Vollständige Induktion
Die vollständige Induktion ist eine mathematische Beweismethode, nach der eine Aussage für alle natürlichen Zahlen bewiesen wird. Da es sich um unendlich viele Zahlen handelt, kann solch ein Beweis nicht für alle Einzelfälle durchgeführt werden. Er wird daher in zwei Etappen durchgeführt: als Induktionsanfang für eine kleinste Zahl, für die man die Aussage zeigen will (meist 1 oder 0), und als Induktionsschritt, der aus der Aussage für eine variable Zahl die entsprechende Aussage für die nächste Zahl logisch ableitet. Dieses Beweisverfahren ist von grundlegender Bedeutung für die Arithmetik und Mengenlehre und damit für alle Gebiete der Mathematik.
Veranschaulichung

Die vollständige Induktion erfasst durch den variablen Induktionsschritt beliebig viele Schritte, die man von 1 aus konkret durchführen kann. Das verdeutlicht die Grafik links. Diese Methode ist mit dem Dominoeffekt vergleichbar: Wenn der erste Dominostein fällt und durch jeden fallenden Dominostein der nächste umgestoßen wird, so wird schließlich jeder Dominostein der unendlich lang gedachten Kette irgendwann umfallen.

Etymologie und Geschichte
Die Bezeichnung Induktion leitet sich ab von lat. inductio, wörtlich „Hineinführung“. Der Zusatz vollständig signalisiert, dass es sich hier im Gegensatz zur philosophischen Induktion, die aus Spezialfällen ein allgemeines Gesetz erschließt und kein exaktes Schlussverfahren ist, um ein anerkanntes deduktives Beweisverfahren handelt.
Das Induktionsprinzip steckt latent bereits in der von Euklid überlieferten pythagoreischen Zahlendefinition: „Zahl ist die aus Einheiten zusammengesetzte Menge.“ Euklid führte aber noch keine Induktionsbeweise, sondern begnügte sich mit intuitiven, exemplarischen Induktionen, die sich aber vervollständigen lassen. Auch andere bedeutende Mathematiker der Antike und des Mittelalters hatten noch kein Bedürfnis nach präzisen Induktionsbeweisen. Vereinzelte Ausnahmen im hebräischen und arabischen Sprachraum blieben ohne Nachfolge.
Lange galt ein Beweis von Franciscus Maurolicus von 1575 als älteste explizite vollständige Induktion (unten ausgeführt) Er erörterte aber das allgemeine Beweisverfahren noch nicht. Erst Blaise Pascal thematisierte das Induktionsprizip mit Induktionsanfang und Induktionsschritt in seinem Traité du triangle arithmétique von 1654. Zur Verbreitung von Induktionsbeweisen trug ab 1686 Jakob Bernoulli wesentlich bei.
Das Beweisverfahren wurde dann 1838 von Augustus De Morgan erstmals als Induktion oder sukzessive Induktion bezeichnet. 1888 prägte schließlich Richard Dedekind in seiner Schrift Was sind und was sollen die Zahlen? den Begriff vollständige Induktion. Über dieses Werk aus der Gründerzeit der Mengenlehre wurde sie zum allgemein bekannten, etablierten Beweisprinzip, auf das seither kein Zweig der Mathematik mehr verzichten kann. Ein Jahr später, 1889, formulierte Giuseppe Peano den ersten formalisierten Kalkül für die natürlichen Zahlen mit einem Induktionsaxiom, aus dem das Beweisschema der vollständigen Induktion herleitbar ist. Er zeigte mit formaler Strenge, dass aus seinen Zahlaxiomen, zu denen das Induktionsaxiom gehört, die ganze Arithmetik bis hin zu den reellen Zahlen ableitbar ist. Dadurch machte er die fundamentale Bedeutung und die Leistungskraft der Induktion voll bewusst.
Definition
Seit Richard Dedekind ist die vollständige Induktion folgendermaßen festgelegt:
- Um zu beweisen, dass ein Satz für alle natürlichen Zahlen n ≥ m gilt, genügt es zu zeigen, dass er für n = m gilt und dass aus der Gültigkeit des Satzes für eine Zahl n ≥ m stets seine Gültigkeit auch für die folgende Zahl n + 1 folgt.
