3. L. Feuerbach und J. Dietzgen über das Ding an sich | Inhalt | 5. Absolute und relative Wahrheit, oder über den von A. Bogdanow bei Engels entdeckten Eklektizismus

4. Gibt es eine objektive Wahrheit!

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Bogdanow erklärt: „Für mich enthält der Marxismus die Negation der unbedingten Objektivität einer jeden wie immer gearteten Wahrheit, die Negation jeglicher ewigen Wahrheiten." („Empiriomonismus", Buch III, S. IV/V.) Was heißt das: unbedingte Objektivität? Eine „Wahrheit für alle Ewigkeit" ist eine „objektive Wahrheit in der absoluten Bedeutung des Wortes", sagt ebenda Bogdanow, wobei er lediglich eine „objektive Wahrheit nur im Rahmen einer bestimmten Epoche" anerkennen will.

Hier sind offenkundig zwei Fragen miteinander vermengt: l. Gibt es eine objektive Wahrheit, d. h., kann es in den menschlichen Vorstellungen einen Inhalt geben, der vom Subjekt unabhängig ist, der weder vom Menschen noch von der Menschheit abhängig ist? 2. Wenn ja, können dann die menschlichen Vorstellungen, die die objektive Wahrheit ausdrücken, sie auf einmal, vollständig, unbedingt, absolut oder nur annähernd, relativ ausdrücken? Diese zweite Frage ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen absoluter und relativer Wahrheit.

Die zweite Frage beantwortet Bogdanow klar, offen und bestimmt dahingehend, daß er die geringste Annahme einer absoluten Wahrheit ab-

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lehnt und Engels wegen dieser Annahme des Eklektizismus bezichtigt. Über diese Entdeckung eines Engelsschen Eklektizismus durch A. Bogdanow werden wir noch gesondert sprechen. Jetzt bleiben wir bei der ersten Frage, die Bogdanow, ohne es direkt auszusprechen, ebenfalls negativ entscheidet. Denn man kann das Element des Relativen* in diesen oder jenen menschlichen Vorstellungen verneinen, ohne die objektive Wahrheit zu verneinen; aber man kann nicht die absolute Wahrheit verneinen, ohne daß man die Existenz der objektiven Wahrheit verneint.

„... Ein Kriterium der objektiven Wahrheit", schreibt Bogdanow etwas weiter, auf Seite IX, „im Beltowschen Sinne gibt es nicht, die Wahrheit ist eine ideologische Form - die organisierende Form der menschlichen Erfahrung ..."

Weder der „Beltowsche Sinn" hat hier etwas zu schaffen, denn es handelt sich um eine der philosophischen Grundfragen, und keineswegs um Beltow, noch auch das Kriterium der Wahrheit, das man gesondert behandeln muß, ohne diese Frage mit der zu vermengen, ob es eine objektive Wahrheit gibt. Bogdanows negative Antwort auf diese letztere Frage ist klar: Wenn die Wahrheit nur eine ideologische Form ist, dann kann es keine Wahrheit geben, die vom Subjekt, von der Menschheit unabhängig wäre, denn weder Bogdanow noch wir kennen eine andere als die menschliche Ideologie. Und noch klarer geht Bogdanows negative Antwort aus der zweiten Hälfte seines Satzes hervor: Wenn die Wahrheit eine Form der menschlichen Erfahrung ist, dann kann es also keine von der Menschheit unabhängige Wahrheit, kann es keine objektive Wahrheit geben.

Bogdanows Verneinung der objektiven Wahrheit ist Agnostizismus und Subjektivismus. Die Absurdität dieser Verneinung erhellt schon aus dem oben erwähnten Beispiel einer naturgeschichtlichen Wahrheit. Die Naturwissenschaft läßt keinen Zweifel darüber zu, daß ihre Feststellung, die Erde habe vor der Menschheit existiert, eine Wahrheit ist. Mit der materialistischen Erkenntnistheorie verträgt sich das durchaus: die Existenz eines von den Widerspiegelnden unabhängigen Widergespiegelten (die Unabhängigkeit der Außenwelt vom Bewußtsein) ist die Grundthese des Materialismus. Die Feststellung der Naturwissenschaft^ daß die Erde vor der Menschheit existiert hat, ist eine objektive Wahrheit. Mit der Philoso-


* Hier ist im Text offenbar ein Irrtum unterlaufen; sinngemäß müßte es heißen „des Absoluten". Die Red.

