2. „Die Materie ist verschwunden" | Inhalt | 4. Die zwei Richtungen in der modernen Physik und der englische Spiritualismus

3. Ist Bewegung ohne Materie denkbar?

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Die Ausschlachtung der neuen Physik durch den philosophischen Idealismus oder die idealistischen Schlußfolgerungen aus ihr sind nicht darauf zurückzuführen, daß etwa neue Arten von Stoff und Kraft, von Materie und Bewegung entdeckt werden, sondern darauf, daß der Versuch gemacht wird, Bewegung ohne Materie zu denken. Eben diesen Versuch lassen unsere Machisten im wesentlichen unerörtert. Sich mit der Äußerung von Engels, daß „Bewegung ohne Materie undenkbar ist", auseinanderzusetzen, behagte ihnen nicht. J. Dietzgen hatte bereits 1869 in seinem „Wesen der menschlichen Kopfarbeit" denselben Gedanken wie Engels ausgesprochen, allerdings nicht ohne seine üblichen konfusen Versuche, den Materialismus mit dem Idealismus zu „versöhnen". Lassen wir diese Versuche, die zu einem erheblichen Teil dadurch zu erklären sind, daß Dietzgen gegen den undialektischen Materialismus Büchners polemisiert, auf sich beruhen und sehen wir uns die eigenen Erklärungen Dietzgens in der uns interessierenden Frage an. „Sie" (die Idealisten) „wollen das Allgemeine ohne Besonderes", sagt Dietzgen, „den Geist ohne Materie, Kraft ohne Stoff, Wissenschaft ohne Erfahrung oder Material, Absolutes ohne Relatives." („Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit", 1903, S. 108.) Das Bestreben, die Bewegung von der Materie, die Kraft vom Stoff zu trennen, wird also von Dietzgen mit dem Idealismus in Zusammenhang gebracht, in eine Reihe gestellt mit dem Bestreben, das Denken vom Gehirn zu trennen. „Liebig", fährt Dietzgen fort, „der es besonders liebt, von seiner induktiven Wissenschaft hinüber zur Spekulation abzuschweifen, sagt im Sinne des Idealismus: ,Die Kraft läßt sich nicht sehen.'" (109.) „Der Spiritualist oder Idealist glaubt an ein geistiges, d.h. gespenstiges, unerklärbares Wesen der Kraft." (110.) „Der Gegensatz zwischen Kraft und Stoff ist so alt wie der Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus." (111.) „Allerdmgs, keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft. Kraftlose Stoffe und stofflose Kräfte sind Undinge. Wenn idealistische Naturforscher an ein immaterielles Dasein von Kräften glauben, so sind es in diesem Punkte eben keine Naturforscher, sondern ... Geisterseher." (114.)

Wir ersehen daraus, daß es vor vierzig Jahren ebenfalls Naturforscher gegeben hat, die bereit waren anzunehmen, Bewegung wäre ohne Materie

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denkbar, und daß Dietzgen sie „in diesem Punkte" für Geisterseher erklärte. Worin besteht nun der Zusammenhang des philosophischen Idealismus mit der Tendenz, die Materie von der Bewegung zu trennen, den Stoff von der Kraft zu lösen? Wäre es nicht wirklich „ökonomischer" die Bewegung ohne Materie zu denken?

Stellen wir uns einen konsequenten Idealisten vor, der, sagen wir, auf dem Standpunkt steht, daß die ganze Welt meine Empfindung oder meine Vorstellung sei usw. (nimmt man „niemandes" Empfindung oder Vorstellung an, so ändert sich dadurch nur die Spielart des philosophischen Idealismus, nicht aber sein Wesen). Dem Idealisten wird es gar nicht einfallen, zu leugnen, daß die Welt Bewegung ist, nämlich: die Bewegung meiner Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen. Die Frage, was sich bewegt, wird der Idealist ablehnen und für unsinnig halten: es findet ein Wechsel meiner Empfindungen statt, es vergehen und entstehen Vorstellungen, weiter nichts. Außer mir gibt es nichts. „Es bewegt sich", und damit basta! Ein „ökonomischeres" Denken kann man sich nicht vorstellen. Und durch keinerlei Argumente, Syllogismen, Definitionen kann man den Solipsisten widerlegen, wenn er konsequent bei seiner Auffassung bleibt.

