Spezifischer Drehwinkel
Spezifischer Drehwinkel |
Beispiele für die Angabe des spezifischen Drehwinkels [α] einer chiralen Substanz inklusive der Messbedingungen. Oben: positives Vorzeichen, 25 °C Messtemperatur, gelbes Natriumlicht (Natrium-D-Linie), Konzentration 2 g Substanz gelöst zu 100 ml in Wasser. Unten: negatives Vorzeichen, 20 °C Messtemperatur, 589 nm Wellenlänge, Konzentration 4 g Substanz gelöst zu 100 ml in Chloroform. |
Der spezifische Drehwinkel ,
oft auch spezifische Drehung genannt, ist eine physikalische
Größe in der Polarimetrie,
der die optische
Aktivität einer chemischen
Substanz oder ihrer Lösung
angibt.
Der Drehwinkel
auch Drehung oder Drehwert genannt, ist eine Messgröße. Er wird
mit Hilfe eines Polarimeters
bestimmt und gibt die Drehung der Ebene von linear
polarisiertem Licht beim Durchgang durch eine optisch aktive Substanz
an.
Drehwinkel
Der Drehwinkel
trägt üblicherweise die Einheit Grad
und hat ein Vorzeichen.
Wird die Ebene des Lichts beim Blick in Richtung der Lichtquelle im
Uhrzeigersinn gedreht, ist das Vorzeichen positiv (+) und man spricht von einer
Rechtsdrehung. Im umgekehrten Fall ist das Vorzeichen negativ (−), man spricht
von einer Linksdrehung. Reinstoffe,
deren Moleküle eine Drehspiegelachse
besitzen – und nur diese – haben einen Drehwinkel von 0°, sind also optisch
inaktiv.
Racemate
(1:1-Gemische von Enantiomeren) haben auch
einen Drehwert von 0°, da sich die Drehwinkel der Enantiomeren gegenseitig
aufheben. Viele Naturstoffe
(Alkaloide, Aminosäuren,
Terpene,
Zucker etc.) sind im Unterschied
dazu jedoch chiral
und kommen in der Natur fast immer als enantiomerenreine
Stoffe vor, die einen Drehwert
besitzen.
Spezifischer Drehwinkel
Der gemessene Drehwinkel
ist abhängig von der verwendeten Probe und den genutzten Messbedingungen im Polarimeter. Neben der
Konzentration der chemischen Substanz und der durchstrahlten Probendicke hängt
der Wert von dem verwendeten Lösemittel
(wenn verwendet), der Temperatur und der Wellenlänge
der verwendeten Lichtquelle ab. Um dennoch Substanzen miteinander vergleichen zu
können, wurde der spezifische Drehwinkel
eingeführt, der sich durch das Biot-Gesetz (nach Jean-Baptiste Biot)
wie folgt bestimmen lässt:
Reine Flüssigkeiten:
Analog dazu für Lösungen:
mit
- dem gemessenen Drehwinkel
; üblicherweise in Grad
- der durchstrahlten Dicke
; üblicherweise in Dezimeter (dm)
- der Dichte
einer reinen Flüssigkeit; üblicherweise in Gramm (g) je Milliliter (ml)
- der Massenkonzentration
der Lösung; üblicherweise in Gramm (g) Substanz je Milliliter (ml) Lösung
Wie der (absolute) Drehwinkel wird auch der spezifische Drehwinkel mit positivem Vorzeichen (+) angegeben, wenn die Verbindung rechtsdrehend ist, d.h., die Drehung erfolgt mit Blick gegen die Strahlrichtung im Uhrzeigersinn. Ein negatives Vorzeichen erhalten hingegen linksdrehende Verbindungen mit einer Drehung gegen den Uhrzeigersinn. Spiegelbild-Isomere (Enantiomere) haben daher zwar den gleichen Betrag, aber unterschiedliches Vorzeichen.
Aus der Einheitenrechnung
der obigen Gleichung und den verwendeten Einheiten der Messparameter ergibt sich
für den spezifischen Drehwinkel
die Einheit Grad mal Milliliter je Dezimeter und Gramm
(°·ml·dm−1·g−1).
Durch kürzen erhält man daraus in SI-Einheiten
°·cm2· 10 g−1 bzw. rad·m2·kg−1.
