6. Die zwei Richtungen in der modernen Physik und der französische Fideismus | Inhalt | 8. Wesen und Bedeutung des „physikalischen" Idealismus

7. Ein russischer „idealistischer Physiker"

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Gewisse bedauerliche Umstände, unter denen ich meine Arbeit schrieb, haben es mir fast unmöglich gemacht, die russische Literatur über die zur Erörterung stehende Frage kennenzulernen. Ich beschränke mich nur auf die Darstellung eines für mein Thema sehr wichtigen Aufsatzes unseres

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bekannten philosophischen Schwarzhunderters Herrn Lopatin: „Ein idealistischer Physiker", veröffentlicht in „Woprossy Filossofii i Psichologii"107 im vorigen Jahr (1907, Sept.-Okt.). Der echt russische philosophische Idealist Herr Lopatin steht zu den modernen europäischen Idealisten ungefähr in demselben Verhältnis wie der „Bund des russischen Volkes"108 zu den westlichen reaktionären Parteien. Um so lehrreicher ist es aber, einen Blick darauf zu werfen, wie gleichartige philosophische Tendenzen in vollständig verschiedenem Kultur- und Sittenmilieu zutage treten. Der Aufsatz des Herrn Lopatin ist, wie die Franzosen sagen, ein éloge, eine Lobrede auf den verstorbenen russischen Physiker N. I. Schischkin (gest. 1906). Herr Lopatin wurde dadurch verführt, daß dieser gebildete Mann, der sich sehr für Hertz und für die neue Physik überhaupt interessierte, nicht nur ein rechter Kadett (S. 339), sondern auch ein zutiefst gläubiger Mensch, ein Verehrer der Philosophie WI. Solowjows usw. usw. war. Indessen verstand es Herr Lopatin, obwohl er sein „Augenmerk" hauptsächlich auf das Grenzgebiet zwischen Philosophischem und Polizeilichem richtete, auch noch einiges Material zur Charakteristik der erkenntins-tbeoretisdien Ansichten des idealistischen Physikers beizutragen. „Er war", schreibt Herr Lopatin, „ein echter Positivist in seinem unermüdlichen Streben nach weitestgehender Kritik der Forschungsmethoden, der Hypothesen und Fakten der Wissenschaft in bezug auf ihre Brauchbarkeit als Mittel und Material zum Aufbau einer einheitlichen, geschlossenen Weltanschauung. In dieser Beziehung war N. I. Schischkin ein absoluter Antipode sehr vieler seiner Zeitgenossen. In meinen früheren Aufsätzen in dieser Zeitschrift habe ich schon mehrmals klarzulegen versucht, aus welchen heterogenen und oft vagen Stoffen eine sogenannte wissenschaftliche Anschauung sich zusammensetzt: dazu gehören sowohl feststehende Tatsachen als auch mehr oder weniger kühne Verallgemeinerungen und für das eine oder das andere wissenschaftliche Gebiet im gegebenen Augenblick bequeme Hypothesen, ja sogar wissenschaftliche Hilfsfiktionen, und das alles wird in den Rang unanfechtbarer objekiver Wahrheiten erhoben, von denen ausgehend man alle anderen Ideen und Bekenntnisse philosophischer und religiöser Art zu beurteilen und alles, was in diesen Wahrheiten nicht enthalten ist, zu verwerfen hat. Unser hochbegabter Denker und Naturforscher Prof. Wl. I. Wernadski zeigte mit mustergültiger Klarheit, wie hohl und unangebracht derartige Ansprüche sind,

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die wissenschaftlichen Anschauungen einer gegebenen geschichtlichen Epoche in ein starres, allgemein verpflichtendes, dogmatisches System zu verwandeln. Solcher Verwandlungen machen sich indessen nicht allein breite Kreise des Leserpublikums" (Fußnote des Herrn Lopatin: „Für diese Kreise ist eine ganze Reihe populärer Bücher geschrieben worden, deren Aufgabe darin besteht, von der Existenz eines alle Probleme lösenden wissenschaftlichen Katechismus zu überzeugen. Typische Werke dieser Art sind: ,Kraft und Stoff' von Büchner oder ,Die Welträtsel' von Haeckel") „und auch nicht allein einzelne Gelehrte der naturwissenschaftlichen Spezialfächer schuldig; viel merkwürdiger ist, daß sich in dieser Richtung gar nicht selten offizielle Philosophen versündigen, die manchmal alle ihre Bemühungen nur darauf richten, zu beweisen, daß sie nichts anderes sagen, als was von den Vertretern der einzelnen Spezialwissenschaften bereits gesagt worden ist, nur daß sie es in ihrer besonderen Sprache sagen.