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phie der Machisten und ihrer Lehre von der Wahrheit ist diese These der Naturwissenschaft unvereinbar: Wenn die Wahrheit die organisierende Form der menschlichen Erfahrung ist, so kann die Behauptung von der Existenz der Erde außerhalb jeder menschlichen Erfahrung nicht wahr sein.

Aber noch mehr. Wenn die Wahrheit nur die organisierende Form der menschlichen Erfahrung ist, dann ist also auch die Lehre, sagen wir, des Katholizismus51 eine Wahrheit. Denn es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß der Katholizismus eine „organisierende Form der menschlichen Erfahrung" ist. Bogdanow fühlte wohl selbst diesen himmelschreienden Fehler in seiner Theorie, und es ist äußerst interessant zu beobachten, wie er sich aus dem Sumpf, in den er geraten war, herauszuwinden suchte.

„Die Grundlage der Objektivität", lesen wir im ersten Buch des „Empiriomonismus", „dürfte in der Sphäre der kollektiven Erfahrung liegen. Als objektiv bezeichnen wir jene Gegebenheiten der Erfahrung, die sowohl für uns als auch für andere Menschen die gleiche Lebensbedeutung haben, jene Gegebenheiten, auf die nicht bloß wir unsere Tätigkeit ohne Widersprüche aufbauen, sondern auf die sich unserer Überzeugung nach auch die anderen Menschen stützen müssen, wenn sie nicht in Widersprüche geraten wollen. Der objektive Charakter der physischen Welt besteht darin, daß sie nicht nur persönlich für mich, sondern für alle existiert" (falsch! sie existiert unabhängig von „allen") „und für alle eine bestimmte Bedeutung hat, meiner Überzeugung nach die gleiche wie für mich. Die Objektivität der physikalischen Reihe ist ihre Allgemeingültigkeit." (S. 25, hervorgehoben von Bogdanow.) „Die Objektivität der physischen Körper, denen wir in unserer Erfahrung begegnen, wird letzten Endes auf Grund gegenseitiger Kontrolle und der Übereinstimmung der Aussagen verschiedener Menschen festgestellt, überhaupt ist die physische Welt die sozial in Übereinstimmung gebrachte, sozial harmonisierte, mit einem Wort sozial organisierte Erfahrung." (S. 36, hervorgehoben von Bogdanow.)

Wir wollen nicht wiederholen, daß dies eine von Grund aus falsche, idealistische Definition ist, daß die physische Welt unabhängig von der Menschheit: und von der menschlichen Erfahrung existierte daß die physische Welt auch schon existiert hat, als es noch keine „Soialität" und

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keine „Organisation" der menschlichen Erfahrung geben konnte usw. Verweilen wir jetzt dabei, die machistische Philosophie von einer anderen Seite aus zu entlarven: die Objektivität wird hier so definiert, daß auch religiöse Lehren, die zweifelsohne „Allgemeingültigkeit" besitzen usw., unter diese Definition fallen. Hören wir weiter, was Bogdanow sagt: „Wir erinnern den Leser noch einmal daran, daß ,objektive' Erfahrung durchaus nicht dasselbe ist wie ,soziale' Erfahrung ... Die soziale Erfahrung ist bei weitem nicht ganz sozial organisiert und enthält immer verschiedene Widersprüche, so daß bestimmte Teile der sozialen Erfahrung mit anderen Teilen derselben nicht übereinstimmen; Waldteufel und Hausgeister können in der Sphäre der sozialen Erfahrung eines gegebenen Volkes oder einer gegebenen Volksgruppe, zum Beispiel der Bauernschaft, existieren; doch braucht man sie deshalb noch nicht in die sozial organisierte oder objektive Erfahrung einzuschließen, denn sie harmonieren nicht mit der übrigen kollektiven Erfahrung und lassen sich in ihre organisierenden Formen, zum Beispiel in die Kette der Kausalität, nicht einfügen." (45.)

