Komplexe Wechselstromrechnung
Die komplexe Wechselstromrechnung wird in der Elektrotechnik angewendet, um Verhältnisse von elektrischer Stromstärke und elektrischer Spannung in einem linearen zeitinvarianten System bei sinusförmiger Wechselspannung und sinusförmigem Wechselstrom zu bestimmen. Sie geht auf Arbeiten aus 1893 von Arthur Edwin Kennelly und Charles P. Steinmetz zurück. Eine mathematisch exakte Darstellung der dabei angewandten Lösungsmethoden mit komplexen Spannungen und Strömen wurde 1937 von Wilhelm Quade(1898–1975) gegeben.
Die komplexe Wechselstromrechnung ist unter bestimmten Einschränkungen eine vorteilhafte Alternative zur Rechnung mit Differentialgleichungen, da damit Zeitableitungen und Integrationen nach der Zeit durch eine Multiplikation mit einem komplexen Faktor ersetzt werden können. Darüber hinausgehend bestehen verschiedene Erweiterungen wie die erweiterte symbolische Methode der Wechselstromtechnik, welche eine Verallgemeinerung der komplexen Wechselstromrechnung auf exponentiell anschwellende und abklingende sinusförmige Signale erlaubt, und Verfahren wie das AC-Kalkül, welches auf die Einführung komplexwertiger Zeitfunktionen verzichtet.
Allgemeine Einführung
Die Bestimmung des Verhältnisses von Stromstärke zu Spannung in einem elektrischen Stromkreis ist eine der Grundaufgaben der Elektrotechnik.
Wird eine zeitlich konstante Spannung
vorgegeben und die Stromstärke
bestimmt, oder wird die Stromstärke
vorgegeben und die Spannung
bestimmt, so bezeichnet man das Verhältnis
als den Widerstand
oder das Verhältnis
als den Leitwert
.
In der Wechselstromtechnik hat man es mit zeitlich veränderlichen Spannungen
und Strömen zu tun, die in diesem Fall einem sinusförmigen Verlauf folgen. Um
diese Veränderlichkeit gegenüber den zeitlich fixen Größen auszudrücken, werden
Momentanwerte,
die sich zeitlich ändern, mit Kleinbuchstaben bezeichnet, Spannungen als
kleines
und Stromstärken als kleines
.
Zur ausdrücklichen Kennzeichnung der Zeitabhängigkeit kann dem Formelzeichen der
Buchstabe
in runden Klammern beigefügt werden,
z.B.
.
Als passive lineare Elemente des Wechselstromkreises treten ohmsche Widerstände, Induktivitäten oder Kapazitäten auf. Für diese Elemente gilt:
- Ohmscher
Widerstand
: die Stromstärke ist der Spannung proportional:
- Induktivität
: die Stromstärkeänderung ist der Spannung proportional:
oder gleichwertig
- Kapazität
: die Spannungsänderung ist der Stromstärke proportional:
oder gleichwertig
Ist eine der vorgegebenen Größen (Spannung oder Stromstärke bzw. umgangssprachlich einfach Strom) konstant, so ist die resultierende Größe nur bei rein ohmschen Stromkreisen ebenfalls konstant. Die angewendeten Verfahren der Berechnung sind dann, und nur dann, die der Gleichstromrechnung. Eine ideale Induktivität würde hier einen Kurzschluss, eine ideale Kapazität eine Unterbrechung des Stromzweiges darstellen. Das gilt natürlich nicht beim Einschalt- oder Ausschaltfall, da dann zeitweise keine konstanten Bedingungen vorliegen.
Ist die vorgegebene Größe nicht konstant, oder ist der Stromkreis nicht rein ohmsch, so ist die Strom/Spannungs-Beziehung komplizierter. Kapazitäten und Induktivitäten müssen dann über Differentialgleichungen in die Berechnung einfließen. Jedoch kann man es sich mit der Berechnung in Sonderfällen einfacher machen.
