Teil XII. Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen * Versailler Vertrag * Teil XIV. Bürgschaften für die Durchführung

Friedensvertrag von Versailles
["Versailler Vertrag"].

Vom 28. Juni 1919.


[...]

Teil XIII.
Arbeit.

Abschnitt I.
Organisation der Arbeit.

  Da der Völkerbund die Begründung des Weltfriedens zum Ziele hat, und ein solcher Friede nur auf dem Boden der sozialen Gerechtigkeit aufgebaut werden kann,
  da ferner Arbeitsbedingungen bestehen, die für eine große Anzahl von Menschen mit so viel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, daß eine den Weltfrieden und die Welteintracht gefährdende Unzufriedenheit entsteht, und da eine Verbesserung dieser Bedingungen  dringend erforderlich ist, zum Beispiel hinsichtlich der Regelung der Arbeitszeit, der Festsetzung einer Höchstdauer der Arbeitstage und der Arbeitswoche, der Regelung des Arbeitsmarkts, der Verhütung der Arbeitslosigkeit, der Gewährleistung von Löhnen, welche angemessene Lebensbedingungen ermöglichen, des Schutzes der Arbeiter gegen allgemeine und Berufskrankheiten sowie gegen Arbeitsunfälle, des Schutzes der Kinder, Jugendlichen und Frauen, der Alters- und Invalidenunterstützung, des Schutzes der Interessen der im Ausland beschäftigten Arbeiter, der Anerkennung des Grundsatzes der Freiheit gewerkschaftlichen Zusammenschlusses, der Gestaltung des beruflichen und technischen Unterrichts und ähnlicher Maßnahmen,
  da endlich die Nichtannahme einer wirklich menschlichen Arbeitsordnung durch irgendeine Regierung die Bemühungen der anderen, auf die Verbesserung des Loses der Arbeiter in ihrem eigenen Lande bedachten Nationen hemmt,
  haben die H o h e n  v e r t r a g s c h l i e ß e n d e n  T e i l e, geleitet sowohl von den Gefühlen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit als auch von dem Wunsche, einen dauernden Weltfrieden zu sichern, folgendes vereinbart:

Kapitel I.
Organisation.

Artikel 387.

  Es wird ein ständiger Verband gebildet, der an der Verwirklichung des in der Einleitung dargelegten Planes zu arbeiten berufen ist.
  Die ursprünglichen Mitgliedstaaten des Völkerbundes sind ursprünglichen Mitglieder dieses Verbandes, später bringt die Mitgliedschaft im Völkerbund die Mitgliedschaft in dem genannten Verbande mit sich.

Artikel 388.

Der ständige Verband besitzt:
    1. eine Hauptversammlung von Vertretern der Mitgliedstaaten,
    2. ein Internationales Arbeitsamt unter der Leitung des im Artikel 393 vorgesehenen Verwaltungsrats.

Artikel 389.

  Die Hauptversammlung von Vertretern der Mitgliedstaaten hält je nach Bedarf, aber mindestens einmal jährlich ihre Tagungen ab. Sie setzt sich aus je vier Vertretern eines jeden Mitgliedstaates zusammen. Von diesen sind zwei Regierungsvertreter; von den zwei anderen vertritt je einer die Arbeitgeber und je einer die Arbeitnehmer eines jeden Mitgliedstaats.
  Jedem Vertreter können technische Ratgeber beigegeben  werden. Ihre Zahl darf höchstens zwei für jeden einzelnen Gegenstand betragen, der auf der Tagesordnung der Tagung steht. Sind Fragen, die besonders Frauen angehen, in der Hauptversammlung zu erörtern, so muß wenigstens eine der zu technischen Ratgebern bestimmten Personen eine Frau sein.
  Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, diejenigen Vertreter und technischen Ratgeber, die nicht Regierungsvertreter sind, im Einverständnis mit den maßgebenden Berufsverbänden der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer des betreffenden Landes zu bestimmen, vorausgesetzt, daß solche Verbände bestehen.
  Die technischen Ratgeber dürfen nur auf Antrag des Vertreters, dem sie beigeordnet sind, und mit besonderer Genehmigung des Vorsitzenden der Versammlung das Wort ergreifen. An den Abstimmungen nehmen sie nicht teil.
  Ein Vertreter kann durch eine an den Vorsitzenden gerichtete schriftliche Mitteilung einen seiner technischen Ratgeber als seinen Stellvertreter bezeichnen; der Stellvertreter kann in dieser Eigenschaft an den Beratungen und Abstimmungen teilnehmen.
  Die Namen der Vertreter und ihrer technischen Ratgeber werden dem Internationalen Arbeitsamt durch die Regierung eines jeden Mitgliedstaats mitgeteilt.
  Die Vollmachten der Vertreter und ihrer technischen Ratgeber werden von der Versammlung geprüft; diese kann mit Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen die Zulassung eines jeden Vertreters oder technischen Ratgebers ablehnen, der nach ihrer Entscheidung nicht gemäß den Bestimmungen dieses Artikels ernannt worden ist.

