Schnittprinzip
Das Schnittprinzip (englisch free-body principle, principle of intersection) ist ein grundlegendes Verfahren in der Mechanik, insbesondere in der Statik. Es wird sowohl zur Bestimmung von Lagerreaktionen als auch von örtlichen Beanspruchungen in einem belasteten Objekt verwendet. Durch das gedankliche Freischneiden eines Teilobjekts von einem Objekt weg oder aus diesem heraus wird dieses seiner Untersuchung zugänglicher.
Die an den Schnittflächen des Teilobjekts anzubringenden äußeren Schnittkräfte und -momente halten als Schnittreaktionen seiner Belastung (seinen eingeprägten Kräften und Momenten und den Lagerreaktionen) das Gleichgewicht. Das Objekt kann ein Festkörper, eine Flüssigkeit, ein Gas oder ein System aus solchen sein.
Francis Bacon war der Erste, der 1600 erkannte, dass man "die Natur zerschneiden müsse, um Naturerscheinungen analysieren zu können". Es folgten Leonhard Euler (1707 bis 1783) und Joseph-Louis Lagrange (1736–1813), die das Schnittprinzip entwickelten.
Geschichte
Die Erkenntnis über den Vorteil der Zerlegung wird Francis Bacon zugeschrieben
„das Prinzip der Zerlegung […] blieb den Alten ganz verborgen, erst der große englische Naturphilosoph Bacon of Verulam sprach es um 1600 aus: 'Man müsse die Natur zerschneiden.' Als Ganzes wären uns fast alle Naturerscheinungen unverständlich, sie wären so kompliziert und mannigfaltig, daß der Mensch bald jeden Versuch eines Verständnisses aufgeben müßte.“
H. Bertram zitiert Isaac Newton mit:
„Auch NEWTON schreibt bereits 1687 (S. 380):
'Ferner lernen wir aus den Erscheinungen, daß sich wechselseitig berührende Teilchen getrennt werden können.'“
Diese Erkenntnis schlug sich in Newtons Prinzip Actio und Reactio nieder.
Leonhard Euler entwickelte darauf aufbauend 1752 das Schnittprinzip, um ausgedehnte (auch deformierbare oder flüssige) Körper behandeln zu können: Wird ein beliebiger Teil eines Körpers in Gedanken herausgeschnitten, befolgt er für sich die newtonschen Gesetze der Mechanik, wobei die auf ihn wirkenden Kräfte die sind, die der restliche Körper an den Schnittflächen auf ihn ausübt (zuzüglich eventueller äußerer Kräfte wie Gewichtskraft etc.).
Augustin-Louis Cauchy wandte dieses Schnittprinzip erfolgreich auch auf mechanische Spannungen an, die über die Schnittflächen verteilt sind. Entsprechend wird dieses Schnittprinzip auch als Spannungsprinzip von Euler-Cauchy bezeichnet.
Allgemeines
Die mechanischen Wechselwirkungen finden immer zwischen materiellen Körpern oder den Teilchen, aus denen sie bestehen, statt. Drückt z. B. ein Teilchen T1 auf ein anderes T2 mit einer Kraft F, so tritt die Kraft F gleichzeitig auch an T1 als Wirkung von T2 auf, und zwar als eine Druckkraft in Richtung des Teilchens T1.
Beide Kräfte sind nach dem Prinzip „Actio und Reactio“ immer entgegengesetzt gleich groß.
An einem gegen andere Massen abgegrenzten System von Massen, sind zwei Arten von Kräften zu unterscheiden: Zum Einen gibt es die inneren Kräfte, die zwischen jeweils zwei zum System gehörenden Massen wirken und daher immer paarweise entgegengesetzt auftreten. Zum Anderen gibt es die äußeren Kräfte, die zwischen jeder Systemmasse und einer sich außerhalb des Systems befindenden Masse wirken und die daher am System nur einmal auftreten. In der Summe heben sich die inneren Kräfte immer paarweise auf, so dass nur die äußeren Kräfte stehen bleiben.
