Bindungsenergie muss aufgebracht werden, um ein gebundenes System aus
zwei oder mehr Bestandteilen (beispielsweise einen Himmelskörper, ein Molekül, ein Atom, einen Atomkern), die durch
Anziehungskräfte zusammengehalten werden, in seine Bestandteile zu zerlegen.
Eine ebenso große Energie wird freigesetzt, wenn sich das gebundene System aus
den Einzelteilen bildet. Manchmal wird unter Bindungsenergie nicht diese
Energiemenge selbst, sondern die Änderung des Energieinhalts des Systems
verstanden, wenn seine Teile sich miteinander verbinden; dann hat sie den
gleichen Betrag, ist aber negativ. So ist z. B. die in der Chemie gebräuchliche
Reaktionsenthalpie
negativ, wenn bei der Reaktion Energie frei wird.
Die Bezeichnung Bindungsenergie ist ein gängiger Fachausdruck, aber sprachlich etwas unglücklich gewählt. Sie führt – besonders mit einem nachfolgenden Genitiv, wie z.B. Bindungsenergie „des Uran-Atomkerns“ oder „des ATP-Moleküls“ – leicht zu dem Missverständnis, es handele sich um einen Energiebetrag, der in dem gebundenen System vorhanden ist und aus ihm freigesetzt werden kann. Richtig ist, wie oben gesagt, das Gegenteil: die Bindungsenergie ist bereits bei der Bildung des gebundenen Systems freigesetzt und abgegeben worden, ist also nun nicht mehr verfügbar.
Wenn beispielsweise der Abstand zweier Dauermagnete hinreichend gering ist, ziehen sie einander an und bewegen sich aufeinander zu. Augenblicke vor dem Zusammenstoß besitzen beide Magnete ihre höchste kinetische Energie, welche dann in Schallenergie und Wärme umgewandelt wird. Um die Magnete wieder voneinander zu trennen muss die Bindungsenergie aufgebracht werden, sie stimmt vom Betrag her mit der freigesetzten Gesamtenergie überein. Möchte man also die Magnete voneinander trennen, muss die Bindungsenergie in das System eingebracht werden. Wird dies nicht getan, so bleiben die Magnete vereint.
Als Bindungsenergie, mittlere Bindungsenergie (auch: Dissoziationsenergie, Bindungsspaltungsenergie, Bindungsenthalpie,
Bindungsdissoziationsenthalpie, Valenzenergie) wird in der Chemie die Menge an Energie bezeichnet, die aufgewendet werden muss,
um die kovalenten Bindung zwischen
zwei Atomen eines Moleküls vollständig zu spalten. Dabei bilden sich zwei
Radikale (homolytische Spaltung). Die Energie wird meist in Joule pro Mol der Verbindung
angegeben und beschreibt die Festigkeit der Bindung. Werden alle Bindungen dissoziiert,
spricht man von Atomisierungsenergie oder Atomisierungswärme, die die
Gesamtbindungsenergie einer Verbindung ist.
Die
molare Bindungsenergie von Ionenkristallen
wird unter Gitterenergie
und Gitterenthalpie
beschrieben.
Bindungsenergien zwischen Atomen liegen bei Molekülen zwischen 200 und 700 kJ·mol−1 (2 bis 7 eV pro Bindung). Besonders geringe Bindungsenergie beobachtet man bei Wasserstoffbrückenbindungen. Sie sind mit nur 17 bis 167 kJ/mol (0,18 bis 1,7 eV pro Bindung) deutlich schwächer als die Bindungskraft innerhalb eines Moleküls.
Die wirkliche Festigkeit (wahre Bindungsenergie) lässt sich experimentell nicht bestimmen, da die Bruchstücke u. a. die Anordnung ihrer Bindungspartner (bei Molekülen, die aus mehr als zwei Atomen bestehen) und ihre elektronische Struktur verändern. Einige Trennungsenergien lassen sich experimentell in Einzelschritten bestimmen, andere Trennungsenergien werden aus vorhandenen Daten rechnerisch abgeschätzt. Zur Abschätzung werden bekannte mittlere Bindungsenergien verwendet.
Die Größe der Bindungsenergie hängt unter anderem von der Bindungslänge (je länger desto niedriger), der Polarität der Bindung (polare Atombindungen sind schwerer zu spalten als unpolare) und der Art der Bindung (Einfachbindung lässt sich leichter als eine Doppelbindung und diese wiederum leichter als eine Dreifachbindung spalten) ab.
In der Atomphysik wird als Bindungsenergie die Energie bezeichnet, die zum Zerlegen eines Atoms/Ions in ein (anderes) Ion und ein Elektron nötig ist. Sie kommt durch die elektrische Anziehung zwischen Elektron und Atomkern zustande. Beim Einfangen eines Elektrons wird der gleiche Energiebetrag frei. Manchmal ist mit Bindungsenergie diejenige des gesamten Atoms (also nicht nur eines einzelnen Elektrons) gemeint.
Besonders geringe Bindungsenergien besitzen die Valenzelektronen der ersten Hauptgruppe, von 13,6 eV beim Wasserstoffatom über 5,14 eV, für Natrium bis 3,9 eV für Cäsium. Je höher geladen ein Ion wird, desto höher wird auch die Bindungsenergie der verbliebenen Elektronen. So betragen die zweite und dritte Ionisierungsenergie bei Natrium schon 47 beziehungsweise 72 eV.