Das, was den Materialisten grundlegend von dem Anhänger der idealistischen Philosophie unterscheidet, ist dies, daß er die Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und überhaupt das Bewußtsein des Menschen als Abbild der objektiven Realität betrachtet. Die Welt ist die Bewegung dieser von unserem Bewußtsein widergespiegelten objektiven Realität. Der Bewegung der Vorstellungen, Wahrnehmungen usw. entspricht die Bewegung der Materie außer mir. Der Begriff Materie drückt nichts anderes aus als die uns in der Empfindung gegebene objektive Realität. Daher ist die Trennung der Bewegung von der Materie gleichbedeutend mit der Trennung des Denkens von der objektiven Realität, mit der Trennung meiner Empfindungen von der Außenwelt, d. h. gleichbedeutend mit dem Übergang auf die Seite des Idealismus. Das Kunststück, das gewöhnlich mit der Verneinung der Materie, mit der Annahme von Bewegung ohne Materie vollführt wird, besteht darin, daß man sich über die Beziehung der Materie zum Gedanken ausschweigt. Man stellt die Sache so dar, als gäbe es diese Beziehung nicht; in Wirklichkeit aber wird sie heimlich eingeschmuggelt, bleibt am Anfang der Betrachtung unausgesprochen, taucht jedoch später mehr oder weniger unmerklich auf.

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Die Materie ist verschwunden, sagt man uns in der Absicht, daraus erkenntnistheoretische Schlußfolgerungen zu ziehen. Und das Denken ist geblieben? - fragen wir. Wenn nicht, wenn mit dem Verschwinden der Materie auch der Gedanke verschwunden ist, wenn mit dem Verschwinden des Gehirns und des Nervensystems auch die Vorstellungen und Empfindungen verschwunden sind, dann ist also alles verschwunden, dann ist auch eure Betrachtung als Ausdruck irgendeines „Gedankens" (oder einer Gedankenlosigkeit) verschwunden! Wenn aber ja, wenn beim Verschwinden der Materie der Gedanke (die Vorstellung, Empfindung usw.) als nicht verschwunden angenommen wird, dann bedeutet das, daß ihr heimlich auf den Standpunkt des philosophischen Idealismus übergegangen seid. Das eben passiert immer mit Leuten, die aus „Ökonomie" die Bewegung ohne Materie denken wollen, denn stillschweigend, schon allein dadurch, daß sie ihre Betrachtung fortsetzen, sprechen sie sich ja für die Existenz des Gedankens nach dem Verschwinden der Materie aus. Das aber bedeutet, daß ein sehr einfacher oder ein sehr komplizierter philosophischer Idealismus zur Grundlage genommen wird: ein sehr einfacher, wenn die Sache offen zum Solipsismus geführt wird (ich existiere, die ganze Welt ist nur meine Empfindung); ein sehr komplizierter, wenn an Stelle des Gedankens, der Vorstellung, der Empfindung des lebendigen Menschen eine tote Abstraktion genommen wird: niemandes Gedanke, niemandes Vorstellung, niemandes Empfindung, der Gedanke überhaupt (die absolute Idee, der Universalwille usw.), die Empfindung als unbestimmtes „Element", als „Psychisches", das für die ganze physische Natur substituiert wird usw. usf. Unter den Spielarten des philosophischen Idealismus sind dabei tausenderlei Schattierungen möglich, und man kann jederzeit noch eine tausendunderste Schattierung schaffen, und den Urheber eines derartigen tausendundersten Systemchens (z. B. des Empiriomonismus) mag der Unterschied zwischen diesem System und den anderen wichtig dünken. Vom Standpunkt des Materialismus sind diese Unterschiede völlig unwesentlich. Wesentlich ist der Ausgangspunkt. Wesentlich ist, daß der Versuch, Bewegung ohne Materie zu denken, den von der Materie losgetrennten Gedanken einschmuggelt, und das eben ist philosophischer Idealismus.