Als formale Schlussregel mit Ableitungsoperator
lautet die vollständige Induktion für eine Aussage
und eine natürliche Zahl
:
Diese Schlussregel ist eine kompakte Formulierung des Beweisschemas der vollständigen Induktion, das didaktisch etwas ausführlicher formuliert werden kann:
- Soll die Formel A(n) für alle natürlichen Zahlen n ≥ m bewiesen werden, dann genügen dazu zwei Beweisschritte:
- 1. der Induktionsanfang: der Beweis von A(m)
- 2. der Induktionsschritt: der Beweis der Induktionsbehauptung A(n + 1) mit Hilfe der Induktionsvoraussetzung A(n) und n ≥ m.
- Nach obiger Schlussregel (dem eigentlichen Induktionsschluss) folgt dann die Gültigkeit der Formel A(n) für alle natürlichen Zahlen n ≥ m.
Meist ist m = 0 oder m = 1. m > 1 ist jedoch möglich.
Da die Aussage A(n) für n ≥ m gleichwertig ist zur Aussage A(n + m) für n ≥ 0, lässt sich Dedekinds Induktion auf die vollständige Induktion von 0 aus zurückführen:
Herleitung
Die vollständige Induktion kann aus Axiomen
für die natürlichen Zahlen hergeleitet werden. Am bekanntesten ist die Ableitung
aus dem fünften Peano-Axiom,
dem sogenannten Induktionsaxiom, das folgendermaßen lautet: Ist
ein Element von
und ist mit
aus
stets auch
aus
,
dann ist
eine Teilmenge von
.
Wählt man in diesem Axiom für
die Menge aller natürlicher Zahlen
,
die die Aussage
erfüllen, so ergibt sich die vollständige Induktion mit Induktionsanfang
.
Auch in anderen Konzepten der natürlichen Zahlen sind die Peano-Axiome und damit auch das Beweisverfahren der vollständigen Induktion herleitbar, zum Beispiel bei der Definition der natürlichen Zahlen
- als von 1 erzeugte geordnete Halbgruppe, die der zitierten pythagoreischen Zahlendefinition entspricht
- als frei von 1 erzeugtes Monoid, das von der Addition der Zahlen ausgeht
- als Algebra mit Nachfolger-Abbildung, die Dedekinds Zahlendefinition entspricht
- als kleinste induktive Menge, nämlich als kleinste Menge, die das Unendlichkeitsaxiom erfüllt, wie es in der Mengenlehre üblich ist
- als Klasse der endlichen Ordinalzahlen, die nur eine allgemeine Mengenlehre ohne Unendlichkeitsaxiom voraussetzt
Beispiele
Peano bewies 1889 mit vollständiger Induktion die grundlegenden Rechenregeln für die Addition und Multiplikation: das Assoziativgesetz, Kommutativgesetz und Distributivgesetz.
Summe ungerader Zahlen (Maurolicus 1575)
Die schrittweise Berechnung der Summe der ersten
ungeraden Zahlen legt die Vermutung nahe: Die Summe aller ungeraden Zahlen von
bis
ist gleich dem Quadrat von
:
- 1 = 1
- 1 + 3 = 4
- 1 + 3 + 5 = 9
- 1 + 3 + 5 + 7 = 16
Der allgemeine Satz lautet: .
Ihn bewies Maurolicus 1575 mit vollständiger Induktion.
Ein Beweis mit heute geläufigen Rechenregeln liest sich folgendermaßen:
Der Induktionsanfang gilt wegen .
Beim Induktionsschritt ist zu zeigen: Wenn ,
dann
.
Er ergibt sich über folgende Gleichungskette, bei der in der zweiten Umformung
die Induktionsvoraussetzung angewandt wird:
.
Gaußsche Summenformel
Die Gaußsche Summenformel lautet: Für alle natürliche Zahlen
gilt
Auch sie kann durch vollständige Induktion bewiesen werden. Der Induktionsanfang ergibt sich unmittelbar:
Der Induktionsschritt wird über folgende Gleichungskette gewonnen, bei der die Induktionsvoraussetzung mit der zweiten Umformung verwendet wird:
Bernoullische Ungleichung
Die Bernoullische
Ungleichung lautet für reelle
Zahlen
mit
und natürliche Zahlen
.