Es ist uns gewiß sehr angenehm, daß Bogdanow selber die soziale Erfahrung in bezug auf Waldteufel, Hausgeister u. a. m. in die objektive Erfahrung „nicht einschließt". Doch diese im Sinne der Ablehnung des Fideismus wohlgemeinte kleine Korrektur berichtigt nicht im geringsten den Grundfehler der ganzen Bogdanowschen Position. Die Bogdanowsche Definition der Objektivität und der physischen Welt ist auf keinen Fall haltbar; denn „allgemeingültig" sind die religiösen Lehren in größerem Ausmaße als die Lehren der Wissenschaft: der größere Teil der Menschheit hält sich bis heute noch an die ersteren. Dir Katholizismus ist durch seine jahrhundertelange Entwicklung „sozial organisiert, harmonisiert und in Übereinstimmung gebracht"; er »fügt sich ein" in die „Kette der Kausalität", und zwar auf unzweifelhafteste Weise, denn die Religionen sind nicht ohne Ursache entstanden, sie erhalten sich unter den gegenwärtigen Verhältnissen durchaus nicht zufällig in der Masse des Volkes, und die Philosophieprofessoren passen sich ihnen ganz „gesetzmäßig" an. Wenn diese zweifellos allgemeingültige und zweifellos hoch organisierte, sozial­religiöse Erfahrung mit der „Erfahrung" der Wissenschaft „nicht harmoniert", so besteht zwischen diesen beiden ein prinzipieller, fundamentaler Unterschied, den Bogdanow verwischte, als er die objektive Wahrheit

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ablehnte. Und so sehr Bogdanow sich auch „korrigieren" mag, wenn er sagt, daß Fideismus oder Pfaffentum mit der Wissenschaft nicht harmonieren, so bleibt dennoch die unzweifelhafte Tatsache bestehen, daß Bogdanows Verneinung der objektiven Wahrheit mit dem Fideismus völlig „harmoniert". Der moderne Fideismus verwirft die Wissenschaft durchaus nicht; er verwirft nur die „übermäßigen Ansprüche" der Wissenschaft, und zwar den Anspruch auf objektive Wahrheit. Wenn es eine objektive Wahrheit gibt (wie die Materialisten meinen), wenn nur die Naturwissenschaft allein, indem sie die Außenwelt in der menschlichen „Erfahrung" abbildet, fähig ist, uns die objektive Wahrheit zu vermitteln, so ist damit jeglicher Fideismus unbedingt verworfen. Wenn es aber keine objektive Wahrheit gibt, wenn die Wahrheit (die wissenschaftliche eingeschlossen) nur die organisierende Form der menschlichen Erfahrung ist, so wird eben damit die Grundthese des Pfaffentums anerkannt, wird diesem Tür und Tor geöffnet, wird Raum geschaffen für die „organisierenden Formen" der religiösen Erfahrung.

Es fragt sich nun, ob diese Verneinung der objektiven Wahrheit von Bogdanow persönlich stammt, der sich nicht als Machist bekennen will, oder ob sie sich aus den Grundlagen der Lehre von Mach und Avenarius ergibt. Diese Frage kann nur im letzteren Sinne beantwortet werden. Wenn in der Welt nur die Empfindung existiert (Avenarius, 1876), wenn die Körper Empfindungskomplexe sind (Mach in der „Analyse der Empfindungen"), so leuchtet ein, daß wir es hier mit philosophischem Subjektivismus zu tun haben, der unausweichlich zur Verneinung der objektiven Wahrheit führt. Und wenn die Empfindungen als „Elemente" bezeichnet werden, die in der einen Verbindung das Physische, in der anderen das Psychische ergeben, so wird dadurch, wie wir gesehen haben, der grundlegende Ausgangspunkt des Empiriokritizismus nicht verworfen, sondern nur verwirrt. Die Quelle unserer Kenntnisse sind nach Mach und Avenarius die Empfindungen. Sie stellen sich folglich auf den Standpunkt des Empirismus (alles Wissen stammt aus der Erfahrung) oder des Sensualismus (alles Wissen stammt aus den Empfindungen). Aber dieser Standpunkt führt zu dem Unterschied der philosophischen Grundrichtungen, Idealismus und Materialismus, beseitigt diesen Unterschied jedoch nicht, so sehr man auch bemüht sein mag, ihn in eine „neue" sprachliche Hülle („Elemente") zu kleiden. Sowohl der Solipsist, d.h. der subjektive Idealist,