Deshalb beginnt z. B. der englische Machist Karl Pearson, der klarste, konsequenteste, allen sprachlichen Ausflüchten am meisten abholde Ma-

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chist, das der „Materie" gewidmete Kapitel VII seines Buches direkt mit einem Paragraphen, der die charakteristische Überschrift trägt: „Alle Dinge bewegen sich, aber nur im Begriff" („All things move - but only in conception"). „In bezug auf die Wahrnehmungen ist die Frage eitel" („it is idle to ask"), „was sich bewegt und warum es sich bewegt." (p. 243, „The Grammar of Science".)

Deshalb begann auch Bogdanows philosophisches Mißgeschick eigentlich schon vor seiner Bekanntschaft mit Mach, es begann mit dem Augenblick, als er dem großen Chemiker und kleinen Philosophen Ostwald zu glauben begann, daß man Bewegung ohne Materie denken könne. Es ist um so angebrachter, bei dieser längst vergangenen Episode der philosophischen Entwicklung Bogdanows zu verweilen, als es unmöglich ist, die „Energetik" Ostwalds zu übergehen, wenn man über den Zusammenhang des philosophischen Idealismus mit gewissen Strömungen in der neuen Physik spricht.

„Wir sagten schon", schrieb Bogdanow 1899, „daß es dem 19. Jahrhundert nicht gelungen ist, mit der Frage des ,unveränderlichen Wesens der Dinge' endgültig fertig zu werden. Dieses Wesen spielt selbst in der Weltanschauung der fortgeschrittensten Denker des Jahrhunderts eine gewichtige Rolle unter dem Namen ,Materie'." („Die Grundelemente der historischen Naturauffassung", S. 38.)

Wir sagten, daß das wirres Zeug ist. Hier wird die Anerkennung der objektiven Realität der Außenwelt, die Anerkennung der Existenz einer außerhalb unseres Bewußtseins sich ewig bewegenden und ewig verändernden Materie verwechselt mit der Anerkennung des unveränderlichen Wesens der Dinge. Es ist unmöglich anzunehmen, daß Bogdanow Marx und Engels im Jahre 1899 nicht zu den „fortgeschrittenen Denkern" gezählt haben sollte. Aber den dialektischen Materialismus hatte er offenkundig nicht begriffen.

„... Noch immer unterscheidet man gewöhnlich zwei Seiten der Naturvorgänge : die Materie und ihre Bewegung. Man kann nicht sagen, daß der Begriff Materie sich durch große Klarheit auszeichnet. Auf die Frage, was denn Materie sei, ist nicht leicht eine befriedigende Antwort zu geben. Man definiert sie als ,Ursache der Empfindungen' oder als ,permanente Empfindungsmöglichkeit'; es ist aber offensichtlich, daß Materie hier mit Bewegung verwechselt wird..."

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Es ist offensichtlich, daß Bogdanow falsch argumentiert. Nicht genug, daß er die materialistische Anerkennung der objektiven Quelle der Empfindungen (unklar formuliert in den Worten Ursache der Empfindungen) mit der agnostischen Millschen Definition der Materie als permanenter Empfindungsmöglichkeit verwechselt. Der Grundfehler ist hier der, daß der Verfasser, nachdem er hart an die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz einer objektiven Quelle der Empfindungen herangekommen ist, diese Frage auf halbem Wege liegenläßt und auf die andere Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz von Materie ohne Bewegung überspringt. Der Idealist kann die Welt für die Bewegung unserer Empfindungen halten (mögen sie auch „sozial organisiert" und im höchsten Grade „harmonisiert" sein), der Materialist für die Bewegung der objektiven Quelle, des objektiven Modells unserer Empfindungen. Der metaphysische, d. h. antidialektische Materialist kann die Existenz von Materie ohne Bewegung annehmen (sei es auch nur zeitweilig, vor dem „ersten Anstoß" usf.). Der dialektische Materialist hält nicht nur die Bewegung für eine unabdingbare Eigenschaft der Materie, sondern lehnt auch eine vereinfachte Auffassung der Bewegung ab usw.