Artikel 390.

Jeder Vertreter hat das Recht, unabhängig für sich selbst über alle der Versammlung unterbreiteten Fragen abzustimmen.
  Sollte einer der Mitgliedstaaten einen nicht der Regierung angehörenden Vertreter, auf den er einen Anspruch hat, nicht bestimmt haben, so steht zwar dem andern, nicht der Regierung angehörenden Vertreter das Recht zur Teilnahme an Beratungen der Versammlung zu, aber kein Stimmrecht.
  Lehnt die Versammlung, kraft der ihr durch Artikel 389 verliehenen Vollmacht die Zulassung eines Vertreters eines der Mitgliedstaaten ab, so sind die Bestimmungen dieses Artikels so anzuwenden, als ob der betreffende Vertreter nicht ernannt worden wäre.

Artikel 391.

  Die Tagungen der Versammlung finden am Sitze des Völkerbundes oder an jedem anderen Ort statt, der in einer früheren Tagung durch die Versammlung mit Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen bezeichnet worden ist.

Artikel 392.

  Das Internationale Arbeitsamt wird am Sitz des Völkerbundes errichtet und bildet einen Bestandteil der Bundeseinrichtungen.

Artikel 393.

  Das Internationale Arbeitsamt tritt unter die Leitung eines aus vierundzwanzig Mitgliedern bestehenden Verwaltungsrats; diese Mitglieder werden auf Grund folgender Bestimmungen ernannt:
  Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes setzt sich folgendermaßen zusammen:
    zwölf Personen als Vertreter der Regierungen,
    sechs Personen, die von den zur Hauptversammlung abgeordneten Vertretern der Arbeitsgeber gewählt werden,
    sechs Personen, die von den zur Hauptversammlung abgeordneten Vertretern der Angestellten und Arbeiten gewählt werden.
  Von den zwölf die Regierungen vertretenden Personen werden acht durch die Mitgliedstaaten ernannt, denen die größte industrielle Bedeutung zukommt, und vier durch die Mitgliedstaaten, die zu diesem Zwecke von den Regierungsvertretern in der Hauptversammlung unter Ausschluß der Vertreter der vorerwähnten acht Mitgliedstaaten bestimmt worden sind.
  Etwaige Streitigkeiten über die Frage, welche Mitgliedstaaten die größte industrielle Bedeutung zukommt, werden durch den Rat des Völkerbundes entschieden.
  Die Dauer des Auftrages der Mitglieder des Verwaltungsrats beträgt drei Jahre. Die Art der Besetzung erledigter Sitze und andere Fragen gleicher Art können von dem Verwaltungsrat, vorbehaltlich der Zustimmung der Hauptversammlung, geregelt werden.
  Der Verwaltungsrat wählt [engl. Text: "von Zeit zu Zeit"] eines seiner Mitglieder zum Vorsitzenden und stellt seine Geschäftsordnung auf. Er bestimmt selbst den Zeitpunkt seines jedesmaligen Zusammentritts. Eine besondere Tagung ist jedesmal abzuhalten, wenn wenigstens zehn Mitglieder des Verwaltungsrats schriftlich einen entsprechenden Antrag stellen.

Artikel 394.

  An der Spitze des Internationalen Arbeitsamts steht ein Leiter; er wird durch den Verwaltungsrat ernannt, empfängt von ihm seine Anweisungen und ist ihm gegenüber sowohl für den Geschäftsgang als auch für die Erfüllung aller anderen ihm anvertrauten Aufgaben verantwortlich.
  Der Leiter oder sein Stellvertreter wohnen allen Sitzungen des Verwaltungsrats bei.

Artikel 395.

  Das Personal des Internationalen Arbeitsamts wird von dem Leiter ausgewählt. Soweit es mit der gebotenen Rücksicht auf die Erzielung von möglichst guten Arbeitsleistungen vereinbar ist, hat sich die Wahl auf Personen verschiedener Staatsangehörigkeit zu erstrecken. Eine bestimmte Anzahl dieser Personen müssen Frauen sein.

Artikel 396.