Anwendung in der Kontinuumsmechanik
Aus Sicht der Kontinuumsmechanik kann das gesamte Universum als ein Kontinuum mit mehr oder weniger festen Bestandteilen angesehen werden. Die daraus hervor gehenden Theorien sind jedoch formal aufwendig und werden für die meisten, lokalen Untersuchungen nicht benötigt. Stattdessen werden materielle Körper im Allgemeinen mit Hilfe des Schnittprinzips eingeführt. Aus dem Kontinuum wird durch Vorgabe einer Begrenzung der Körper herausgeschnitten, wodurch das Kontinuum in den Körper und seine Umgebung zerlegt wird. Die Begrenzung ist weitestgehend beliebig und kann der jeweiligen Aufgabenstellung angepasst werden.
Die inneren und äußeren Wechselwirkungen sind im Kontinuum immer flächig oder räumlich verteilt und werden, falls nötig, über entsprechende Gebiete zu Resultierenden integriert.
Es können auch, wie in Abb. 2, (infinitesimal) kleine Teilkörper herausgelöst werden, um Bewegungsgleichungen der materiellen Punkte des Körpers herzuleiten, siehe beispielsweise Seilstatik und Cauchy-Eulersche Bewegungsgesetze. Insbesondere das Cauchy’sche Fundamentaltheorem zeigt die unbegrenzte Anwendbarkeit des Schnittprinzips in der Kontinuumsmechanik.
Anwendung in der Technik
In der technischen Mechanik und Baustatik interessieren beim Freischneiden vor allem die Beanspruchungen an einer Stelle in einem Bauteil oder in einem System aus Bauteilen, die den an dieser Stelle anzubringenden Schnittreaktionen entsprechen.
Lageplan
Ein Lageplan (siehe Abb. 3) zeigt die räumliche Anordnung des betrachteten Körpers oder Systems. In ihm wird die Schnittführung eingezeichnet und gekennzeichnet.
Der/die gedankliche/n Schnitt/e trennt/en den betrachteten Körper (das obere Seil in Abb. 3) von seiner Umgebung oder von einem Teil seiner Umgebung (vom Fass in Abb. 3; ). Die Trennlinie umfasst die gesamte weggeschnittene Umgebung (geschlossene Linie), die meistens aber nicht vollständig eingezeichnet wird (nur der Teil durch das obere Seil in Abb. 3).[1]
Freikörperbild, Schnittreaktionen
Der Lageplan wird zum sogenannten Freikörperbild abstrahiert. Vom freigeschnittenen Körper genügt die symbolische Darstellung der Schnittstelle (Schnittfläche). Von der weggeschnittenen Umgebung bleibt nur das für die Ermittlung der von ihr ausgehenden Schnittreaktionen unbedingt nötige Gegenständliche in Andeutung übrig (in Abb. 4 Fass, Rampenoberfläche und Rückhalteseil aus Abb. 3).
Mit Hilfe des Freikörperbildes ist die Ermittlung der Schnittreaktionen relativ leicht möglich (in Abb. 4 die Zugkraft F am Seil; Z ist die innere Kraft im Seil).
Im Allgemeinen ist zu beachten:
- Fest verbundene Stäbe, Balken und andere feste Körper übertragen Kräfte und Momente.
- Seile, Ketten, Treibriemen und ähnliche biegeschlaffe Strukturen übertragen nur Zugkräfte in Seilrichtung. Durch Rollen werden solche Seilkräfte umgelenkt, bei Reibungsfreiheit ändert sich dabei ihr Betrag nicht.
- Ein Pendelstab, der an beiden Enden gelenkig gelagert ist, überträgt nur Zug- und Druckkräfte entlang seiner Achse.
- Gelenke übertragen – je nach Typ – einige Kräfte und Momente nicht. Andere Kräfte und Momente können aber – je nach Typ – übertragen werden.
- Kontaktkräfte an glatten, reibungsfreien Flächen wirken immer senkrecht zu den Flächen.
- Genauso üben Flüssigkeiten und Gase ihren statischen Druck immer senkrecht zu den benetzten Flächen aus.
- Reibkräfte wirken immer tangential zur Kontaktfläche entgegengesetzt zur Bewegungsrichtung des Körpers, an dem sie angreifen.
Zur Orientierung erhält die Zeichnung ein Koordinatensystem. In den verschiedenen Disziplinen (Baustatik, Maschinenbau, Punktmechanik) gibt es unterschiedliche Arten der Darstellung und Interpretation der Zeichen in den Skizzen.