„.. -Am genauesten wäre vielleicht die folgende Definition: ,Materie ist das, was sich bewegt'; doch wäre dies ebenso inhaltlos, als wenn wir sagten: Materie ist das Subjekt eines Satzes, dessen Prädikat ,sich bewegt' ist. Indessen dürfte sich die Sache wohl so verhalten, daß sich die Menschen in der Epoche der Statik daran gewöhnt haben, in der Rolle des Subjekts durchaus irgend etwas Solides, irgendeinen ,Gegenstand' zu sehen; ein für das statische Denken so unbequemes Ding aber, wie die ,Bewegung', wollten sie lediglich als Prädikat, als eines der Attribute der ,Materie' dulden."

Das erinnert schon ganz an die Akimowsche Beschuldigung der Iskristen, daß in ihrem Programm das Wort Proletariat niemals im Nominativ vorkäme! Ob wir nun sagen: die Welt ist die sich bewegende Materie, oder: die Welt ist die materielle Bewegung - das ändert nichts an der Sache.

„,Die Energie muß doch einen Träger haben!' sagen die Anhänger der Materie. ,Warum denn?' entgegnet mit Recht Ostwald. ,Ist denn die Natur verpflichtet, aus Subjekt und Prädikat zusammengesetzt zu sein?'" (S. 39.)

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Die Antwort Ostwalds, die 1899 so sehr Bogdanows Beifall fand, ist ein einfacher Sophismus. Sind denn - könnte man Ostwald antworten — unsere Urteile verpflichtet, aus Elektronen und Äther zu bestehen? Tatsächlich bedeutet die gedankliche Beseitigung der Materie als des „Subjekts" aus der „Natur" die stillschweigende Aufnahme des Qedankens als „Subjekt" (d. h. als etwas Primäres, Ursprüngliches, von der Materie Unabhängiges) in die Philosophie. Beseitigt wird also nicht das Subjekt, sondern die objektive Quelle der Empfindung, und zum „Subjekt" wird die Empfindung, d. h., die Philosophie wird berkeleyanisch, mag man später das Wort Empfindung maskieren, wie man will. Ostwald suchte dieser unvermeidlichen philosophischen Alternative (Materialismus oder Idealismus) vermittels einer verschwommenen Anwendung des Wortes „Energie" aus dem Wege zu gehen, aber gerade sein Versuch zeigt ein übriges Mal die Vergeblichkeit derartiger Kniffe. Wenn Energie Bewegung ist, so habt ihr nur die Schwierigkeit vom Subjekt auf das Prädikat verschoben, so habt ihr nur die Frage, ob die Materie sich bewegt, umgeändert in die Frage, ob die Energie materiell ist. Geschieht die Verwandlung der Energie außerhalb meines Bewußtseins, unabhängig vom Menschen und von der Menschheit, oder sind das nur Ideen, Symbole, konventionelle Zeichen usw.? An dieser Frage hat sich denn auch die „energetische" Philosophie, dieser Versuch, durch eine „neue" Terminologie die alten erkenntnistheoretischen Fehler zu verwischen, das Genick gebrochen.

