6. Freiheit und Notwendigkeit | Inhalt | 2. Wie sich der „Empiriosymbolist“ Juschkewitsch über den „Empiriokritiker" Tschernow lustig machte

 

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KAPITEL IV
DIE PHILOSOPHISCHEN IDEALISTEN
ALS MITSTREITER UND NACHFOLGER
DES EMPIRIOKRITIZISMUS

Bis hierher haben wir den Empiriokritizismus für sich genommen betrachtet. Betrachten wir ihn jetzt in seiner geschichtlichen Entwicklung, in seinem Zusammenhang und in seiner Wechselbeziehung mit anderen philosophischen Richtungen. An erster Stelle taucht hier die Frage des Verhältnisses von Mach und Avenarius zu Kant auf.

1. Die Kritik des Kantianismus von links und von rechts

Sowohl Mach als auch Avenarius betraten die philosophische Arena in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als in den deutschen Professorenkreisen der Ruf „Zurück zu Kant!" Mode war. Die beiden Begründer des Empiriokritizismus gingen denn auch in ihrer philosophischen Entwicklung gerade von Kant aus. „Sein" (Kants) „kritischer Idealismus war", schreibt Mach, „wie ich in größter Dankbarkeit anerkenne, der Ausgangspunkt meines ganzen kritischen Denkens. Es war mir aber unmöglich, denselben beizubehalten. Vielmehr habe ich mich sehr bald den Ansichten Berkeleys wieder genähert" und dann „kam ich zu Auffassungen, verwandt den Humeschen ... Auch heute noch muß ich Berkeley und Hume gegenüber Kant als die weitaus konsequenteren Denker ansehen." („Analyse der Empfindungen", S. 292 [S. 299].)

Mach gibt also ganz ausdrücklich zu, daß er, von Kant ausgehend, der Linie Berkeleys und Humes folgte. Wenden wir uns nun Avenarius zu.

In seinen „Prolegomena zu einer ,Kritik der reinen Erfahrung' " (1876) vermerkt Avenarius schon im Vorwort, daß der Ausdruck „Kritik der reinen Erfahrung" auf seine Beziehung zur Kantschen „Kritik der reinen

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Vernunft" hinweist, „und selbstverständlich (auf) eine gegensätzliche" (S. IV, Aufl. 1876). Worin besteht nun dieser Gegensatz Avenarius' zu Kant?. Darin, daß Kant nach Avenarius1 Ansicht nicht genügend „die Erfahrung gereinigt" habe. Diese „Reinigung der Erfahrung" behandelt denn auch Avenarius in seinen „Prolegomena" (§§ 56, 72 u. v. a.). Wovon „reinigt" Avenarius die Kantsche Lehre von der Erfahrung? Erstens vom Apriorismus. „Dagegen dürfte die Frage", sagt er in § 56, „ob aus dem Inhalt des Erfahrenen gleicherweise die Zutat der ,apriorischen Verstandesbegriffe' entfernt und damit die κατ'ἑξοχἠν" (vorzugsweise) „reine Erfahrung hergestellt werden solle und könne, hiermit, meines Wissens, zum ersten Male als solche gestellt sein." Wir haben schon gesehen, daß Avenarius auf diese Weise den Kantianismus von der Anerkennung der Notwendigkeit und Kausalität „gereinigt" hat.

Zweitens reinigt er den Kantianismus von der Annahme der Substanz (§ 95), d. h. des Dinges an sich, das, nach Avenarius, „nicht in dem Materialen des wirklich Erfahrenen mitgegeben, sondern erst durch das Denken des Erfahrenden in dasselbe hineingelegt werde".

Wir werden gleich sehen, daß diese Avenariussche Bestimmung seiner philosophischen Linie sich vollkommen mit der Machs deckt und sich von dieser nur durch die Schwülstigkeit des Ausdrucks unterscheidet. Zunächst muß aber bemerkt werden, daß es eine direkte Unwahrheit ist, wenn Avenarius sagt, er habe im Jahre 1876 zum ersten Male die Frage nach der „Reinigung der Erfahrung" gestellt, d. h. nach der Reinigung der Kantschen Lehre vom Apriorismus und von der Annahme des Dinges an sich. In Wirklichkeit hat die Entwicklung der deutschen klassischen Philosophie gleich nach Kant eine Kritik des Kantianismus hervorgebracht, die sich gerade in derselben Richtung bewegte wie die von Avenarius. Diese Richtung ist in der deutschen klassischen Philosophie vertreten durch Aenesidem-Schulze, einen Anhänger des Humeschen Agnostizismus, und J. G. Fichte, einen Anhänger des Berkeleyanismus, d. h. des subjektiven Idealismus. Aenesidem-Schulze kritisierte Kant 1792 -gerade für seinen Apriorismus (l. c., S. 56, 141 u. v. a.) und die Annahme des Dinges an sich. Wir Skeptiker oder Anhänger Humes, sagte Schulze, verwerfen das Ding an sich als das, was „außer aller Erfahrung" liegt (S. 57). Wir bestreiten das objektive Wissen (25); wir leugnen, daß Raum und Zeit real außer uns existieren (100); wir leugnen das Vorhandensein der Not-