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als auch der Materialist können die Empfindungen als Quelle unserer Kenntnisse anerkennen. Sowohl Berkeley als auch Diderot sind von Locke ausgegangen. Die erste Annahme der Erkenntnistheorie besteht ohne Zweifel darin, daß die Empfindungen die einzige Quelle unserer Kenntnisse sind. Nachdem Mach diese erste These anerkannt hat, verwirrt er die zweite wichtige These, nämlich die der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben oder die Quelle der menschlichen Empfindungen ist. Von den Empfindungen ausgehend, kann man die Linie des Subjektivismus einschlagen, die zum Solipsismus führt („die Körper sind Komplexe oder Verbindungen von Empfindungen"), man kann aber auch die Linie des Objektivismus einschlagen, die zum Materialismus führt (die Empfindungen sind Abbilder der Körper, der Außenwelt). Für den ersten Standpunkt - für den Agnostizismus oder, wenn man etwas weiter geht, für den subjektiven Idealismus - kann es keine objektive Wahrheit geben. Für den zweiten Standpunkt, d. h. für den Materialismus, ist die Anerkennung der objektiven Wahrheit wesentlich. Diese alte philosophische Frage nach den zwei Tendenzen, oder richtiger: nach den zwei möglichen Folgerungen aus den Annahmen des Empirismus und des Sensualismus wird von Mach weder gelöst noch aus der Welt geschafft noch überwunden, sondern durch das Herumreiten auf dem Wort „Element" u. dgl. verwirrt. Die Verneinung der objektiven Wahrheit durch Bogdanow ist das unvermeidliche Resultat des ganzen Machismus, nicht aber eine Abweichung vom Machismus.

Engels bezeichnet in seinem „Ludwig Feuerbach" Hume und Kant als Philosophen, „die die Möglichkeit einer Erkenntnis der Welt oder doch einer erschöpfenden Erkenntnis bestreiten". Engels stellt also das Hume und Kant Gemeinsame in den Vordergrund und nicht das, was sie trennt. Engels weist hierbei darauf hin, daß „das Entscheidende zur Widerlegung dieser" (der Humeschen und Kantschen) „Ansicht bereits von Hegel gesagt ist" (S. 15/16 der vierten dtsch. Aufl.).52 Bei dieser Gelegenheit dürfte es nicht uninteressant sein zu erwähnen, daß Hegel, der den Materialismus „das konsequente System des Empirismus" nannte, schrieb: „Für den Empirismus ist überhaupt [das Äußerliche] das Wahre, und wenn dann auch ein übersinnliches zugegeben wird, so [soll doch eine Erkenntnis desselben" (d.h. des Übersinnlichen) „nicht stattfinden können], sondern man sich lediglich an [das der Wahrnehmung Angehörige]zu halten

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haben. Dieser Grundsatz aber in seiner [Durchführung] hat dasjenige gegeben, was man später als 'Materialismus bezeichnet hat. Diesem Mate­rialismus gilt die Materie als solche als [das wahrhaft Objektive]."*

Alle Kenntnisse stammen aus der Erfahrung, aus Erfahrungen, aus Wahrnehmungen. Das stimmt. Es fragt sich aber, ob die objektive Realität „der Wahrnehmung angehört". d.h., ob sie die Quelle der Wahrnehmung ist. Wenn ja. so sind Sie Materialist. Wenn nein, so sind Sie inkonsequent und müssen unvermeidlich zum Subjektivismus, zum Agnostizismus gelangen, gleichviel, ob Sie die Erkennbarkeit des Dinges an sich, die Objektivität von Zeit, Raum und Kausalität verneinen (nach Kant) oder ob Sie (nach Hume) nicht einmal den Gedanken an das Ding an sich zulassen. Die Inkonsequenz Ihres Empirismus, Ihrer Philosophie der Erfahrung wird in diesem Fall darin bestehen, daß Sie den objektiven Inhalt in der Erfahrung, die objektive Wahrheit in der Erfahrungserkenntnis leugnen.

Die Anhänger der Linie Kants und Humes (unter ihnen auch Mach und Avenarius, sofern sie nicht reine Berkeleyaner sind) bezeichnen uns Materialisten als „Metaphysiker", weil wir die objektive Realität anerkennen, die uns in der Erfahrung gegeben ist, weil wir eine objektive, vom Menschen unabhäng;iae Quelle unserer Empfindungen anerkennen. Wir Materialisten bezeichnen mit Engels die Kantianer und Humeisten als Agnostiker, weil sie die objektive Realität als Quelle unserer Empfindungen leugnen. Agnostiker ist ein griechisches Wort: a bedeutet griechisch nicht, gnosis - Wissen. Der Agnostiker sagt: Ich weiß nicht, ob es eine objektive Realität gibt, die durch unsere Empfindungen widergespiegelt, abgebildet wird, ich erkläre, daß es unmöglich ist, dies zu wissen (siehe weiter oben die Ausführungen, mit denen Engels die Stellung des Agnostikers darlegt). Hieraus folgt die Verneinung der objektiven Wahrheit durch den Agnostiker und die Toleranz, die spießerhafte, philiströse, feige Toleranz gegenüber der Lehre von Waldteufeln, Hausgeistern, katholischen Heiligen und ähnlichen Dingen. Mach und Avenarius wiederholen mit ihrer prätentiösen „neuen" Terminologie, ihrem angeblich „neuen" Gesichtspunkt in Wirklichkeit, nur verworren und konfus, die Antwort des Agnostikers; Einerseits sind die Körper Empfindungskomplexe (reiner Subjektivismus, reiner Berkeleyanismus); anderseits kann man, wenn man die Empfindungen in