Hier ein paar Beispiele dafür, wie sich der Energetiker Ostwald verhaspelt hat. Im Vorwort zu seinen „Vorlesungen über Naturphilosophie"* erklärt er, daß ihm „die einfache und natürliche Aufhebung der alten Schwierigkeiten, welche der Vereinigung der Begriffe Materie und Geist sich entgegenstellen, durch die Unterordnung beider unter den Begriff der Energie als ein großer Gewinn erscheint". Das ist kein Gewinn, sondern ein Nachteil, denn die Frage, ob die erkenntnistheoretische Untersuchung (Ostwald ist sich dessen nicht klar bewußt, daß er eben eine erkenntnistheoretische und keine chemische Frage stellt!) in materialistischer oder idealistischer Richtung geführt werden soll, wird durch den willkürlichen Gebrauch des Wortes „Energie" nicht gelöst, sondern verwirrt. Freilich, wenn man unter diesen Begriff sowohl die Materie als auch


* Wilhelm Ostwald, „Vorlesungen über Naturphilosophie", 2. Aufl., Leipzig 1902, S. VIII.

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den Geist „unterordnet", dann ist der Gegensatz in 'Worten unzweifelhaft aufgehoben, aber die Absurdität der Lehre von den Waldteufeln und Hausgeistern wird doch nicht dadurch verschwinden, daß wir sie als „energetisch" bezeichnen. Auf S. 394 der „Vorlesungen" Ostwalds lesen wir: „Daß nun alle äußeren Geschehnisse sich als Vorgänge zwischen Energien darstellen lassen, erfährt seine einfachste Deutung, wenn eben unsere Bewußtseinsvorgänge selbst energetische sind und diese ihre Beschaffenheit allen äußeren Erfahrungen [aufprägen]." Das ist reiner Idealismus: nicht unser Denken widerspiegelt die Verwandlung der Energie in der Außenwelt, sondern die Außenwelt widerspiegelt die „Beschaffenheit" unseres Bewußtseins! Der amerikanische Philosoph Hibben bemerkt, auf diese und andere ähnliche Stellen in Ostwalds Vorlesungen hinweisend, sehr treffend, daß Ostwald hier „in kantianischem Gewand auftritt" : die Erklärbarkeit der Erscheinungen der Außenwelt wird aus den Eigenschaften unseres Geistes abgeleitet!* „Es ist klar", sagt Hibben, „wenn wir den ursprünglichen Begriff der Energie so definieren, daß er auch psychische Erscheinungen umfaßt, so wird das schon nicht mehr jener einfache Begriff der Energie sein, wie er in wissenschaftlichen Kreisen oder sogar von den Energetikern selbst anerkannt wird." Die Verwandlung der Energie wird von der Naturwissenschaft als ein vom Bewußtsein des Menschen und von der Erfahrung der Menschheit unabhängiger objektiver Prozeß betrachtet, d. h., sie wird materialistisch betrachtet. Auch bei Ostwald selbst wird in einer Unmenge von Fällen, wahrscheinlich sogar in der übergroßen Mehrzahl der Fälle, unter Energie die materielle Bewegung verstanden.

Daher auch die originelle Erscheinung, daß Ostwalds Schüler Bogdanow, nachdem er zum Jünger Machs geworden war, Ostwald Vorwürfe zu machen begann nicht deswegen, weil er an der materialistischen Auffassung der Energie nicht konsequent festhält, sondern weil er eine materialistische Auffassung der Energie zuläßt (sie manchmal sogar zugrunde legt). Die Materialisten kritisieren Ostwald deswegen, weil er in Idealismus verfällt, weil er den Materialismus mit dem Idealismus auszusöhnen sucht. Bogdanow kritisiert Ostwald vom idealistischen Stand-


* J. Gr. Hibben, „The Theory of Energetics and its Philosophical Bearings" [Die Theorie der Energetik und ihre philosophische Stellung], „The Monist", vol. XIII, Nr. 3, April 1903, pp. 329/330.

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punkt aus: „... Die dem Atomismus feindliche, im übrigen aber dem alten Materialismus sehr verwandte Energetik Ostwalds", schreibt Bogdanow im Jahre 1906, „weckte meine wärmsten Sympathien. Bald bemerkte ich jedoch in seiner Naturphilosophie einen wichtigen Widerspruch: obzwar er viele Male die rein methodologische Bedeutung des Begriffs Energie hervorhebt, hält er sich selbst in einer Unmenge von Fällen nicht daran. Die Energie verwandelt sich bei ihm aus einem reinen Symbol der Wechselbeziehungen zwischen Erfahrungstatsachen immer wieder in die Substanz der Erfahrung, in die Weltmaterie..." („Empiriomonismus", Buch III, S.XVI/XVII.)