So ein Sonderfall liegt vor, wenn die vorgegebene Größe einen sinusförmigen periodischen Verlauf hat, z.B. ein sinusförmiger Strom (siehe Wechselstrom)
oder eine sinusförmige Spannung
Dabei ist
bzw.
der Maximalwert, gemäß DIN 40 110-1 Amplitude
genannt,
ist die Kreisfrequenz,
bzw.
ist der Nullphasenwinkel
der Wechselgröße. Die Differenz
wird Phasenverschiebungswinkel
genannt.
Dann hat die sich einstellende Größe einen ebenfalls sinusförmigen periodischen Verlauf gleicher Frequenz, der sich allerdings in der Phasenverschiebung und dem Amplitudenverhältnis mit der Frequenz (bzw. Periodendauer) verändern kann.
Die mathematische Behandlung diesbezüglicher Rechnungen erfolgt vorteilhaft unter Verwendung komplexer Größen, da diese die Lösung trigonometrischer Aufgaben wesentlich erleichtern.
Zeigerdiagramm

In einem Zeigerdiagramm kann eine harmonische Schwingung (Sinusschwingung)
durch einen mit der Kreisfrequenz
um den Nullpunkt rotierenden Zeiger in der komplexen Ebene
dargestellt werden, dessen Länge die Amplitude repräsentiert. Damit vollzieht
man einen Übergang von einer Funktion der Zeit auf eine Funktion des Winkels,
der in diesem Zusammenhang Phasenwinkel
genannt wird. Dieser steigt gemäß
an. Passend zur Zählrichtung des Winkels dreht der Zeiger entgegen dem
Uhrzeiger. Er wird gemäß DIN 5483-3 auch Drehzeiger genannt. Der zeitliche
Verlauf der Schwingung kann durch Projektion der rotierenden Zeigerspitze auf
die imaginäre Achse (Sinusfunktion) oder reelle Achse (Kosinusfunktion) gewonnen
werden.
Für die imaginäre
Einheit verwendet man in der Elektrotechnik gemäß DIN
1302 den Buchstaben
(mit
),
um Verwechslungen mit dem Buchstaben
,
der für den (zeitabhängigen) Strom verwendet wird, zu vermeiden. Formelzeichen
komplexer Größen werden gemäß DIN
1304-1 und DIN 5483-3 durch einen Unterstrich gekennzeichnet.
Ein rotierender Zeiger für eine Spannung stellt diese als komplexe Spannung dar:
Der letzte Ausdruck stellt die sogenannte Versorschreibweise dar. Die komplexe Größe wird dabei wie im vorletzten Ausdruck in Polarkoordinaten angegeben.
Beispiel: Die Formel
spricht sich:
ist gleich
Versor
,
wobei
der Betrag und
das Argument der komplexen Größe
sind.
Analog gilt für die komplexe Stromstärke:
Die reellen Größen können als Realteil der komplexen Größen dargestellt werden:
Wahlweise können auch die Imaginärteile verwendet werden. Sie sagen das Gleiche über den realen Sachverhalt aus und unterscheiden sich nur in der Verwendung des Kosinus oder Sinus (Phasenverschiebung um 90°).
Die komplexe Spannung ergibt sich aus zwei Teilen: Einerseits aus der
Amplitude der Spannung (dargestellt durch )
und andererseits aus dem Phasenwinkel. Dieser wiederum setzt sich aus einem
konstanten Teil, dem Nullphasenwinkel
,
und einem variablen Teil
zusammen. Entsprechendes gilt für die komplexe Stromstärke mit
und
.
Häufig werden die Amplituden und die Nullphasenwinkel zu den komplexen Effektivwerten
und
zusammengefasst, so dass man die Momentanwerte als
und
darstellen kann.
Ohmsches Gesetz im komplexen Bereich
Allgemeiner Ansatz

Eine komplexe Gleichung muss immer in zwei voneinander unabhängigen Aussagen erfüllt sein. Wahlweise trennt man die Aussagen durch reelle Gleichungen für
- Zeigerlänge und Winkel oder
- Realteil und Imaginärteil.