* Hegel, „Enzyklopädie der philosophischen Wissenscharten im Grundrisse", Werke, VI. Band (l 843), S. 83.Vgl. S.122.

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Elemente umtauft, ihre Existenz unabhängig von unseren Sinnesorganen denken!

Die Machisten lieben Deklamationen darüber, daß sie Philosophen seien, die dem Zeugnis unserer Sinnesorgane völlig vertrauen, daß sie die Welt wirklich für das halten, was sie uns zu sein scheint, voller Töne, Farben usw. Für die Materialisten hingegen, sagen sie, sei die Welt tot, ohne Töne und Farben, für sie sei die Welt an sich von der Welt, wie sie erscheint, verschieden u. a. m. In solchen Deklamationen ergeht sich zum Beispiel J. Petzoldt in seiner „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung" und im „Weltproblem von positivistischem Standpunkte aus" (1906). Dem Petzoldt plappert das Herr Wiktor Tschernow nach, der von der „neuen" Idee begeistert ist. In Wirklichkeit jedenfalls sind die Machisten Subjektivisten und Agnostiker, denn sie trauen dem Zeugnis unserer Sinnesorgane ungenügend, sie halten den Sensualismus nicht konsequent ein. Sie erkennen die vom Menschen unabhängige objektive Realität als Quelle unserer Empfindungen nicht an. Sie sehen in den Empfindungen nicht ein getreues Abbild dieser objektiven Realität, geraten in direkten Widerspruch mit der Naturwissenschaft und öffnen dem Fideismus Tür und Tor. Für den Materialisten ist die Welt im Gegenteil reicher, lebendiger, mannigfaltiger, als sie scheint, denn jeder Schritt der wissenschaftlichen Entwicklung entdeckt in ihr neue Seiten. Für den Materialisten sind unsere Empfindungen Abbilder der einzigen und letzten objektiven Realität - der letzten nicht in dem Sinne, daß sie schon restlos erkannt ist, sondern in dem Sinne, daß es eine andere außer ihr nichts gibt und nicht geben kann. Dieser Standpunkt versperrt den Zutritt unwiderruflich nicht nur jeglichem Fideismus, sondern auch jener Professorenscholastik, die, ohne in der objektiven Realität die Quelle unserer Empfindungen zu sehen, durch geschraubte Wortkonstruktionen den Begriff des Objektiven als des Allgemeingültigen, sozial Organisierten usw. usf. „ableitet" und nicht fähig, manchmal auch nicht willens ist, die objektive Wahrheit von der Lehre über die Waldteufel und Hausgeister zu trennen.

Die Machisten zucken verächtlich die Achseln über die „veralteten" Ansichten der „Dogmatiker", der Materialisten, die sich an den durch die „neueste Wissenschaft" und den „neuesten Positivismus" angeblich widerlegten Begriff der Materie halten, über die neuen Theorien der Physik, die die Struktur der Materie betreffen, werden wir noch gesondert