Bei N. I. Schischkin gab es überhaupt keinen voreingenommenen Dogmatismus. Er war ein überzeugter Verfechter der mechanischen Erklärung der Naturerscheinungen, doch war diese für ihn nur eine Forschungsmethode ..." (341.) Hm, hm,... bekannte Melodien!... „Er dachte ganz und gar nicht daran, daß die mechanische Theorie das eigentliche Wesen der zu erforschenden Erscheinungen aufdeckt, er sah in ihr nur das bequemste und fruchtbarste Mittel ihrer Vereinheitlichung und Begründung für wissenschaftliche Zwecke. Deshalb ist für ihn mechanische Interpretation der Natur und ihre materialistische Auffassung bei weitem nicht ein und dasselbe ..." Ganz so wie bei den Verfassern der „Beiträge ,zur' Philosophie des Marxismus"!... „Ganz im Gegenteil, ihm schien es, daß in den Fragen höherer Ordnung die mechanische Theorie eine streng kritische, ja sogar eine versöhnende Haltung einzunehmen hat..."
In der Sprache der Machisten heißt das die „veraltete, enge und einseitige" Gegenüberstellung von Materialismus und Idealismus „überwinden". „Die Fragen nach dem ersten Anfang und dem letzten Ende der Dinge, nach dem inneren Wesen unseres Geistes, nach der Willensfreiheit, nach der Unsterblichkeit der Seele usw. können nicht im vollen Umfange ihrer Kompetenz unterworfen sein, schon deshalb nicht, weil ihr als Forschungsmethode durch ihre Anwendbarkeit lediglich auf die Tatsachen der physischen Erfahrung natürliche Grenzen gesetzt sind..." (342.) Die

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letzten zwei Zeilen sind zweifellos ein Plagiat aus A. Bogdanows „Empiriomonismus".

„Das Licht", schrieb Schischkin in seinem Aufsatz „Über die psychophysischen Erscheinungen vom Standpunkt der mechanischen Theorie" („Woprossy Filossofii i Psichologii", Heft l, S. 127), „kann als Stoff, als Bewegung, als Elektrizität, als Empfindung betrachtet werden."

Kein Zweifel, daß Herr Lopatin Schischkin ganz mit Recht zu den Positivisten zählte und daß dieser Physiker ganz und gar zur machistischen Schule der neuen Physik gehörte. Schischkin will mit seiner Betrachtung über das Licht sagen, daß die verschiedenen Arten, das Licht zu betrachten, verschiedene, von diesem oder jenem Standpunkt aus gleichermaßen berechtigte Methoden der „Organisierung der Erfahrung" (nach A. Bogdanows Terminologie) oder verschiedene „Verbindungen von Elementen" (nach der Terminologie E. Machs) darstellen und daß in jedem Fall die Lehre der Physiker vom Licht kein Abbild der objektiven Realität sei. Aber die Argumentation Schischkins ist unter aller Kritik. „Das Licht kann als Stoff, als Bewegung betrachtet werden ..." Es gibt in der Natur weder Stoff ohne Bewegung noch Bewegung ohne Stoff. Die erste „Gegenüberstellung" Schischkins ist sinnlos ... „Als Elektrizität..." Die Elektrizität ist eine Bewegung des Stoffes, folglich hat Schischkin auch hier unrecht. Die elektromagnetische Lichttheorie hat den Beweis erbracht, daß Licht und Elektrizität Formen der Bewegung ein und desselben Stoffes (des Äthers) sind... „Als Empfindung ..." Die Empfindung ist ein Abbild der sich bewegenden Materie. Anders als durch Empfindungen können wir weder über irgendwelche Formen des Stoffes noch über irgendwelche Formen der Bewegung etwas erfahren; die Empfindungen werden durch die Wirkung der sich bewegenden Materie auf unsere Sinnesorgane hervorgerufen. Dieser Ansicht ist die Naturwissenschaft. Die Empfindung von rot ist eine Widerspiegelung von Ätherschwingungen mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 450 Billionen in der Sekunde. Die Empfindung von blau widerspiegelt Ätherschwingungen von etwa 620 Billionen in der Sekunde. Die Ätherschwingungen existieren unabhängig von unseren Lichtempfindungen. Unsere Lichtempfindungen hängen von der Wirkung der Ätherschwingungen auf das menschliche Sehorgan ab. Unsere Empfindungen widerspiegeln die objektive Realität, d. h. das, was unabhängig von der Menschheit und von den menschlichen Empfindungen existiert.

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Dieser Ansicht ist die Naturwissenschaft. Die gegen den Materialismus gerichtete Betrachtung Schischkins ist ganz billige Sophistik.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 12.03.2013