Das Verhältnis der komplexen Spannung zur komplexen Stromstärke ist unter den
genannten Voraussetzungen eine komplexe Konstante. Diese Aussage ist das
ohmsche Gesetz der Wechselstromtechnik. Die Konstante wird als komplexer
Widerstand oder Impedanz
bezeichnet. Auch diese wird in der komplexen Ebene als Zeiger dargestellt, der
aber als zeitunabhängige Größe nicht rotiert.
Der allgemeine Ansatz dazu lautet
- für Zeigerlänge und Winkel
- oder für Real- und Imaginärteil
Ohmscher Widerstand
Setzt man in die oben in der Einführung für den ohmschen Widerstand
stehende Gleichung anstelle von
und
Zeiger ein, so erhält man
Da
eine reelle Größe ist, muss im allgemeinen Ansatz im Blick auf die Winkel
sein. Die Zeiger
und
haben am ohmschen Widerstand stets gleiche Nullphasenwinkel. Das entspricht der
Beobachtung, dass
und
gleichphasig sind. Der komplexe Widerstand ist dann:
Kondensator
Setzt man in die oben für die Kapazität
stehende Gleichung anstelle von
und
Zeiger ein, so erhält man nach Ausführung der Differenziation
Nach Umstellung und mit
erhält man
Dann muss im allgemeinen Ansatz im Blick auf die Winkel
sein. Das entspricht der Beobachtung, dass im Falle eines idealen
Kondensators
gegenüber
um −π/2 oder −90° in der Phase verschoben ist. Die Impedanz ist dann
_C.png)
In Blick auf Real- und Imaginärteil besteht der komplexe Widerstand
hier nur aus einem negativen Imaginärteil. Dieser liefert einen negativen Blindwiderstand für den
Kondensator
Der komplexe Widerstand eines Kondensators wird also auf der imaginären Achse in negative Richtung aufgetragen. Der Formel kann man entnehmen, dass der Blindwiderstand des Kondensators umso kleiner wird, je höher man die Frequenz wählt.
Spule
Setzt man in die oben für die Induktivität
stehende Gleichung anstelle von
und
Zeiger ein, so erhält man nach Ausführung der Differenziation
Nach Umstellung und mit
erhält man
Dann muss im allgemeinen Ansatz im Blick auf die Winkel
sein. Das entspricht der Beobachtung, dass im Falle einer idealen
Spule
gegenüber
um π/2 oder 90° voreilt. Die Impedanz ist dann
_L.png)
In Blick auf Real- und Imaginärteil besteht der komplexe Widerstand
hier nur aus einem positiven Imaginärteil. Dieser liefert einen positiven
Blindwiderstand für die Spule
Der komplexe Widerstand
der Spule liegt nun, wie beim Kondensator, auf der imaginären Achse. Allerdings
wird er, anders als beim Kondensator, in positiver Richtung aufgetragen. Auch
wird der Blindwiderstand
der Induktivität mit steigender Frequenz größer, im Gegensatz zum Kondensator.
Diese gegensätzlichen Eigenschaften führen in einer Reihenschaltung aus
Spule und Kondensator bei einem bestimmten
dazu, dass sich die Blindwiderstände zu null addieren, was man als Reihenresonanz im Schwingkreis
bezeichnet.
Rechnung bei mehreren Bauteilen
Regeln
Die Regeln über Parallelschaltung und Reihenschaltung sowie die kirchhoffschen Regeln gelten in der Wechselstromtechnik unverändert weiter, wenn man sie auf komplexe Größen anwendet. Man legt zuerst fest, von welcher Größe zweckmäßigerweise auszugehen ist. Häufig erweist es sich als zweckmäßig, diese Größe in die reelle Achse zu legen.
Sind alle Bauelemente in Reihe geschaltet, so ist es zweckmäßig, den Strom vorzugeben. Man kann so für jedes Element, durch das derselbe Strom fließt, die angelegte Spannung bestimmen und dann alle Spannungen durch Addition der Zeiger zusammenfassen. Gleichwertig kann man erst alle Widerstände komplex addieren und dann mit dem Strom multiplizieren.
Sind jedoch alle Bauelemente parallel geschaltet, so wird man eine Spannung vorgeben. Man kann den Strom durch jedes Element getrennt berechnen und dann alle komplexen Ströme durch Aneinandersetzung der Zeiger addieren. Gleichwertig kann man erst alle komplexen Leitwerte addieren und dann mit der Spannung multiplizieren.
