1. Streifzüge der deutschen Empiriokritiker in das Gebiet der Gesellschiaftswissenschaften | Inhalt | 3. Von den Suworowschen „Grundlagen der sozialen Philosophie"

2.Wie Bogdanow Marx korrigiert und „weiterentwickelt"

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In seinem Aufsatz „Die Entwicklung des Lebens in Natur und Gesellschaft" (1902. Siehe „Aus der Psychologie der Gesellschaft", S. 35 ff.) zitiert Bogdanow die bekannte Stelle aus dem Vorwort der Arbeit „Zur Kritik"111, in dem der „größte Soziologe", d. h. Marx, die Grundlagen des historischen Materialismus darlegt. Bogdanow zitiert Marx und erklärt, daß „die alte Formulierung des historischen Monismus, wiewohl sie in ihrer Grundlage nicht aufhört, richtig zu sein, uns bereits nicht mehr vollständig befriedigt" (37). Der Verfasser will also Korrekturen vornehmen oder die Theorie weiterentwickeln und dabei von den Grundlagen dieser selben Theorie ausgeben. Die hauptsächliche Schlußfolgerung des Verfassers ist folgende:

„Wir haben gezeigt, daß die gesellschaftlichen Formen zu der umfassenden Gattung der biologischen Anpassungen gehören. Aber damit haben wir das Gebiet der gesellschaftlichen Formen noch nicht deßniert: für eine Definition ist es notwendig, nicht nur die Gattung, sondern auch die Art festzustellen ... In ihrem Kampf ums Dasein können sich die Menschen nicht anders vereinigen als mit Hilfe des Bewußtseins: ohne Bewußtsein gibt es keine Gemeinsamkeit. Deshalb ist das soziale Leben in all seinen Erscheinungen ein bewußt psychisches . . . Die Sozialität ist von der Be­


bliebe, während die sich von diesem Sozialismus „unvorteilhaft unterscheid dende" sozialdemokratische Lehre mit einer „Sklaverei, noch allgemeiner und drückender als in einem monarchischen oder oligarchischen Staat", drohe. Siehe „Erkenntnis und Irrtum", 2. Auflage, 1906, S. 80/81.

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wußtheit untrennbar. Das gesellsdiaftlidhe Sein und das gesellsdfaftlidie Bewußtsein sind im genauen Sinn dieser Worte identisch." (50, 51. Hervorhebungen von Bogdanow.)

Daß diese Schlußfolgerung mit Marxismus nichts gemein hat, darauf hat schon Orthodox hingewiesen („Philosophische Skizzen", St. Peters­burg 1906, S. 183 und vorher). Bogdanow aber nahm einen Fehler in dem Zitat zum Vorwand, um einfach mit einer Schimpferei zu antworten: statt „im genauen Sinn dieser Worte" hatte Orthodox zitiert: „im vollen Sinne". Ein evidenter Fehler, und der Verfasser war durchaus berechtigt, ihn richtigzustellen, aber wenn man deswegen ein Geschrei über „Entstellung", „Unterstellung" u. dgl. erhebt („Empiriomonismus", Buch III, S. XLIV), so bedeutet das einfach, mit armseligen Worten das Wesen der Meinungsverschiedenheiten verkleistern zu wollen. Mag Bogdanow einen noch so „genauen" Sinn der Worte „gesellschaftliches Sein" und „gesellschaftliches Bewußtsein" aushecken, es bleibt unzweifelhaft, daß seine von uns zitierte These falsch ist. Das gesellschaftliche Sein und das gesellschaftliche Bewußtsein sind nicht identisch, ebensowenig, wie Sein überhaupt und Bewußtsein überhaupt identisch sind. Daraus, daß die Menschen als bewußte Wesen in gesellschaftlichen Verkehr treten, folgt keineswegs, daß das gesellschaftliche Bewußtsein mit dem gesellschaftlichen Sein identisch ist. Wenn die Menschen miteinander in Verkehr treten, sind sie sich in allen einigermaßen komplizierten Gesellschaftsformationen - und insbesondere in der kapitalistischen Gesellschaftsformation - nicht bewußt, was für gesellschaftliche Verhältnisse sich daraus bilden, nach welchen Gesetzen sie sich entwickeln usw. Zum Beispiel: der Bauer, der Getreide verkauft, tritt mit den Weltgetreideproduzenten auf dem Weltmarkt in „Verkehr", aber er ist sich dessen nicht bewußt, ebensowenig, wie er sich bewußt ist, welche gesellschaftlichen Beziehungen aus dem Austausch entstehen. Das gesellschaftliche Bewußtsein widerspiegelt das gesellschaftliche Sein - darin besteht die Lehre von Marx. Die Widerspiegelung kann eine annähernd richtige Kopie des Widergespiegelten sein, aber es ist unsinnig, hier von Identität zu sprechen. Das Bewußtsein widerspiegelt überhaupt das Sein - das ist eine allgemeine These des gesamten Materialismus. Ihren direkten und untrennbaren Zusammenhang mit der These des historischen Materialismus, daß das gesellschaftliche Bewußtsein das gesellschaftliche Sein widerspiegelt, nicht zu sehen, ist unmöglich.