  Die Tätigkeit des Internationalen Arbeitsamts besteht in der Sammlung und Weiterleitung aller Unterlagen, die sich auf die internationale Regelung der Lage der Arbeiter und der Arbeitsverhältnisse beziehen, sowie besonders in der Bearbeitung der Fragen, die den Beratungen der Hauptversammlung zum Zweck des Abschlusses internationaler Übereinkommen vorgelegt werden sollen, sowie endlich in der Durchführung aller besonderen, von der Hauptversammlung angeordneten Untersuchungen.
  Das Internationale Arbeitsamt hat die Aufgabe, die Tagesordnung für die Tagungen der Hauptversammlung vorzubereiten.
  Es erfüllt ferner gemäß den Bestimmungen dieses Teiles des gegenwärtigen Vertrags die ihm bei allen internationalen Streitigkeiten zufallenden Obliegenheiten.
  Es verfaßt und veröffentlich in französischer, englischer und jeder anderen Sprache, die der Verwaltungsrat für angebracht hält, eine in regelmäßiger Wiederkehr erscheinende Zeitschrift, die sich den die Industrie und Arbeit betreffenden Fragen von internationalem Interesse widmet.
  Überhaupt hat es neben der in diesem Artikel bezeichneten Tätigkeit alle anderen Befugnisse und Obliegenheiten, die ihm zu übertragen die Hauptversammlung für angebracht hält.

Artikel 397.

  Die Ministerien der Mitgliedstaaten, zu deren Zuständigkeit die Arbeiterfragen gehören, können mit dem Leiter durch Vermittlung des Vertreters ihrer Regierung beim Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamts oder in Ermangelung eines solchen Vertreters durch Vermittlung eines anderen dazu geeigneten, von der beteiligten Regierung damit beauftragten Beamten unmittelbaren Geschäftsverkehr unterhalten.

Artikel 398.

  Das Internationale Arbeitsamt kann die Mitwirkung des Generalsekretärs des Völkerbunds bei allen Fragen in Anspruch nehmen, bei denen er zu einer solchen Mitwirkung in der Lage ist.

Artikel 399.

  Jeder der Mitgliedstaaten bezahlt die Reise- und Aufenthaltskosten seiner Vertreter und ihrer technischen Ratgeber sowie gegebenenfalls die Kosten seiner an den Tagungen der Hauptversammlung und des Verwaltungsrats teilnehmenden Beauftragten.
  Alle anderen Kosten des Internationalen Arbeitsamts, der Tagungen der Hauptversammlung oder des Verwaltungsrats werden dem Leiter durch den Generalsekretär des Völkerbunds zu Lasten des allgemeinen Haushalts des Völkerbunds erstattet.
  Der Leiter ist dem Generalsekretär des Völkerbunds für die Verwendung aller Gelder, die ihm nach den Bestimmungen dieses Artikels ausgezahlt werden, rechenschaftspflichtig.

Kapitel II.
Verfahren.

Artikel 400.

Nach Prüfung aller Vorschläge, die von den Regierung eines der Mitgliedstaaten oder von irgendeinem im Artikel 389 bezeichneten Berufsverband für die auf die Tagesordnung zu bringenden Punkte gemacht sind, wird die Tagesordnung der Tagungen der Hauptversammlung vom Verwaltungsrat festgesetzt.

Artikel 401.

  Der Leiter versieht das Amt des Sekretärs der Hauptversammlung; er hat die Tagesordnung jeder Tagung vier Monate vor deren Eröffnung an alle Mitgliedstaaten und durch deren Vermittlung an die Vertreter, die nicht Regierungsvertreter sind, sobald sie bestimmt sind, gelangen zu lassen.

Artikel 402.

  Die Regierung eines jeden Mitgliedstaats hat das Recht, gegen die Aufnahme einer oder mehrerer der vorgesehenen Punkte in die Tagesordnung der Tagung Einspruch zu erheben. Die Einspruchsbegründung ist in einer an den Leiter zu richtenden erläuternden Denkschrift darzulegen. Dem Leiter liegt es ob, die Denkschrift den Mitgliedstaaten des ständigen Verbandes mitzuteilen.
  Die beanstandeten Punkte bleiben trotzdem auf der Tagesordnung, wenn die Versammlung mit Zweidrittelmehrheit der durch die anwesenden Vertreter abgegebenen Stimmen so beschließt.
  Jede Frage, deren Prüfung die Hauptversammlung außerhalb des im vorigen Absatz vorgesehenen Verfahrens mit der gleichen Zweidrittelmehrheit beschließt, ist auf die Tagesordnung der folgenden Tagung zu setzen.

Artikel 403.