Abbildung der Körper
Das Freikörperbild ist eine Prinzipskizze, bei der es auf maßstabgerechte Darstellung nicht ankommt. Die einzelnen Körper werden skizziert, wobei Arme und Säulen durchaus zu Linien reduziert und ausgedehnte Körper – wie in Abb. 5 – auf Punkte zusammengezogen werden. Bei komplexen Bauteilen mit vielen Teilkörpern ähnelt ein Freikörperbild einer Explosionszeichnung, und es ist eine Sache der Geschicklichkeit, das Freikörperbild übersichtlich zu gestalten.
Abbildung der Kräfte und Momente
Kräfte werden als Pfeile, Streckenlasten als miteinander verbundene Pfeile und Momente als Doppelpfeile oder als um eine Drehachse gebogene einfache Pfeile dargestellt, siehe Abb. 6. Weil die relative Position der Kraftangriffspunkte und die Wirkungslinien der Kräfte für ein Kräftesystem von Belang sind, müssen die Angriffspunkte und ihre relativen Positionen aus dem Freikörperbild ersichtlich sein. Beim Eintrag der Kräfte muss bedacht werden, ob nur ermittelt werden soll, ob der Körper im Gleichgewicht ist, ob die Körper deformierbar sind oder als starr angenommen werden dürfen. Bei letzteren und allgemein bei Gleichgewichtsfragen dürfen Momente frei und Kräfte entlang ihrer Wirkungslinien verschoben werden. Bei der Ermittlung von Beanspruchungen und Deformationen dürfen die Kraftangriffspunkte nicht verlegt werden.
nicht Darzustellendes
Das Freikörperbild ist nur eine von mehreren Zeichnungen, die für die Lösung mechanischer Systeme erstellt werden.
Die folgenden Merkmale von Systemen sollen in ihren Freikörperbildern ausdrücklich nicht vorkommen:
- nicht zum betrachteten System gehörende, insbesondere „weggeschnittene“ Körper (Die von ihnen ausgeübten Kräfte sind bereits eingetragen. Es besteht die Gefahr, Kräfte doppelt zu berücksichtigen.),
- Neben-, Rand- und andere Zwangsbedingungen sowie Lager (Stattdessen sind die entsprechenden Zwangskräfte einzutragen.),
- Kräfte und Momente, die der Körper auf seine Umgebung ausübt (Weil diese Kräfte und Momente nach dem Prinzip Actio und Reaction entgegengesetzt gleich groß sind zu denen, die auf den Körper ausgeübt werden, würden sich alle Kräfte und Momente auslöschen. Es gäbe keine eingeprägten Kräfte mehr.),
- innere Kräfte und Momente (Diese treten nur an Schnittflächen auf. Im Körper eingetragene innere Kräfte lassen befürchten, dass sie als eingeprägte Kräfte missverstanden werden.)
Diese auszuschließenden Details können bei Bedarf in anderen, ergänzenden Zeichnungen dargestellt werden.
Konkrete Abbildungen
Bisweilen werden Belastungen, lagerreaktionen, Beanspruchungen und auch Schnittreaktionen vereinfachend in konkretere Abbildungen (z.B. technische Zeichnungen) eingetragen, wie die Bilder unten zeigen. Der Überblick geht dabei gegenüber Lageplänen und insbesondere Freikörperbildern leicht verloren.
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Es tritt sogar die Gefahr auf, dass manche Kräfte bei Anwendung des Schnittprinzips doppelt als eingeprägte Kräfte berücksichtigt werden, beispielsweise die Lagerreaktionen im linken Bild, die Seilkräfte im mittleren und die Auftriebskräfte im rechten Bild.
Siehe auch
Anmerkungen
- ↑ Den zu betrachteten, bereits freigeschnittenen Körper nochmals zu schneiden, sollte unterlassen werden. Dabei können leicht Fehler auftreten, insbesondere dann, wenn in ihn inzwischen vereinfachende Annahmen eingeflossen sind.
- ↑ Die kurze Linie zwischen den beiden Kraftvektoren deutet an, dass man mitunter von den beiden Ufern eines Schnittes spricht, von denen man dem einen (rechts in Abb.4) die Schnittreaktionen, dem anderen (links) die an der Schnittfläche des freigesschnittenen Teils vorhandenen inneren Kräfte und Momente bzw. Spannungen zuordnet.
- ↑ Die Kraftpfeile N und R stellen die Lagerreaktionen dar, die sich mit nicht eingezeichneten, sich ebenfalls aus der Gewichtskraft des Fasses ergebenden Kräften auf das Lager (Rampe und Gegenseil) kompensieren.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 17.04. 2024