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wendigkeit (112) der Kausalität, der Kraft usw. in der Erfahrung (113). Man darf ihnen keine „Realität außer den menschlichen Vorstellungen“ zuschreiben (114). Kant beweise die Apriorität „dogmatisch“ , indem er behauptet, da wir nicht anders denken können, müsse also a priori ein Gesetz des Denkens vorhanden sein. Dieses Schlusses, entgegnet Schulze Kant, „hat man sich von jeher in der Philosophie bedient, um die objektive Natur des außer unsern Vorstellungen Vorhandenen ... zu bestimmen" (141). So folgernd, könnte man den Dingen an sich Kausalität zuschreiben (142). „Daß die Wirksamkeit objektiver Gegenstände auf uns Vorstellungen hervorbringe, [erfahren wir ja niemals]", und Kant habe durchaus nicht bewiesen, daß „dieses Etwas" (welches sich außerhalb der Vernunft befindet) „für ein von dem [Gemüte] verschiedenes Ding an sich gehalten werden müsse. Nun kann aber auch das Gemüt als der alleinige Grund aller unserer Erkenntnis gedacht werden." (265.) Die Kantsche Kritik der reinen Vernunft „legt also ihren Spekulationen den Satz zum Grunde, daß alle Erkenntnis durch die Wirksamkeit objektiver Gegenstände auf das [Gemüt] anfange, und bestreitet hintenher selbst die Wahrheit und Realität dieses Satzes" (266). Kant habe in keiner Hinsicht den Idealisten Berkeley widerlegt (268-272).

Hieraus ist ersichtlich, daß der Humeist Schulze die Kantsche Lehre vom Ding an sich ablehnt als ein inkonsequentes Zugeständnis an den Materialismus, d. h. an die „dogmatische" Behauptung, daß uns in der Empfindung die objektive Realität gegeben ist, oder mit anderen Worten, daß unsere Vorstellungen durch die Wirkung objektiver (von unserem Bewußtsein unabhängiger) Gegenstände auf unsere Sinnesorgane erzeugt werden. Der Agnostiker Schulze macht dem Agnostiker Kant den Vorwurf, daß die Annahme des Dinges an sich dem Agnostizismus widerspreche und zum Materialismus führe. Ebenso - nur noch entschiedener — wird Kant von dem subjektiven Idealisten Fichte kritisiert, der meint, daß Kants Annahme des von unserem Ich unabhängigen Dinges an sich „Realismus" sei (Werke, I, S. 483) und daß Kant zwischen „Realismus" und „Idealismus" „nicht klar" unterscheide. Fichte erblickt bei Kant und den Kantianern eine krasse Inkonsequenz darin, daß sie ein Ding an sich als „Grund der objektiven Realität" (480) annehmen und dadurch in Widerspruch zu dem kritischen Idealismus geraten. „Ihr Erdball ruht auf dem großen Elefanten", ruft Fichte den realistischen Auslegern Kants zu,

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„und der große Elefant - ruht auf dem Erdballe. Ihr Ding an sich, das ein bloßer Gedanke ist, soll auf das Ich einwirken!" (483.)

Avenarius war also in einem großen Irrtum befangen, wenn er sich einbildete, er habe „zum ersten Male" bei Kant eine „Reinigung der Erfahrung" vom Apriorismus und von dem Ding an sich vorgenommen und habe damit eine „neue" Richtung in der Philosophie geschaffen. In Wirklichkeit setzte er die alte Linie von Hume und Berkeley, von Aenesidem-Schulze und J. G. Fichte fort. Avenarius bildete sich ein, er „reinige die Erfahrung" überhaupt. In Wirklichkeit reinigte er nur den Agnostizismus vom Kantianismus. Er kämpfte nicht gegen den Agnostizismus Kants (Agnostizismus ist das Leugnen der uns in der Empfindung gegebenen objektiven Realität), sondern für einen reineren Agnostizismus, für die Beseitigung jener dem Agnostizismus widersprechenden Annahme Kants, es gebe ein Ding an sich, wenn auch ein unerkennbares, intelligibles, jenseitiges, es gebe Notwendigkeit und Kausalität, wenn auch nur a priori, nur im Denken und nicht in der objektiven Wirklichkeit. Er bekämpfte Kant nicht von links her, wie die Materialisten es taten, sondern von rechts, wie die Skeptiker und Idealisten. Er bildete sich ein vorwärtszugehen, während er in Wirklichkeit zurückging, zu jenem Programm der Kantkritik, das Kuno Fischer, über Aenesidem-Schulze sprechend, treffend in den Worten ausdrückte: „Die Kritik der reinen Vernunft nach Abzug der reinen Vernunft" (d. h. des Apriorismus) „ist Skeptizismus. Die Kritik der reinen Vernunft nach Abzug des Dinges an sich ist Berkeleyscher Idealismus." („Geschichte der neuern Philosophie", dtsch. Ausg. 1869, Bd. V, S. 115.)