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Bogdanows Versuch, auf unmerkliche Weise Marx „im Geiste seiner Grundlagen" zu korrigieren und weiterzuentwickeln, ist eine offensichtliche Entstellung dieser materialistischen Grundlagen im Geiste des Idealismus. Es wäre lächerlich, dies zu leugnen. Erinnern wir uns der Basarowschen Darstellung des Empiriokritizismus (beileibe nicht des Empiriomonismus! Besteht doch zwischen diesen beiden „Systemen" ein so gewaltiger, so gewaltiger Unterschied!): „Die Sinnesvorstellung ist eben die außer uns existierende Wirklichkeit." Das ist offenkundiger Idealismus, die offenkundige Theorie der Identität von Bewußtsein und Sein. Denken wir ferner an die Formulierung des Immanenzphilosophen W. Schuppe (der ebenso eifrig wie Basarow und Co. Stein und Bein schwor, er sei kein Idealist, und ebenso entschieden wie Bogdanow den „genauen" Sinn seiner Worte ausdrücklich betonte): „Sein ist Bewußtsein". Damit vergleiche man nun die "Widerlegung des historischen Materialismus von Marx durch den Immanenzphilosophen Schubert-Soldern:
„Jeder materielle Produktionsprozeß ist stets ein Bewußtseinsvorgang seines Beobachters ... Erkenntnistheoretisch ist also nicht der äußere Produktionsprozeß das prius, sondern das Subjekt resp. die Subjekte, oder mit andren Worten: auch der rein materielle Produktionsprozeß führt" (uns) „nicht aus dem allgemeinen [Bewußtseinszusammenhang] heraus." Siehe zit. Buch: „Das menschliche Glück und die soziale Frage", S. 293 und 295/296.

Mag Bogdanow die Materialisten wegen der „Entstellung seiner Gedanken" verwünschen, soviel er will, keinerlei Verwünschungen aber können an einer einfachen und klaren Tatsache etwas ändern. Die Korrektur an Marx und die Weiterentwicklung von Marx - angeblich im Geiste von Marx - durch den „Empiriomonisten" Bogdanow unterscheidet sich durch nichts Wesentliches von der Widerlegung Marx' durch den Idealisten und erkenntnistheoretischen Solipsisten Schubert-Soldern. Bogdanow versichert, er sei kein Idealist. Schubert-Soldern versichert, er sei Realist (Basarow hat ihm das sogar geglaubt). Heutzutage kann ein Philosoph nicht anders, als sich für einen „Realisten" und „Feind des Idealismus" ausgeben. Es ist an der Zeit, dies zu begreifen, ihr Herren Machisten!

Sowohl die Immanenzphilosophen als auch die Empiriokritiker und der Empiriomonist streiten über Einzelheiten, über Details, über die Formulierung des Idealismus, wir dagegen verwerfen von vornherein alle dieser

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ganzen Dreieinigkeit gemeinsamen Grundlagen ihrer Philosophie. Mag Bogdanow, alle Schlußfolgerungen von Marx akzeptierend, im besten Sinne und mit den besten Absichten die „Identität" von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein predigen; dann werden wir sagen: Bogdanow minus „Empiriomonismus" (richtiger, minus Machismus) ist ein Marxist. Denn diese Theorie der Identität von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein ist totaler "Unsinn, ist eine ausgesprochen reaktionäre Theorie. Wenn einzelne Leute bemüht sind, sie mit dem Marxismus, mit marxistischer Haltung in Einklang zu bringen, so müssen wir zugeben, daß diese Leute besser sind als ihre Theorien, dürfen aber haarsträubende theoretische Entstellungen des Marxismus nicht rechtfertigen.

