen Ableitung

Es gelten die Gleichungen

\frac{\partial f}{\partial x} = \partial f + \overline{\partial} f

und

{\displaystyle {\frac {\partial f}{\partial y}}=\mathrm {i} \left(\partial f-{\overline {\partial }}f\right)}.

Linearität

Die Operatoren \partial und \overline{\partial} sind {\displaystyle \mathbb {C} }-linear, das heißt für {\displaystyle a,b\in \mathbb {C} } und reell differenzierbare Funktionen {\displaystyle f,g\colon G\to \mathbb {C} } gilt

\partial (af + b g) = a \partial f + b \partial g

und

\overline{\partial} (af + b g) = a \overline{\partial} f + b \overline{\partial} g.

Komplexe Konjugation

Für jede reell differenzierbare Funktion f gilt

\overline{\partial} f = \overline{\partial\overline{f}}

und

\overline{\partial}\ \overline{f} = \overline{\partial f}.

Kettenregel

Für die Wirtinger-Ableitungen gilt die Kettenregel

{\displaystyle {\frac {\partial (g\circ f)}{\partial z}}(z_{0})={\frac {\partial g}{\partial w}}(f(z_{0}))\cdot {\frac {\partial f}{\partial z}}(z_{0})+{\frac {\partial g}{\partial {\overline {w}}}}(f(z_{0}))\cdot {\frac {\partial {\overline {f}}}{\partial z}}(z_{0})}

und

{\displaystyle {\frac {\partial (g\circ f)}{\partial {\overline {z}}}}(z_{0})={\frac {\partial g}{\partial w}}(f(z_{0}))\cdot {\frac {\partial f}{\partial {\overline {z}}}}(z_{0})+{\frac {\partial g}{\partial {\overline {w}}}}(f(z_{0}))\cdot {\frac {\partial {\overline {f}}}{\partial {\overline {z}}}}(z_{0})}.

Hauptsymbol

Das Hauptsymbol von \partial ist {\displaystyle \xi \mapsto {\tfrac {1}{2}}(\xi _{1}-\mathrm {i} \xi _{2})} und das Hauptsymbol von \overline{\partial} ist {\displaystyle \xi \mapsto {\tfrac {1}{2}}(\xi _{1}+\mathrm {i} \xi _{2})}. Beide Differentialoperatoren sind also elliptisch.

Assoziierter Laplace- und Dirac-Operator

Mit den Wirtinger-Ableitungen kann man den Laplace-Operator durch

\Delta f = 4 \partial \overline{\partial} f = 4 \overline{\partial} \partial f

darstellen. Daraus folgt insbesondere, dass der Operator

D := 2\begin{pmatrix}0 & -\partial \\ \overline{\partial} & 0 \end{pmatrix}

ein Dirac-Operator ist.

Fundamentallösung

Die Fundamentallösung des Cauchy-Riemann-Operators \textstyle \frac{\partial}{\partial \overline{z}} ist \textstyle \frac{1}{\pi z}, das heißt die durch die Funktion \textstyle u(z) = \frac{1}{\pi z} erzeugte Distribution löst die Gleichung \textstyle \frac{\partial}{\partial \overline{z}} u(z) = \delta, wobei \delta die Delta-Distribution ist. Eine Herleitung ist im Artikel Cauchy-Riemannsche partielle Differentialgleichungen zu finden.

Dolbeault-Operator

Mit Hilfe des Wirtinger-Kalküls kann man auch mehrdimensionale Abbildungen untersuchen. Wie oben werden Elemente von {\displaystyle \mathbb {C} ^{n}} zerlegt in {\displaystyle (z_{1},\ldots z_{n})=(x_{1}+\mathrm {i} y_{1},\ldots ,x_{n}+\mathrm {i} y_{n})}. Sei nun D \subset \mathbb{C}^n eine offene Teilmenge und f = (f_1, \ldots , f_m): D \rightarrow \mathbb{C}^m eine (reell) differenzierbare Abbildung. Dazu definiert man die dem Wirtinger-Kalkül ähnlichen partiellen Differentialoperatoren

{\displaystyle {\frac {\partial }{\partial z_{j}}}:={\frac {1}{2}}\left({\frac {\partial }{\partial x_{j}}}-\mathrm {i} {\frac {\partial }{\partial y_{j}}}\right)\quad j=1,\ldots ,n}

und

{\displaystyle {\frac {\partial }{\partial {\bar {z}}_{j}}}:={\frac {1}{2}}\left({\frac {\partial }{\partial x_{j}}}+\mathrm {i} {\frac {\partial }{\partial y_{j}}}\right)\quad j=1,\ldots ,n}

auf {\displaystyle \mathbb {C} ^{n}}. Mit Hilfe dieser partiellen Differentialoperatoren kann man den Dolbeault-Operator und den Dolbeault-Quer-Operator durch

 \partial f := \sum_{j=1}^n \frac{\partial}{\partial z_j} f {\rm d} z_j

und

 \overline{\partial} f := \sum_{j=1}^n \frac{\partial}{\partial \overline{z}_j} f {\rm d} \overline{z}_j

definieren. Diese können als mehrdimensionale Wirtinger-Ableitungen verstanden werden und werden deshalb genauso notiert. Außerdem haben die Dolbeault-Operatoren ähnliche Eigenschaften wie die Wirtinger-Ableitungen. Insbesondere gilt auch, dass f genau dann holomorph ist, wenn \overline{\partial}f = 0 gilt und die reelle Ableitung wird durch

{\mathrm d} f = \overline{\partial} f + \partial f

dargestellt. Im holomorphen Fall gilt \textstyle \mathrm d f = \partial f, da ja \overline{\partial} f = 0 gilt.

Dolbeault-Operatoren auf Mannigfaltigkeiten

Hauptartikel: Komplexe Differentialform

Der Dolbeault-Operator und der Dolbeault-Quer-Operator lassen sich auch auf komplexen Mannigfaltigkeiten definieren, jedoch muss dafür erst der Kalkül der komplexen Differentialformen definiert werden. Mit Hilfe des Dolbeault-Quer-Operators kann man analog wie im vorigen Abschnitt holomorphe Differentialformen definieren. Eine der wichtigsten Anwendungen dieser Operatoren ist in der Hodge-Theorie insbesondere in der Dolbeault-Kohomologie, welche das komplexe Analogon zur De-Rham-Kohomologie ist, zu finden.

Literatur

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Basierend auf einem Artikel in: Wikipedia.de
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 16.07. 2021