Hier kommen wir zu einer der wunderlichsten Episoden unserer ganzen „Machiade", des ganzen Feldzugs der russischen Machisten gegen Engels und Marx. Die neueste Entdeckung von Bogdanow und Basarow, Juschkewitsch und Walentinow, die sie in tausend Variationen hinausposaunen, besteht darin, Plechanow unternehme den „unglückseligen Versuch, mit Hilfe eines kompromißlerischen, gerade eben noch erkennbaren Dinges an sich Engels mit Kant zu versöhnen" („Beiträge", S. 67 u. v. a.). Diese Entdeckung unserer Machisten enthüllt uns einen wahrhaft bodenlosen Abgrund heillosester Konfusion, ungeheuerlichster Verständnislosigkeit sowohl in bezug auf Kant als auch in bezug auf die ganze Entwicklung der deutschen klassischen Philosophie.

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Der Grundzug der Kantschen Philosophie ist die Aussöhnung des Materialismus mit dem Idealismus, ein Kompromiß zwischen beiden, eine Verknüpfung verschiedenartiger, einander widersprechender philosophischer Richtungen zu einem System. Wenn Kant zugibt, daß unseren Vorstellungen etwas außer uns, irgendein Ding an sich, entspreche, so ist er hierin Materialist. Wenn er dieses Ding an sich für unerkennbar, transzendent, jenseitig erklärt, tritt er als Idealist auf. Indem Kant die Erfahrung, die Empfindungen als die alleinige Quelle unserer Kenntnisse anerkennt, gibt er seiner Philosophie die Richtung zum Sensualismus und über den Sensualismus unter bestimmten Bedingungen auch zum Materia­lismus. Indem Kant sich für die Apriorität von Raum, Zeit, Kausalität usw. ausspricht, lenkt er seine Philosophie auf die Seite des Idealismus. Wegen dieser Halbheit Kants führten sowohl die konsequenten Materialisten als auch die konsequenten Idealisten (und ebenso die „reinen" Agnostiker, die Humeisten) einen schonungslosen Kampf gegen ihn. Die Materialisten machten Kant seinen Idealismus zum Vorwurf, sie widerlegten die idealistischen Züge seines Systems, sie wiesen nach, daß das Ding an sich erkennbar, diesseitig ist, daß kein prinzipieller Unterschied zwischen ihm und der Erscheinung besteht und daß die Kausalität usw. nicht aus apriorischen Denkgesetzen, sondern aus der objektiven Wirklichkeit abzuleiten ist. Die Agnostiker und Idealisten machten Kant seine Annahme des Dinges an sich als Zugeständnis an den Materialismus, den „Realismus" oder „naiven Realismus" zum Vorwurf, wobei die Agnostiker außer dem Ding an sich auch den Apriorismus verwarfen, während die Idealisten die konsequente Ableitung nicht nur der apriorischen Anschauungsformen, sondern, der ganzen Welt überhaupt aus dem reinen Denken verlangten (indem sie das menschliche Denken zu einem abstrakten Ich oder zu einer „absoluten Idee" oder zu einem universalen Willen usw. usf. ausdehnten). Unsere Machisten, von denen „übersehen" worden war, daß sie sich Leute als Lehrer ausgesucht hatten, die Kant vom Standpunkt des Skeptizismus und Idealismus kritisierten, begannen nun ihre Gewänder zu zerreißen und sich Asche aufs Haupt zu streuen, als sie auf so ungeheuerliche Menschen stießen, die Kant von einem diametral entgegengesetzten Standpunkt kritisierten, die die allergeringsten Elemente des Agnostizismus (Skeptizismus) und Idealismus im System Kants ablehnten und den Nachweis führten, daß das Ding an sich objektiv real, sehr

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wohl erkennbar, diesseitig ist, sich prinzipiell durch nichts von der Erscheinung unterscheidet, sich bei jedem Schritt der Entwicklung des individuellen Bewußtseins des Menschen und des kollektiven Bewußtseins der Menschheit in eine Erscheinung verwandelt. Zeter und Mordio! schrien sie, das ist ja eine unerlaubte Vermengung des Materialismus mit Kantianismus!