  Die Hauptversammlung stellt ihre Geschäftsordnung auf; sie wählt ihren Vorsitzenden; sie kann Ausschüsse einsetzen, denen die Erstattung von Berichten über alle von ihr für prüfungsbedürftig befundenen Fragen obliegt.
  Die einfache Mehrheit der von den anwesenden Mitgliedern der Hauptversammlung abgegebenen Stimmen ist entscheidend, es sei denn, daß eine größere Mehrheit ausdrücklich durch andere Artikel dieses Abschnitts des gegenwärtigen Vertrags vorgeschrieben ist.
  Die Abstimmung ist unwirksam, wenn die Zahl der abgegebenen Stimmen geringer ist als die Hälfte der in der Tagung anwesenden Vertreter.

Artikel 404.

  Die Hauptversammlung kann den von ihr eingesetzten Ausschüssen technische Ratgeber mit beratender, aber nicht beschließender Stimme beigeben.

Artikel 405.

  Erklärt sich die Hauptversammlung für die Annahme von Anträgen, die in Verbindung mit einem Gegenstand der Tagesordnung stehen, so hat sie zu bestimmen, ob diese Anträge die Form haben sollen: a) eines "Vorschlags", der den Mitgliedstaaten zur Prüfung vorzulegen ist, damit er in der Form eines Landesgesetzes oder anderswie zur Ausführung gelangt; b) oder eines Entwurfs zu einem durch die Mitgliedstaaten zu ratifizierenden internationalen Übereinkommen.
  In beiden Fällen bedarf es zur Annahme eines Vorschlags oder eines Entwurfs zu einem Übereinkommen in der Endabstimmung der Hauptversammlung einer Zweidrittelmehrheit der Stimmen der anwesenden Vertreter.
  Bei der Aufstellung eines Vorschlags oder eines Entwurfs zu einem Übereinkommen, das allgemeine Geltung erhalten soll, hat die Hauptversammlung auf diejenigen Länder Rücksicht zu nehmen, in denen das Klima, die unvollkommene Entwicklung der gewerblichen Organisation oder anderer Sonderumstände die Verhältnisse der Industrie wesentlich abweichend gestalten. Sie hat in solchen Fällen die Abänderung in Anregungen zu bringen, die sie angesichts der besonderen Verhältnisse dieser Länder für notwendig erachtet.
  Eine Ausfertigung des Vorschlags oder des Entwurfs des Übereinkommens  wird vom Vorsitzenden der Hauptversammlung oder dem Leiter unterzeichnet und dem Generalsekretär des Völkerbunds behändigt. Dieser übermittelt jedem Mitgliedstaat eine beglaubigte Abschrift des Vorschlags oder des Entwurfs des Übereinkommens.
  Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, spätestens ein Jahr nach Schluß der Tagung der Hauptversammlung (oder wenn dies infolge von außergewöhnlichen Umständen innerhalb eines Jahres unmöglich ist, sobald es angängig ist, aber unter keinen Umständen später als achtzehn Monate nach Schluß der Tagung der Hauptversammlung), den Vorschlag oder den Entwurf zu einem Übereinkommen der zuständigen Stelle oder den zuständigen Stellen zu unterbreiten, damit er zum Gesetz erhoben oder eine anderweitige Maßnahme getroffen wird.
  Handelt es sich um einen Vorschlag, so haben die Mitgliedstaaten den Generalsekretär von den getroffenen Maßnahmen in Kenntnis zu setzen.
  Handelt es sich um den Entwurf zu einem Übereinkommen, so hat der Mitgliedstaat, der die Zustimmung der zuständigen Stelle oder Stellen erhält, die förmliche Ratifikation des Übereinkommens dem Generalsekretär mitzuteilen und die erforderlichen Maßregeln zur Durchführung der Bestimmungen des betreffenden Übereinkommens zu treffen.
  Hat ein Vorschlag keine gesetzgeberische oder andere Maßnahme zur Folge, die ihm Wirkung verschaffen, oder findet ein Entwurf zu einem Übereinkommen nicht die Zustimmung der dafür zuständigen Stelle oder Stellen, so hat der Mitgliedstaat keine weitere Verpflichtung.
  Handelt es sich um einen Bundesstaat, dessen Befugnis zum Beitritt zu einem Arbeitsübereinkommen bestimmten Beschränkungen unterliegt, so hat die Regierung das Recht, den Entwurf eines Übereinkommens, der unter diese Beschränkungen fällt, als einfachen Vorschlag zu betrachten; in diesem Falle gelangen die Bestimmungen dieses Artikels über Vorschläge zur Anwendung.
  Der vorstehende Artikel ist nach folgendem Grundsatz auszulegen:
  In keinem Falle begründet die Annahme eines Vorschlags oder des Entwurfs eines Übereinkommens durch die Hauptversammlung für einen Mitgliedstaate die Verpflichtung, den durch seine Gesetzgebung den betreffenden Arbeitern schon gewährten Schutz zu vermindern.