Hierbei ist anzumerken, dass in der Fachliteratur häufig Angaben in Grad oder
dimensionslos zu finden sind, die nicht die korrekte Dimension des spezifischen
Drehwinkels wiedergeben. Es handelt sich vielmehr um auf die üblichen
Messbedingungen
(°·ml·dm−1·g−1 für reine Flüssigkeiten oder Lösungen bzw.
°·ml·g−1·mm−1 für Feststoffe) normierten Werte, die nur
unter deren Nennung korrekt zugeordnet werden können. Auch wenn diese Form der
Angabe bequemer und weit verbreitet ist, sei an dieser Stelle wegen der erhöhten
Gefahr einer Fehlzuordnung von deren Verwendung abgeraten.
Die Wellenlänge
des verwendeten Lichts und die Messtemperatur
fließen nicht in die Berechnung des spezifischen Drehwinkels ein – ein solches
Modell für alle Substanzen und Konzentrationen existiert noch nicht und wäre
sehr komplex. Die Messbedingungen werden stattdessen dem spezifischen Drehwert
als Index bzw. als Hochzahl angefügt:
.
Die Angabe der Messtemperatur
erfolgt hierbei üblicherweise in Grad
Celsius (°C), daher wird häufig nur der Zahlwert der Temperatur angegeben,
beispielsweise 20 für 20 °C:
.
Analog dazu entfällt auch bei der Wellenlänge des Lichts
,
üblicherweise in Nanometer (nm), die Einheitenangabe:
.
Des Weiteren wird bei Messungen mit gelben Licht der Na-D-Linie (589,3 nm)
oft das Kürzel
statt der Wellenlänge 589 nm verwendet.
Da auch das verwendete Lösungsmittel großen Einfluss auf den spezifischen
Drehwert haben kann (vgl. Tabelle), muss dieses zusätzlich angegeben werden.
Denn für einen Stoff X ist
eigentlich eine intensive
Größe, unter Umständen hängt
aber doch von der Konzentration ab; deshalb sollte die Konzentration bei der
Messung angegeben werden. Ein Lösemittel kann auch chemische Reaktionen
auslösen, siehe Mutarotation.
Bei der einzeiligen Angabe erfolgt die Nennung des verwendeten Lösungsmittels
und der Massenkonzentration
erfolgt in einer nachgestellten Klammer, beispielsweise für 10,3 g
L-Alanin gelöst
in 100 ml Wasser gemessen bei 25 °C mit Licht der Na-D-Linie:
Es sei auch hier darauf hingewiesen, dass die Einheit der verwendeten Konzentration häufig entfällt oder separat genannt wird.
Substanz | Konzentration | Lösungsmittel | |
---|---|---|---|
α-D-Glucose | n.a. | Wasser | +112,2 |
β-D-Glucose | n.a. | Wasser | +17,5 |
D-Glucose im Lösungsgleichgewicht (Mutarotation) |
n.a. | Wasser | +52,5 |
Saccharose | n.a. | Wasser | +66,4 |
Vitamin D | n.a. | Ethanol | +102,5 |
n.a. | Aceton | +82,6 | |
n.a. | Chloroform | +52,0 |
Molarer spezifischer Drehwinkel
Gelegentlich werden molare spezifische Drehwinkel angegeben, da sie einen besseren Vergleich unterschiedlicher optisch aktiver Verbindungen ermöglichen.
- mit M als molare Masse
Dieser Drehwinkel wird auch molare Drehung oder Molrotation
genannt.
Als Symbole werden auch ,
und nach IUPAC
verwendet.
Anwendung in Pharmazie und Chemie
Mit Hilfe des spezifische Drehwinkels lassen sich chirale Arzneistoffe identifizieren und ihre Reinheit kontrollieren.
Bei enantioselektiven Synthesen hat man früher mit Hilfe des Drehwinkels die optische Reinheit op (englisch optical purity) des hergestellten Stoffes bestimmt: wenn der gemessene Drehwert bei bekannten Substanzen – z.B. Naturstoffen – identisch mit dem höchsten Literaturdrehwert war, klassifizierte man die optische Reinheit mit 100 %. Heute werden solche analytischen Untersuchungen meist chromatographisch (Dünnschichtchromatographie nach dem Prinzip der chiralen Ligandenaustauschchromatographie, Gaschromatographie, Hochdruckflüssigkeitschromatographie) unter Verwendung einer chiralen stationären Phase durchgeführt.
In der Lebensmittelchemie wird mittels der Polarimetrie die Konzentration von Zuckerlösungen bestimmt (Saccharimetrie).
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 14.02. 2024