Die Energie ein reines Symbol! Nun kann sich Bogdanow mit dem „Empiriosymbolisten" Jusdikewitsch, mit den „reinen Machisten", den Empiriokritikern usv, herumstreiten, soviel er Lust hat - vom Standpunkt der Materialisten wird das ein Streit sein zwischen einem Menschen, der an einen gelben Teufel, und einem anderen, der an einen grünen Teufel glaubt. Denn wichtig sind nicht die Unterschiede zwischen Bogdanow und den anderen Machisten, sondern das, was ihnen allen gemeinsam ist: die idealistische Interpretation der „Erfahrung" und der „Energie", die Leugnung der objektiven Realität, während doch in der Anpassung an diese die menschliche Erfahrung, in ihrer Abbildung die einzig wissenschaftliche „Methodologie" und wissenschaftliche „Energetik" besteht.

„Für sie" (die Energetik von Ostwald) „ist das Material der Welt gleichgültig; mit ihr ist durchaus vereinbar sowohl der alte Materialismus als auch der Panpsychismus" (XVII)... - d. h. der philosophische Idealismus? Und Bogdanow ging von der konfusen Energetik weg nicht auf dem materialistischen, sondern auf dem idealistischen Weg ... „Wenn man die Energie als Substanz darstellt, so ist das nichts anderes als der alte Materialismus abzüglich der absoluten Atome — Materialismus mit einer Korrektur im Sinne der Kontinuität des Seienden." (Ebenda.) Jawohl, vom „alten" Materialismus, d. h. von dem metaphysischen Materialismus der Naturforscher, ging Bogdanow nicht zum dialektischen Materialismus, den er 1906 ebensowenig verstand wie 1899, sondern zum Idealismus und Fideismus, denn gegen den „methodologischen" Begriff der Energie, gegen deren Interpretation als „reines Symbol der Wechselbeziehungen zwischen Erfahrungstatsachen" wird kein gebildeter Vertreter des modernen Fideismus, kein Immanenzphilosoph, kein „Neokritizist" usw. etwas ein-

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zuwenden haben. Man nehme P. Carus, dessen Physiognomie wir oben genügend kennengelernt haben, und man wird sehen, daß dieser Machist Ostwald ganz auf Bogdanowsche Art kritisiert. „Materialismus und Energetik", schreibt Carus, „gehören unbedingt ein und derselben Kategorie an." („The Monist", vol. XVII, 1907, Nr. 4, p. 536.) „Es hilft uns wenig, wenn der Materialismus uns sagt, daß alles Materie ist, daß die Körper Materie sind und daß das Denken nur eine Funktion der Materie ist; und die Energetik von Prof. Ostwald ist nicht im geringsten besser, wenn sie uns sagt, daß Materie Energie und daß die Seele auch nur ein Energiefaktor ist." (533.)

Ostwalds Energetik ist ein gutes Beispiel dafür, wie rasch eine „neue" Terminologie zur Mode wird und wie rasch es sich zeigt, daß eine etwas veränderte Ausdrucksweise nicht im mindesten die philosophischen Grundfragen und die philosophischen Grundrichtungen beseitigt. In den Termini der „Energetik" kann man (natürlich mehr oder minder konsequent) den Materialismus und den Idealismus ebensogut ausdrücken wie in den Termini der „Erfahrung" usw. Die energetische Physik ist eine Quelle neuer idealistischer Versuche, die Bewegung ohne Materie zu denken — veranlaßt durch die Zerlegung von bis dahin für unzerlegbar gehaltenen Partikeln der Materie und durch die Entdeckung von bis dahin unbekannten Formen der materiellen Bewegung.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 25.01.2013