Artikel 406.

  Jedes dergestalt ratifizierte Übereinkommen wird vom Generalsekretär des Völkerbunds verzeichnet; es verpflichtet aber nur die Mitgliedstaaten, von denen es ratifiziert worden ist.

Artikel 407.

  Vereinigt ein Entwurf bei der endgültigen Gesamtabstimmung nicht die Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen auf sich, so steht den Mitgliedstaaten des ständigen Verbandes, die dies wünschen, frei, ein Sonderübereinkommen mit dem gleichen Inhalt zu schließen.
  Jedes derartige Übereinkommen ist durch die beteiligten Regierungen dem Generalsekretär des Völkerbundes mitzuteilen, der es verzeichnen läßt.

Artikel 408.

  Jeder Mitgliedstaate verpflichtet sich, dem Internationalen Arbeitsamt einen jährlichen Bericht über seine Maßnahmen zur Durchführung der Übereinkommen, denen er beigetreten ist, vorzulegen. Die Form dieser Berichte bestimmt der Verwaltungsrat; sie müssen die von ihm geforderten Einzelheiten enthalten. Der Leiter legt der nächstfolgenden Tagung der Hauptversammlung einen zusammenfassenden Auszug aus diesen Berichten vor.

Artikel 409.

  Jede an das Internationale Arbeitsamt gerichtete Beschwerde eines Berufsverbandes von gewerblichen Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, die sich darauf gründet, daß irgendein Mitgliedstaat nicht in der beschriebenen Weise ein von ihm angenommenes Übereinkommen ausgeführt habe, kann durch den Verwaltungsrat der Regierung, gegen die die Beschwerde sich richtet, übermittelt werden. Diese Regierung kann ersucht werden, sich zur Sache zu erklären.

Artikel 410.

  Geht von der in Frage kommenden Regierung in angemessener Frist keine Erklärung ein, oder hält der Verwaltungsrat die eingehende Erklärung für unzureichend, so hat der Verwaltungsrat das Recht, die eingegangene Beschwerde und gegebenenfalls die erteilte Antwort zu veröffentlichen.

Artikel 411.

  Jeder Mitgliedstaat kann beim Internationalen Arbeitsamt eine Beschwerde gegen einen anderen Mitgliedstaat vorbringen, der nach seiner Ansicht ein von beiden Teile auf Grund der vorstehenden Artikel ratifiziertes Übereinkommen nicht in befriedigender Weise durchführt.
  Der Verwaltungsrat kann, wenn er es für angebracht hält, sich mit der Regierung, gegen die die Beschwerde sich richtet, in der im Artikel 409 bezeichneten Weise in Verbindung setzen; bevor er nach dem weiter unten angegebenen Verfahren einen Untersuchungsausschuß  mit der Angelegenheit betraut.
  Hält es der Verwaltungsrat für nötig, die Beschwerde der in Frage kommenden Regierung mitzuteilen, oder läuft bei ihm nach erfolgter Mitteilung keine befriedigende Antwort innerhalb einer angemessenen Frist ein, so kann er die Bildung eines Untersuchungsausschusses herbeiführen, dem es obliegt, die streitige Frage zu prüfen und darüber zu berichten.
  Das gleiche Verfahren kann von dem Verwaltungsrat entweder von Amts wegen oder auf die Beschwerde eines Vertreters, der Mitglied der Hauptversammlung ist, eingeschlagen werden.
  Kommt eine auf Grund der Artikel 410 oder 411 aufgeworfene Frage vor den Verwaltungsrat, so hat die in Frage stehende Regierung, falls sie nicht schon einen Angeordneten im Verwaltungsrat hat, das recht, einen Vertreter zur Teilnahme an den betreffenden Beratungen des Verwaltungsrats zu ernennen. Der für diese Verhandlungen bestimmte Zeitpunkt ist der in Frage kommenden Regierung rechtzeitig mitzuteilen.

Artikel 412.