Ist die Schaltung eine Mischform, so ist man gezwungen, sie elementar zu zerlegen und jede Teilschaltung getrennt zu berechnen, bevor man sie wieder zusammensetzt. Ein Beispiel wird in Resonanztransformator beschrieben.

oben: Wechselstrom und Spannung,
unten: Wechselstromwiderstände
Beispiel
An einer Reihenschaltung eines Widerstands R = 150 Ω und eines Kondensators C = 10 μF liegt eine Wechselspannung mit ω = 500 s−1 an.
Dann hat man eine Reihenschaltung aus dem Wirkwiderstand
und dem Blindwiderstand
- mit der Umrechnung der Maßeinheiten
Da sich die komplexen Widerstände oder Impedanzen bei einer Reihenschaltung addieren, ist die Gesamtimpedanz
Der Scheinwiderstand (Betrag der Impedanz) ergibt sich nach dem Satz des Pythagoras zu
Er ist also das Verhältnis der Beträge von Spannung und Stromstärke. Für den Phasenverschiebungswinkel φ zwischen Spannung und Strom in dieser Schaltung folgt:
Damit kann man
in Polarkoordinatenform darstellen:
Leistung bei komplexer Rechnung
Zu einer komplexen Größe
definiert man die zugehörige konjugiert komplexe Größe
.
Der Realteil von
ergibt sich zu
Der Augenblickswert der Leistung p ist das Produkt der reellen Augenblickswerte von Spannung und Strom.

Die Klammer umfasst zwei Zeiger,
- einen zeitunabhängigen, ruhenden und
- einen mit doppelter Winkelgeschwindigkeit rotierenden.
Der zeitunabhängige Zeiger wird in DIN 5483-3 und DIN 40110-1 als komplexe Leistung oder komplexe Scheinleistung bezeichnet.
Darin sind die in der Wechselstromtechnik üblichen drei Kenngrößen zur Leistung enthalten:
- die Scheinleistung S
- die Wirkleistung P, die als Gleichwert über p definiert wird; der Schwingungsanteil fällt durch die Mittelwertbildung heraus. Es ergibt sich
- die ebenfalls frei von Schwingungsanteilen (Augenblickswerten) definierte (Verschiebungs-)Blindleistung Q
Einschränkungen
Somit kann mit dieser Methode der komplexen Wechselstromrechnung schwierig die Berechnung von Schaltvorgängen, wie das An- und Ausschalten, Pulse oder Pulsfolgen erfolgen. Für die Schaltung muss dafür mittels der komplexen Wechselstromrechnung ein Bode-Diagramm berechnet werden, das eine Komplexe Funktion im Spektralbereich darstellt. Nun entwickelt man zu dem zu untersuchenden Signal (z.B. Sprungfunktion beim Einschwingen) eine Fourierreihe, wandelt also das Signal vom Zeitbereich in den Spektralbereich um. Das Signal im Spektralbereich kann nun mittels des Bode-Diagramms in ein Abbild im Spektralbereich umgerechnet werden. Dieses Abbild lässt sich durch inverse Fouriertransformation wieder in ein Signal im Zeitbereich umrechen. Diese Vorgänge können auch mit Hilfe von Differenzialgleichungen beschrieben werden.
Weiterhin müssen auch alle Bauelemente einer Wechselstromschaltung wie Widerstände, Kondensatoren und Spulen lineare Eigenschaften im betrachteten Frequenzbereich zeigen. Dies trifft beispielsweise bei Spulen mit magnetischer Sättigung oder Kondensatoren, deren Dielektrizitätszahl von der elektrischen Feldstärke abhängt, nicht zu. Ferner sind in der Regel die Kennlinien von Halbleiterbauelementen nicht linear. In all diesen Fällen würde bei einer sinusförmigen Spannung ein nicht sinusförmiger Strom entstehen (oder umgekehrt), und die komplexe Wechselstromrechnung kann dann nicht angewendet werden.



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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 02.09. 2023