Der Induktionsanfang gilt hier wegen .
Den Induktionsschritt gewinnt man über folgende Ableitung, die im zweiten
Schritt die Induktionsvoraussetzung verwendet, wobei obige Bedingung für
dafür sorgt, dass der Term nicht negativ wird:
Induktion mit beliebigem Anfang
Induktionsbeweis der Ungleichung
für natürliche Zahlen
:
- Der Induktionsanfang für
ergibt sich mit
.
- Der Induktionsschritt gilt aufgrund folgender Ableitung, die im zweiten
Schritt die Induktionsvoraussetzung und im vierten und sechsten Schritt die
Voraussetzung
anwendet:
.
Die endlich vielen Fälle, die solch ein allgemeinerer Induktionsbeweis nicht
abdeckt, können einzeln untersucht werden. Im Beispiel ist die Ungleichung für
offenbar falsch.
Induktion mit mehreren Vorgängern
In manchen Induktionsbeweisen benötigt man eine Induktionsvoraussetzung für
mehrere Vorgänger; der Induktionsanfang ist dann für mehrere Startwerte
durchzuführen. Ist zur Ableitung einer Formel etwa die Induktionsvoraussetzung
für n und n−1 nötig, dann ist ein Induktionsanfang für zwei
aufeinander folgende Zahlen, also etwa 0 und 1, erforderlich.
Als Induktionsvoraussetzung kann auch die Aussage für alle Zahlen zwischen dem
Startwert und n dienen. Ein Beispiel
ist der Beweis, dass jede natürliche Zahl
einen Primzahl-Teiler hat:
- Induktionsanfang: 2 ist durch die Primzahl 2 teilbar. Induktionsschritt:
Die Aussage sei für alle
mit
erfüllt. Ist nun
eine Primzahl, so ist
selbst der gesuchte Teiler. Ist
keine Primzahl, so gibt es zwei Zahlen
mit
und
. Beide Zahlen erfüllen also die Induktionsvoraussetzung. Insbesondere besitzt
einen Primzahl-Teiler
.
teilt auch
und ist somit ein Primzahl-Teiler von
.
Induktionsvarianten
Ein Induktionsbeweis ist auch für Aussagen über alle ganzen Zahlen (positiv und negativ) möglich. Man beginnt dazu mit einem beliebigen Induktionsanfang, beweist den positiven Induktionsschritt von n nach n+1 und anschließend den Induktionsschritt in negativer Richtung von n nach n−1. Beim Induktionsanfang 0 kann man den zweiten Induktionsschritt auch von n nach −n zeigen.
Augustin-Louis Cauchy führte 1821 eine Induktionsvariante ein, bei der der vorwärts gerichtete Induktionsschritt Sprünge macht (etwa von n nach 2n) und die entstehenden Lücken anschließend durch einen rückwärts gerichteten Induktionsschritt von n nach n−1 gefüllt werden.
Die vollständige Induktion ist von natürlichen Zahlen verallgemeinerbar auf Ordinalzahlen. Bei Ordinalzahlen, die größer als die natürlichen Zahlen sind, spricht man dann von transfiniter Induktion.
Die Induktion ist auch übertragbar auf sogenannte fundierte Mengen, die eine der Zahlenordnung vergleichbare Ordnungsstruktur aufweisen; hier spricht man zuweilen von struktureller Induktion.
Rekursive oder induktive Definition
Dierekursive Definition – früher
auch induktive Definition genannt
– ist ein der vollständigen Induktion analoges Verfahren, bei der ein Term durch
einen Rekursionsanfang und einen Rekursionsschritt definiert wird. Ein
konstruktiver Beweis mit vollständiger Induktion kann eine rekursive Berechnung
ersparen. Zum Beispiel erspart die Gaußsche
Summenformel eine rekursive Berechnung der Summe
über den Rekursionsanfang
und den Rekursionsschritt
.
Die rekursive Definition hat wie die Induktion allerlei differenzierte Varianten.



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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 11.06. 2020