Bogdanow bringt seine Theorie mit den Schlußfolgerungen von Marx dadurch in Einklang, daß er diesen Schlußfolgerungen die elementare Konsequenz opfert. Jeder einzelne Produzent in der Weltwirtschaft ist sich bewußt, daß er die und die Änderung in die Produktionstechnik hineinbringt, jeder Warenbesitzer ist sich bewußt, daß er die und die Produkte gegen andere austauscht, doch diese Produzenten und Warenbesitzer sind sich nicht bewußt, daß sie dadurch das gesellschaftliche Sein verändern. Die Summe aller dieser Veränderungen in allen ihren Verästelungen hätten innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft auch 70 Marxe nicht bewältigen können. Das Höchste, was geleistet werden konnte, war, daß die Qesetze dieser Veränderungen entdeckt wurden, daß die objektive Logik dieser Veränderungen und ihrer geschichtlichen Entwicklung in den Haupt- und Grundzügen aufgezeigt wurde - objektiv nicht in dem Sinne, daß eine Gesellschaft von bewußten Wesen, von Menschen, existieren und sich entwickeln könnte unabhängig von der Existenz bewußter Wesen (nur diese Albernheit unterstreicht aber Bogdanow gerade mit seiner. „Theorie"), sondern in dem Sinne, daß das gesellschaftliche Sein unabhängig ist von dem gesellschaftlichen Bewußtsein der Menschen. Aus der Tatsache, daß ihr lebt und wirtschaftet, Kinder gebärt und Produkte erzeugt, sie austauscht, entsteht eine objektiv notwendige Kette von Ereignissen, eine Entwicklungskette, die von eurem gesellschaftlichen Bewußtsein unabhängig ist, die von diesem niemals restlos erfaßt wird. Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik der wirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den

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allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewußtsein und das der fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzupassen.

Das alles gibt Bogdanow zu. Was heißt das aber? Das heißt, daß seine Theorie der „Identität von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein" in Wirklidikeit von ihm über Bord geworfen wird, sie bleibt ein leeres scholastisches Anhängsel, ebenso leer, tot und wertlos wie die „Theorie der allgemeinen Substitution" oder die Lehre von den „Elementen", von der „Introjektion" und wie der ganze machistische Unsinn sonst heißen mag. Doch „der Tote packt den Lebenden", das tote scholastische Anhängsel verwandelt die Philosophie Bogdanows gegen seinen Willen und unabhängig von seinem Bewußtsein in ein dienstbares Werkzeug der Schubert-Soldern und der übrigen Reaktionäre, die auf tausenderlei Art und Weise von Hunderten von Professorenkathedern herab eben dieses Tote für das Lebendige ausgeben, es verbreiten und gegen das Lebendige kehren. Bogdanow persönlich ist ein geschworener Feind jeder Reaktion und der bürgerlichen Reaktion insbesondere. Die Bogdanowsche „Substitution" und seine Theorie der „Identität von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein" dient dieser Reaktion. Das ist eine traurige Tatsache, aber doch eine Tatsache.

VDer Materialismus überhaupt anerkennt das objektiv reale Sein (die Materie), das unabhängig ist von dem Bewußtsein, der Empfindung, der Erfahrung usw. der Menschheit. Der historische Materialismus anerkennt das gesellschaftliche Sein als unabhängig vom gesellschaftlichen Bewußtsein der Menschheit. Das Bewußtsein ist hier wie dort nur das Abbild des Seins, bestenfalls sein annähernd getreues (adäquates, ideal-exaktes) Abbild. Man kann aus dieser aus einem Guß geformten Philosophie des Marxismus nicht eine einzige grundlegende These, nicht einen einzigen wesentlichen Teil wegnehmen, ohne sich von der objektiven Wahrheit zu entfernen, ohne der bürgerlich-reaktionären Lüge in die Fänge zu graten.