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sprechen. Es ist aber völlig unzulässig, die Lehre von dieser oder jener Struktur der Materie mit einer erkenntnistheoretischen Kategorie zu verwechseln, die Frage nach den neuen Eigenschaften der neuen Arten der Materie (zum Beispiel der Elektronen) mit der alten Frage der Erkenntnistheorie, der Frage nach den Quellen unseres Wissens, nach der Existenz der objektiven Wahrheit u. dgl. m. zu verwechseln, wie die Machisten dies tun. Mach hat „die Weltelemente entdeckt": das Rote, das Grüne, das Harte, das Weiche, das Laute, das Lange usw., sagt man uns. Wir fragen: Ist dem Menschen, wenn er das Rote sieht, das Harte empfindet usw., die objektive Realität gegeben oder nicht? Diese uralte philosophische Frage ist von Mach verwirrt worden. Ist sie nicht gegeben, dann gleitet ihr zusammen mit Mach unvermeidlich in den Subjektivismus und Agnostizismus ab und liefert euch der wohlverdienten Umarmung der Immanenzphilosophen, d. h. der philosophischen Menschikow aus. Ist sie aber gegeben, dann braucht man für diese objektive Realität einen philosophischen Begriff, und dieser Begriff ist längst, vor sehr langer Zeit geschaffen worden, dieser Begriff ist eben die Materie. Die Materie ist eine philosophische Kategorie zur Bezeichnung der, objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben ist. die von unseren Empfindungen kopiere fotografiert, abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert. Davon zu reden, daß ein solcher Begriff „veralten" kann, ist daher kindisches Geschwätz, eine sinnlose Wiederholung der Argumente der reaktionären Modephilosophie. Konnte der Kampf zwischen Idealismus und Materialismus in den zwei Jahrtausenden der Entwicklung der Philosophie veralten? Der Kampf zwischen den Tendenzen oder Linien eines Plato und eines Demokrit in der Philosophie? Der Kampf zwischen Religion und Wissenschaft? Zwischen der Verneinung der objektiven Wahrheit und ihrer Anerkennung? Der Kampf zwischen den Anhängern eines übersinnlichen Wissens und seinen Gegnern?

Die Frage, ob der Begriff Materie anzuerkennen oder abzulehnen sei, ist die Frage, ob der Mensch dem Zeugnis seiner Sinnesorgane vertrauen soll, ist die Frage nach der Quelle unserer Erkenntnis, eine Frage, die seit Urbeginn der Philosophie gestellt und erörtert wurde, eine Frage, die zwar von den Clowns im Professorenamte auf tausenderlei Art vermummt werden, aber nicht veralten kann, so wie die Frage nicht veralten kann, ob Gesicht und Tastsinn, Gehör und Geruch die Quelle der menschlichen Er-

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kenntnis sind. Unsere Empfindungen für Abbilder der Außenwelt halten, die objektive Wahrheit anerkennen, auf dem Standpunkt der materialistischen Erkenntnistheorie Stehen, das ist ein und dasselbe. Um dies zu illustrieren, möchte ich hier nur je ein Zitat aus Feuerbach und aus zwei Handbüchern der Philosophie anführen, damit der Leser sehen kann, wie elementar diese Frage ist.

„Wie abgeschmackt", schrieb L. Feuerbach, „der Empfindung das Evangelium, die [Verkündung] eines objektiven Heilandes abzusprechen."* Das ist, wie man sieht, eine seltsame, monströse Terminologie, aber eine vollkommen klare philosophische Linie: Die Empfindung offenbart dem Menschen die objektive Wahrheit. „Meine Empfindung ist subjektiv, aber ihr [Grund] ein objektiver." (S. 195.) Man vergleiche die weiter oben zitierte Stelle, in der Feuerbach sagt, daß der Materialismus von der sinnlichen Welt als einer [ausgemachten], objektiven Wahrheit ausgehe.

Der Sensualismus, lesen wir im „Philosophischen Lexikon" von Franck**, ist die Lehre, die alle unsere Ideen „aus der Erfahrung der Sinne" ableitet und „die Erkenntnis auf die Empfindung zurückführt". Der Sensualismus könne ein subjektiver (Skeptizismus53 und Berkeleyanismus), ein moralischer (Epikureismus54) und ein objektiver sein. „Der objektive Sensualismus ist der Materialismus, denn die Materie oder die Körper sind nach Ansicht der Materialisten die einzigen Objekte, die auf unsere Sinne wirken können" (atteindre nos sens).

„Behauptete der Sensualismus", sagt Schwegler in seiner „Geschichte der Philosophie" (es handelt sich um die französische Philosophie am Ende. des 18. Jahrhunderts), „die Wahrheit oder das Seiende könne bloß durch die Sinne wahrgenommen werden, so durfte man diesen Satz nur objektiv fassen und man hat die These des Materialismus: nur das Sinnliche ist; es gibt kein anderes Sein als das materielle Sein."***

Das sind Abc-Wahrheiten, die bereits in die Schulbücher Eingang gefunden haben, aber von unseren Machisten vergessen worden sind.


* Feuerbach, Sämtliche Werke, X. Band, 1866, S. 194/195.
** „Dictionnaire des sciences philosophiques" [Lexikon der philosophischen Wissenschaften], Paris 1875.
*** Dr. Albert Schwegler, „Geschichte der Philosophie im Umriß", 15. Aufl., S.194.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 25.01.2013