Der Untersuchungsausschuß wird auf folgende Weise gebildet:
  Jeder Mitgliedstaat verpflichtet sich, binnen sechs Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags drei in industriellen Fragen maßgebende Personen zu bezeichnen, eine zur Vertretung der Arbeitgeber, eine zweite zur Vertretung der Arbeitnehmer und eine von beiden unabhängige dritte. Diese Personen stellen zusammen eine Liste auf, aus der die Mitglieder des Untersuchungsausschusses zu wählen sind.
  Der Verwaltungsrat hat das Recht zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Bestellung der bezeichneten Personen vorliegen und mit einer Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen die Ernennung derjenigen abzulehnen, deren Eigenschaften den Anforderungen dieses Artikels nicht genügen.
  Auf Antrag des Verwaltungsrats bestimmt der Generalsekretär des Völkerbunds zur Bildung des Untersuchungsausschusses drei Personen, und zwar je eine aus jeder der drei Klassen der Liste. Außerdem bestimmt er eine der drei Personen zum Vorsitzenden des Ausschusses. Keine der auf diese Weise bestimmten Personen darf zu einem der unmittelbar an der Beschwerde beteiligten Mitgliedstaaten gehören [engl. Text: "darf zu den von einem unmittelbar an der Beschwerde beteiligten Mitgliedstaate zu der Liste benannten Personen gehören"].

Artikel 413.

Wird auf Grund des Artikel 411 eine Beschwerde vor einen Untersuchungsausschuß verwiesen, so verpflichtet sich jeder Mitgliedstaat, gleichviel, ob er unmittelbar an der Beschwerde beteiligt ist oder nicht, dem Ausschuß alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die er zu dem Beschwerdepunkt besitzt.

Artikel 414.

  Nach eingehender Prüfung der Bewerde  erstattet der Untersuchungsausschuß einen Bericht; in diesem legt er seine tatsächlichen Feststellungen, die eine genaue Beurteilung des Streitfalls in seinem ganzen Umfang gestatten, sowie seine Vorschläge zur Zufriedenstellung der beschwerdeführenden Regierung und hinsichtlich der dazu nötigen Fristen nieder.
  Gegebenenfalls hat der Bericht zugleich die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen zu bezeichnen, die der Ausschuß der Regierung, gegen die die Beschwerde sich richtet, gegenüber für angebracht hält und deren Anwendung durch die übrigen Regierungen ihm gerechtfertigt erscheint.

Artikel 415.

  Der Generalsekretär des Völkerbunds teilt den Bericht des Untersuchungsausschusses jeder an dem Streitfall beteiligten Regierung mit und veranlaßt seine Veröffentlichung.
  Jede der beteiligten Regierungen hat dem Generalsekretär des Völkerbunds binnen einem Monat mitzuteilen, ob sie die in dem Ausschußbericht  enthaltenen Vorschläge annimmt oder nicht, und falls sie diese nicht annimmt, ob sie den Streitfall dem ständigen Internationalen Gerichtshof des Völkerbunds zu unterbreiten wünscht.

Artikel 416.

Ergreift ein Mitgliedstaat bezüglich eines Vorschlags oder eines Entwurfs zu einem Übereinkommen die im Artikel 405 vorgesehenen Maßnahmen nicht, so hat jeder andere Mitgliedstaat das Recht, den ständigen Internationalen Gerichtshof anzurufen.

Artikel 417.

Gegen die Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs über eine Beschwerde oder eine ihm gemäß den Artikeln 415 oder 416 unterbreitete Streitfrage ist kein Rechtsmittel gegeben.

Artikel 418.

  Die etwaigen Anträge oder Vorschläge der Untersuchungsausschusses können vom ständigen Internationalen Gerichtshof bestätigt, abgeändert oder aufgehoben werden. Dieser hat gegebenenfalls die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen zu bezeichnen, die er einer schuldigen Regierung gegenüber für angebracht hält und deren Anwendung durch die übrigen Regierungen ihm gerechtfertigt erscheint.

Artikel 419.

  Richtet sich irgendein Mitgliedstaat in der vorgeschriebenen Zeit nicht nach den in dem Berichte des Untersuchungsausschusses oder in der Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs etwa enthaltenen Vorschlägen, so darf jeder andere Mitgliedstaat ihm gegenüber die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen ergreifen, die der Bericht des Ausschusses oder die Entscheidung des Gerichtshofs in diesem Falle für zulässig erklärt hat.

Artikel 420.