Noch einige Belege dafür, wie der tote philosophische Idealismus den lebenden Marxisten Bogdanow packt.

Der Artikel „Was ist Idealismus?" aus dem Jahre 1901 (ebenda, S. 11 ff.). „Wir gelangen zu folgendem Schluß: sowohl dort, wo die Menschen in ihren Aussagen hinsichtlich des Fortschritts übereinstimmen, als

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auch dort, wo sie verschiedener Meinung sind, bleibt die grundlegende Bedeutung der Fortschrittsidee die gleiche: die wachsende Fülle und Harmonie des Bewußtseinslebens. Das ist der objektive Gehalt des Begrins Fortschritt.. . Vergleichen wir jetzt den sich uns ergebenden psychologischen Ausdruck der Fortschrittsidee mit dem früher klargelegten biologischen" („biologisch wird als Fortschritt das Anwachsen der Lehenssumme bezeichnet", S. 14), „so können wir uns mühelos überzeugen, daß der erste sich mit dem zweiten vollständig deckt und von ihm abgeleitet werden kann ... Da sich das soziale Leben auf das psychische Leben der Gesellschaftsmitglieder zurückführen läßt, so bleibt auch hier der Inhalt der Fortschrittsidee derselbe: die wachsende Fülle und Harmonie des Lebens; nur muß man hinzufügen - des sozialen Lebens der Menschen. Einen anderen Inhalt hatte die Idee des sozialen Fortschritts selbstverständlich nie, und sie kann, niemals einen anderen haben." (S. 16.)

„Wir haben gefunden, ... daß der Idealismus den Sieg der sozialeren Stimmungen über die weniger sozialen in der Seele des Menschen ausdrückt, daß das Fortschrittsideal eine Widerspiegelung der gesellschaftlich­fortschrittlichen Tendenz in der idealistischen Psychik ist." (32.)

Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß in dieser ganzen Spielerei mit Biologie und Soziologie auch nicht ein Quentchen Marxismus enthalten ist. Man kann bei Spencer und bei Michailowski in beliebiger Anzahl keineswegs schlechtere Definitionen finden, die nichts definieren als die „gute Absicht" des Verfassers und zeigen, daß er überhaupt nicht versteht, „was Idealismus ist" und was Materialismus ist.

Drittes Buch des „Empiriomonismus", Artikel „Die soziale Auslese" (Grundlagen der Methode), 1906. Der Verfasser beginnt damit, daß er die „eklektischen sozialbiologischen Versuche von Lange, Ferri, Woltmann u. v. a." (S. 1) verwirft; und auf S. 15 wird bereits folgendes Resultat der „Untersuchung" dargelegt: „Wir können den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Energetik und sozialer Auslese folgendermaßen formulieren:

Jeder Akt sozialer Auslese stellt ein Anwachsen oder eine Verminderung der Energie jenes gesellschaftlichen Komplexes dar, auf den er sich bezieht. 5m ersten Tall haben wir es mit einer ,positiuen Auslese', im zweiten mit einer ,negativen' zu tun." (Hervorhebung vom Verfasser.)

Und dieser unaussprechliche Unsinn wird für Marxismus ausgegeben!

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Läßt sich etwas denken, was in stärkerem Maße steril, tot, scholastisch wäre als diese Aneinanderreihung von biologischen und energetischen Schlagworten, die auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften absolut nichts geben und nichts geben können? Keine Spur einer konkreten ökonomischen Untersuchung, nicht der leiseste Hinweis auf die Methode von Marx, die Methode der Dialektik und die Weltanschauung des Materialismus, sondern ein bloßes Austüfteln von Definitionen, Versuche, die­elben den fertigen Schlußfolgerungen des Marxismus anzupassen. „Das rasche Anwachsen der Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft ist zweifellos eine Zunahme der Energie des sozialen Ganzen..." - die zweite Hälfte des Satzes ist zweifellos eine einfache Wiederholung der ersten Hälfte, in inhaltslose Ausdrücke gefaßt, die das Problem zu „vertiefen" scheinen, tatsächlich aber sich nicht um ein Haar von den eklektischen biologisch-soziologischen Versuchen von Lange und Co. unterscheiden! — „aber der disharmonische Charakter dieses Prozesses führt dazu, daß er mit einer ,Krise', mit einer enormen Vergeudung von Produktivkräften, einer rapiden Verminderung der Energie abschließt; die positive Auslese wird durch eine negative abgelöst" (18).