Um ein Elektron aus einem ungeladenen Festkörper zu entfernen, muss Energie aufgewendet werden, die als Austrittsarbeit bezeichnet wird. Sie ist oft erheblich geringer als die Bindungsenergie im isolierten Atom und beträgt z.B. beim Cäsium nur 2,14 eV. Ihr Wert lässt sich durch den Schottky-Effekt verringern. Die Austrittsarbeit ist z.B. beim Edison-Richardson-Effekt, Sekundärelektronenvervielfacher, Sekundärelektronenmikroskop und photoelektrischen Effekt von Bedeutung.
Auch bei einem gleichrichtendem Metall-Halbleiter-Übergang wie in der Schottky-Diode müssen Elektronen die Schottky-Barriere überwinden, diese liegt meist zwischen 0,5 und 0,9 eV. Die Bandlücke im Bändermodell eines Halbleiters entspricht der Bindungsenergie eines Elektrons im Valenzband.
In der Kernphysik ist die Bindungsenergie die Energiemenge, die aufgewandt werden muss, um den Atomkern in seine Nukleonen zu zerlegen. Umgekehrt wird eine ebenso große Energie frei, wenn sich Nukleonen zu einem Kern vereinigen.
Die Bindung kommt durch die anziehende Kraft der starken Wechselwirkung zwischen den Nukleonen zustande. Sie wird durch die gegenseitige Coulomb-Abstoßung der elektrisch positiv geladenen Protonen im Kern geschwächt. Die maximale Bindungsenergie pro Nukleon wird bei Nickel-62 erreicht. Leichtere Kerne haben relativ mehr Nukleonen an der Oberfläche, wo sie schwächer gebunden sind. Bei schwereren Kernen nimmt die Bindungsenergie je Nukleon dann wieder ab, denn je mehr Protonen vorhanden sind, desto stärker wächst die abstoßende Coulombkraft zwischen ihnen an. Daher kann im Gebiet der leichten Kerne durch Kernverschmelzung (Kernfusion), im Gebiet der schweren Kerne durch Kernspaltung Energie gewonnen werden. Die Bindungsenergie von Atomkernen kann im Rahmen des Tröpfchenmodells mit der Bethe-Weizsäcker-Formel abgeschätzt werden. Die Zacken in der Graphik hängen mit den Magischen Zahlen zusammen.
Die Bindung ist wegen der Äquivalenz
von Masse und Energie mit einem Massendefekt
verbunden: Der gebundene Kern hat zwischen 0,1 % (Deuteron)
und 0,9 % (Ni-62) weniger Masse als alle seine Nukleonen zusammengenommen.
Aus einer genauen Bestimmung der Masse
eines Atoms lässt sich daher die Bindungsenergie
des Kerns ableiten:
Dabei ist
Die Bindungsenergie kurzlebiger Kerne lässt sich beispielsweise durch Messung der Energien ihrer Zerfallsprodukte bestimmen.
Die gravitative Bindungsenergie ist diejenige Energie, die benötigt wird, um einen durch Gravitation zusammengehaltenen Körper (z.B. die Erde) in sehr viele winzige Bestandteile zu zerlegen und diese unendlich weit voneinander zu entfernen. Umgekehrt wird die gleiche Energiemenge freigesetzt, wenn sich diese Bestandteile zu einem gravitativ gebundenen Körper zusammenfügen. Dies geschieht beim Kollaps einer Gaswolke zu einem kompakteren Himmelskörper, etwa einem Stern (Jeans-Kriterium), und führt zu einer Erwärmung der Wolke.
Idealisiert man einen Himmelskörper als Kugel mit Radius
und homogener Dichte
,
so ergibt sich die Bindungsenergie folgendermaßen:
Man lässt zunächst auf eine Kugel mit Radius
(mit
)
und Dichte
aus unendlicher Entfernung weitere Materie fallen, so dass sich eine Kugelschale
der Dicke
auf der Oberfläche bildet und man eine neue Kugel mit Radius
und Dichte
erhält.
Das Gravitationspotential der bisherigen Kugel ist (mit
außerhalb der Kugel)
wobei
die Masse der bisherigen Kugel ist. Die hinzuzufügende Kugelschale der Dicke
soll die gleiche Dichte haben. Es muss also eine Masse
aus dem Unendlichen auf die Kugeloberfläche gebracht werden. Die dabei freiwerdende Energie ist
Baut man so Schicht für Schicht eine Kugel mit Radius
zusammen, so wird insgesamt die folgende Bindungsenergie frei:
Die Bindungsenergie beträgt also
Eine homogene Kugel mit Masse und Radius der Erde besäße nach dieser Formel eine gravitative Bindungsenergie von etwa 2,24 · 1032 J. Die Erde ist allerdings keine Kugel homogener Dichte: der Erdkern hat eine fast doppelt so hohe Dichte wie der Erdmantel. Nach dem "Preliminary Reference Earth Model" (PREM) für die Dichteverteilung im Erdinnern berechnet sich besser angenähert die Bindungsenergie der Erde numerisch zu 2,489 · 1032 J.