  Die schuldige Regierung kann jederzeit den Verwaltungsrat davon in Kenntnis setzen, daß sie die nötigen Maßnahmen getroffen hat, um entweder den Vorschlägen des Untersuchungsausschusses oder denen, die in der Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs niedergelegt sind, Folge zu leisten, und kann den Verwaltungsrat ersuchen, durch den Generalsekretär des Völkerbunds einen Untersuchungsausschuß zur Nachprüfung ihrer Angaben zu berufen. In diesem Falle finden die Bestimmungen der Artikel 412, 413, 414, 415, 417 und 418 Anwendung. Fällt der Bericht des Untersuchungsausschusses oder die Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs zugunsten der schuldigen Regierung aus, so haben die anderen Regierungen sofort die wirtschaftlichen Maßregeln, die sie gegenüber dem betreffenden Staat ergriffen haben, außer Wirkung zu setzen.

Kapitel III.
Allgemeine Vorschriften.

Artikel 421.

  Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, die Übereinkommen, denen sie zugestimmt haben, entsprechend den Bestimmungen dieses Teiles des gegenwärtigen Vertrags  für diejenigen ihrer Kolonien, Besitzungen und Protektorate, die keine völlige Selbstregierung haben, in Kraft zu setzen, jedoch unter den folgenden Vorbehalten:
    1. Die Anwendbarkeit des Übereinkommens darf nicht durch örtliche Verhältnisse ausgeschlossen sein;
    2. die für die Anpassung des Übereinkommens an die örtlichen Verhältnisse erforderlichen Abänderungen dürfen ihm eingefügt werden.
  Jeder Mitgliedstaat hat dem Internationalen Arbeitsamt die von ihm beabsichtigte Entschließung [engl. Text: "Das von ihm Veranlaßte" statt "die von ihm beabsichtigte Entschließung"] hinsichtlich seiner einzelnen Kolonien, Besitzungen und Protektorate, die keine völlige Selbstregierung haben, mitzuteilen.

Artikel 422.

  Abänderungen in diesem Teile des gegenwärtigen Vertrags, die von der Hauptversammlung mit Zweidrittelmehrheit der von den anwesenden Vertretern abgegebenen Stimmen angenommen sind, werden rechtswirksam, sobald sie von den Staaten, deren Vertreter den Rat des Völkerbunds bilden, und von drei Vierteln der Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind.

Artikel 423.

Alle Streitfragen und Schwierigkeiten aus Anlaß der Auslegung dieses Teils des gegenwärtigen Vertrags und der später von den Mitgliedern gemäß diesem Teil geschlossenen Übereinkommen unterliegen der Entscheidung des ständigen Internationalen Gerichtshofs.

Kapitel IV.
Übergangsbestimmungen.

Artikel 424.

  Die erste Tagung der Hauptversammlung findet im Oktober 1919 statt. Ort und Tagesordnung der Tagung ergeben sich aus der beigefügten Anlage.
  Einberufung und Veranstaltung dieser ersten Tagung liegt dafür in der vorerwähnten Anlage bezeichneten Regierung ob. Bei der Beschaffung der Unterlagen wird diese Regierung durch den internationalen Ausschuß unterstützt, dessen Mitglieder in der gleichen Anlage genannt sind.
  Die Kosten dieser ersten Tagung und jeder folgenden bis zu dem Zeitpunkt, wo die notwendigen Kredite in den Haushalt der Völkerbunds aufgenommen werden können, werden mit Ausnahme der Reise- und Aufenthaltskosten der Vertreter und der technischen Ratgeber auf die Mitgliedstaaten nach dem für das Internationale Bureau des Weltpostvereins festgesetzten Schlüssel umgelegt.

Artikel 425.

  Bis zur Errichtung des Völkerbunds werden alle Mitteilungen, die nach den vorstehenden Artikeln an den Generalsekretär des Bundes gerichtet werden sollen, vom Leiter der Internationalen Arbeitsamtes aufbewahrt, der den Generalsekretär davon in Kenntniß zu setzen hat.

Artikel 426.

  Bis zur Errichtung des ständigen Internationalen Gerichtshofs werden die ihm kraft dieses Abschnitts des gegenwärtigen Vertrags zu unterbreitenden Streifragen einem Gericht überwiesen, das aus drei vom Rate des Völkerbunds ernannten Personen besteht.

 

Anlage.