Ist das vielleicht etwas anderes als Lange? An die fertigen Schlußfolgerungen über die Krisen wird, ohne das geringste an konkretem Material oder zur Klärung der Natur der Krisen hinzuzufügen, ein biologisch­energetisches Etikett angehängt. Das alles ist zwar recht gut gemeint, denn der Verfasser möchte die Schlußfolgerungen von Marx bekräftigen und vertiefen, aber in Wirklichkeit verwässert er sie durch eine unerträglich langweilige, tote Scholastik. Das einzig „Marxistische" ist hier die Wiederholung einer im voraus bekannten Schlußfolgerung, dagegen ist die ganze „neue" Begründung derselben, diese ganze „soziale Energetik" (34) und „soziale Auslese" bloßer Wortschwall, der reine Hohn auf den Marxismus.

Was Bogdanow treibt, ist keineswegs eine marxistische Untersuchung, sondern eine Verkleidung der schon früher durch diese Untersuchung gewonnenen Resultate in das Gewand der biologischen und energetischen Terminologie. Dieser ganze Versuch ist von A bis Z absolut untauglich, denn die Anwendung der Begriffe „Auslese", „Assimilation und Desassimilation" der Energie, der energetischen Bilanz usw. usf. auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaften ist nichts als Phrasendrescherei. Tatsäch-

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lich ist es unmöglich, mit Hilfe dieser Begriffe eine Untersuchung der gesellschaftlichen Erscheinungen, eine Klärung der Methode der Gesellschaftswissenschaften zu bewerkstelligen. Nichts ist leichter, als ein „energetisches" oder „biologisch-soziologisches" Etikett auf solche Erscheinungen wie Krisen, Revolutionen, Klassenkampf usw. zu kleben, aber nichts ist auch in stärkerem Maße unfruchtbar, scholastisch, tot als diese Betätigung. Wesentlich ist nicht, daß Bogdanow dabei alle seine Ergebnisse und Schlußfolgerungen oder „fast" alle (wir haben ja die „Korrektur" in der Frage nach dem Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein gesehen) Marx anpaßt, sondern daß die Methoden dieser Anpassung, dieser „sozialen Energetik" durch und durch falsch sind und sich in nichts von denen Langes unterscheiden.

„Herr Lange (über die Arbeiterfrage etc., 2. Auflage)", schrieb Marx am 27. Juni 1870 an Kugelmann, „macht mir große Elogen, aber zu dem Behuf, sich selbst wichtig zu machen. Herr Lange hat nämlich eine große Entdeckung gemacht. Die ganze Geschichte ist nur unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren. Dies Naturgesetz ist die Phrase (- der Darwinsche Ausdruck wird in dieser Anwendung bloße Phrase -) ,struggle for life', ,Kampf ums Dasein', und der Inhalt dieser Phrase ist das Malthussche Bevölkerungs- oder rather* Übervölkerungsgesetz. Statt also den ,struggle for life', wie er sich geschichtlich in verschiedenen bestimmten Gesellschaftsformen darstellt, zu analysieren, hat man nichts zu tun, als jeden konkreten Kampf in die Phrase ,struggle for life' und diese Phrase in die Malthussche ,Bevölkerungsphantasie' umzusetzen. Man muß zugeben, daß dies eine sehr eindringliche Methode - für gespreizte, wissenschaftlich tuende, hochtrabende Unwissenheit und Denkfaulheit ist."112

Das Wesen der Kritik an Lange besteht bei Marx nicht darin, daß Lange speziell den Malthusianismus113 in die Soziologie hineinschleppt, Sondern darin, daß überhaupt die Übertragung biologischer Begriffe auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaften eine Phrase ist. Ob diese Übertragung in „guter" Absicht geschieht oder zu dem Zweck, falsche soziologische Schlußfolgerungen zu bekräftigen - die Phrase hört dadurch nicht auf, Phrase zu sein. Auch Bogdanows „soziale Energetik", sein Versuch, die Lehre von der sozialen Auslese mit dem Marxismus zu koppeln, ist eben eine solche Phrase.


* vielmehr. Der Übers.