Erste Tagung der Hauptversammlung für Arbeitsfragen 1919.
      Versammlungsort ist Washington.
  Die Regierung der Vereinigten Staaten vom Amerika wird gebeten, die Hauptversammlung einzuberufen.
  Der internationale Veranstaltungsausschuß  besteht aus sieben Personen, von denen je eine von den Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans, Belgiens und der Schweiz ernannt werden. Der Ausschuß kann, wenn er es für nötig hält, andere Mitgliedstaaten auffordern, sich in ihm vertreten zu lassen.
  Die Tagungsordnung ist die folgende:
    1. Durchführung des Grundsatzes des Achtstundentags oder der 48-Stunden-Woche;
    2. Fragen hinsichtlich der Mittel zur Verhütung der Arbeitslosigkeit und zur Beseitigung ihrer Folgen;
    3. Beschäftigung der Frauen:
      a) vor und nach der Niederkunft (mit Einschluß der Frage der Mutterschaftsunterstützung,
      b) Nachtarbeit,
      c) gesundheitsschädliche Arbeiten;
    4. Beschäftigung der Kinder:
      a) Altersgrenze der Zulassung zur Arbeit,
      b) Nachtarbeit,
      c) gesundheitsschädliche Arbeiten;
    5. Ausdehnung und Durchführung der 1906 in Bern angenommenen internationalen Abkommen über das Verbot der Nachtarbeit der gewerblichen Arbeiterinnen und über das Verbot der Verwendung von weißem (gelbem) Phosphor zur Anfertigung von Zündhölzern.

 

Abschnitt II.
Allgemeine Grundsätze.

Artikel 427.

  Die Hohen vertragschließenden Teile haben in Anerkennung dessen, daß das körperliche, sittliche und geistige Wohlergehen der Lohnarbeiter vom internationalen Standpunkt aus von höchster Bedeutung ist, zur Erreichung dieses erhabenen Zieles die in Abschnitt I vorgesehene und dem Völkerbund angegliederte ständige Einrichtung geschaffen.
  Sie erkennen an, daß die Verschiedenheiten des Klimas, der Sitten und Gebräuche, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und industriellen Überlieferung die sofortige Herbeiführung der vollständigen Einheitlichkeit in den Arbeitsverhältnissen erschweren. Aber in der Überzeugung, daß die Arbeit nicht als bloße Handelsware betrachtet werden darf, glauben sie, daß Verfahren und Grundsätze für die Regelung der Arbeitsverhältnisse sich finden lassen, die alle industriellen Gemeinschaften zu befolgen sich bemühen sollen, soweit ihre besonderen Verhältnisse dies gestatten.
  Unter diesen Verfahren und Grundsätzen erscheinen den Hohen vertragschließenden Teilen die folgenden von besonderer und Beschleunigung erheischender Wichtigkeit:
    1. Der oben erwähnte leitende Grundsatz, daß die Arbeit nicht lediglich als Ware oder Handelsgegenstand angesehen werden darf;
    2. das Recht des Zusammenschlusses zu allen nicht dem Gesetz zuwiderlaufenden Zwecken sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber;
    3. die Bezahlung der Arbeiter mit einem Lohne, der ihnen eine nach der Auffassung ihrer Zeit und ihres Landes angemessene Lebensführung ermöglicht;
    4. Annahme des Achtstundentags oder der 48-Stunden-Woche als zu erstrebendes Ziel überall da, wo es noch nicht erreicht ist;
    5. die Annahme einer wöchentlichen Arbeitsruhe von mindestens 24 Stunden, die nach Möglichkeit jedesmal den Sonntag einschließen soll;
    6. die Beseitigung der Kinderarbeit und die Verpflichtung, die Arbeit Jugendlicher beiderlei Geschlechts so einzuschränken, wie es notwendig ist, um ihnen die Fortsetzung ihrer Ausbildung zu ermöglichen und ihre körperliche Entwicklung sicherzustellen;
    7. der Grundsatz gleichen Lohnes ohne Unterschied des Geschlechts für eine Arbeit von gleichem Werte;
    8. die in jedem Lande über die Arbeitsverhältnisse erlassenen Vorschriften haben allen im Lande sich erlaubterweise aufhaltenden Arbeitern eine gerechte wirtschaftliche Behandlung zu sichern;
    9. jeder Staat hat einen Aufsichtdienst einzurichten, an dem auch Frauen teilnehmen, um die Durchführung der Gesetze und Vorschriften für den Arbeiterschutz sicherzustellen.
  Die Hohen vertragschließenden Teile verkünden nicht die Vollständigkeit oder Endgültigkeit dieser Grundsätze und Verfahren, erachten sie jedoch für geeignet, der Politik des Völkerbunds als Richtschnur zu dienen und, im Falle ihrer Annahme durch die dem Völkerbund als Mitglieder angehörenden industriellen Gemeinschaften sowie der Sicherstellung ihrer praktischen Durchführung durch eine entsprechende Aufsichtsbehörde, dauernde Wohltaten unter den Lohnarbeitern der Welt zu verbreiten.

[...]


Quelle: Reichsgesetzblatt 1919, S. 701-747.

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Datum der letzten Änderung : Jena, den : 17.03.2013