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Wie in der Erkenntnistheorie Mach und Avenarius den Idealismus nicht weiterentwickelt, sondern den alten idealistischen Fehlern einen Haufen prätentiösen terminologischen Unsinns („Elemente", „Prinzipialkoordination", „Introjektion" usw.) hinzugefügt haben, so führt der Empiriokritizismus auch in der Soziologie, selbst bei aufrichtigster Sympathie für die Schlußfolgerungen des Marxismus, zur Entstellung des historischen Materialismus durch ein prätentiös-hohles energetisches und biologisches Gerede.

Eine geschichtliche Eigenart des modernen russischen Machismus (richtiger : der machistischen Epidemie unter einem Teil der Sozialdemokraten) ist der folgende Umstand. Feuerbach war „Materialist unten, Idealist oben". Das gleiche gilt in gewissem Maße auch für Büchner, Vogt, Moleschott und Dühring, mit dem wesentlichen Unterschied, daß alle diese Philosophen im Vergleich zu Feuerbach Zwerge und jammervolle Pfuscher waren.

Marx und Engels, aus Feuerbach emporgewachsen und im Kampfe mit den Pfuschern gereift, richteten naturgemäß die größte Aufmerksamkeit auf den Ausbau der Philosophie des Materialismus nach oben, d. h. nicht auf die materialistische Erkenntnistheorie, sondern auf die materialistische Geschichtsauffassung. Deshalb unterstrichen Marx und Engels in ihren Werken mehr den dialektischen Materialismus als den dialektischen Materialismus, legten sie mehr Nachdruck auf den historischen Materialismus als auf den historischen Materialismus. Unsere Machisten, die Marxisten sein möchten, näherten sich dem Marxismus in einer ganz anderen geschichtlichen Periode, nämlich in einer Zeit, als die bürgerliche Philosophie sich auf die Erkenntnistheorie besonders spezialisierte und, indem sie sich einige Bestandteile der Dialektik (zum Beispiel den Relativismus) in einseitiger und verzerrter Form aneignete, ihr Hauptaugenmerk auf die Verteidigung bzw. Erneuerung des Idealismus unten und nicht des Idealismus oben richtete. Wenigstens befaßten sich der Positivismus im allgemeinen und der Machismus im besonderen — sich materialistisch gebend, den Idealismus hinter einer angeblich materialistischen Terminologie verbergend - weit mehr mit einer raffinierten Fälschung der Erkenntnistheorie und schenkten verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit der Philosophie der Geschichte. Unsere Machisten begriffen den Marxismus nicht, da sie sozusagen von der ändern Seite an ihn herankamen, und sie eigneten sich

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die ökonomische und historische Theorie von Marx an - mitunter aber nicht einmal das, sondern sie lernten sie einfach auswendig -, ohne sich über ihre Grundlage, nämlich den philosophischen Materialismus, klargeworden zu sein. Das Ergebnis ist, daß man Bogdanow und Co. als die umgestülpten russischen Büchner und Dühring bezeichnen muß. Sie möchten Materialisten oben sein, sie verstehen aber nicht, den konfusen Idealismus unten loszuwerden! „Oben" ist bei Bogdanow historischer Materialismus, allerdings ein vulgärer und vom Idealismus stark angefressener Materialismus, „unten" - Idealismus, in marxistische Termini gehüllt, mit marxistischer Ausdrucksweise verbrämt. „Sozial-organisierte Erfahrung", „kollektiver Arbeitsprozeß" sind marxistische Worte, aber das alles sind nur Worte, hinter denen sich eine idealistische Philosophie versteckt, die erklärt, die Dinge seien Komplexe von „Elementen", Empfindungen, die Außenwelt sei „Erfahrung" oder ein „Empiriosymbol" der Menschheit, die physische Natur ein aus dem „Psychischen" „Abgeleitetes" usw. usf.

Eine immer raffiniertere Verfälschung des Marxismus, immer raffiniertere Versuche, antimaterialistische Lehren als Marxismus auszugeben - das kennzeichnet den modernen Revisionismus sowohl in der politischen Ökonomie als auch in den Fragen der Taktik und in der Philosophie überhaupt, in der Erkenntnistheorie ebenso wie in der Soziologie.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 08.03.2013