Wenn ich die Beteuerungen unserer Machisten lese, daß ihre Kritik an Kant viel konsequenter und entschiedener sei als die irgendwelcher veralteter Materialisten, ist mir immer, als habe sich Purischkewitsch in unsere Gesellschaft verirrt und schreie: Meine Kritik an den Kadetten73 ist viel konsequenter und entschiedener als eure, ihr Herren Marxisten! Ganz gewiß, Herr Purischkewitsch, politisch konsequente Leute können und werden immer die Kadetten von diametral entgegengesetzten Standpunkten aus kritisieren, darüber darf man aber doch nicht vergessen, daß Sie die Kadetten kritisierten, weil sie Ihnen zu sehr Demokraten sind, wir aber, weil sie es nicht genügend sind. Die Machisten üben Kritik an Kant, weil er ihnen zu sehr Materialist ist, wir aber kritisieren ihn, weil er nicht genügend Materialist ist. Die Machisten kritisieren Kant von rechts, wir von links.

Als Musterbeispiele der ersten Art Kritik können in der Geschichte der klassischen deutschen Philosophie der Humeist Schulze und der subjektive Idealist Fichte dienen. Wie wir bereits gesehen haben, sind sie bemüht, die „realistischen" Elemente des Kantianismus auszumerzen. Ebenso wie Kant selbst von Schulze und Fichte kritisiert wurde, wurden die deutschen Neukantianer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den humeistischen Empiriokritikern und den subjektiv-idealistischen Immanenzphilosophen kritisiert. Dieselbe Linie von Hume und Berkeley trat in einer etwas aufgefrischten sprachlichen Hülle auf. Mach und Avenarius machten Kant nicht deswegen Vorwürfe, weil er das Ding an sich nicht genügend realistisch, nicht genügend materialistisch auffaßt, sondern weil er die Existenz eines solchen zuläßt - nicht deswegen, weil er es ablehnt, Kausalität und Naturnotwendigkeit aus der objektiven Wirklichkeit abzuleiten, sondern weil er überhaupt irgendwelche Kausalität und Notwendigkeit (es sei denn die rein „logische") zuläßt. Die Immanenzphilosophen gingen mit den Empiriokritikern konform, indem sie Kant ebenfalls vom humeistischen und berkeleyanischen Standpunkt aus

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kritisierten. So beschuldigte zum Beispiel Leclair 1879 in demselben Werk, in dem er Mach als bedeutenden Philosophen pries, Kant der „Inkonsequenz und [Konnivenz] nach der Seite des Realismus", die ihren Ausdruck in dem Begriff des „Dinges an sich", dieses „nominellen [Residuums] des vulgären Realismus", gefunden habe („Der Real. der mod. Nat. etc.", S. 9). Als vulgären Realismus bezeichnet Leclair den Materialismus; - um es „gepfefferter" zu sagen. „Nach unserem Dafürhalten", schrieb Leclair, „müssen alle Bestandteile der Kantschen Theorie, welche nach der Seite des realismus vulgaris gravitieren, als Inkonsequenzen und [Zwitterhafte] Produkte vom idealistischen Standpunkte aus überwunden und aufgelöst werden." (41.) „Die Inkonsequenzen und Widersprüche" in der Lehre Kants gehen hervor „aus der [Verquickung] des idealistischen Kritizismus mit nicht überwundenen Residuen realistischer Dogmatik." (170.) Als realistische Dogmatik bezeichnet Leclair den Materialismus.

Ein anderer Immanenzphilosoph, Johannes Rehmke, warf Kant vor, daß er sich durch das Ding an sich von Berkeley realistisch abgrenze. (Johannes Rehmke, „Die Welt als Wahrnehmung und Begriff", Berlin 1880, S. 9.) „Die philosophische Tätigkeit Kants trug wesentlich polemischen Charakter; mit dem Ding an sich wandte er sich gegen den deutschen Rationalismus" (d. h. gegen den alten Fideismus des 18. Jahrhunderts), „mit der reinen Anschauung gegen den englischen Empirismus." (25.) „Ich möchte das Kantische Ding an sich der beweglichen Klappe über einer Fallgrube vergleichen: das Ding sieht so unschuldig und sicher aus, man wagt sich hinauf, und plötzlich versinkt man in das βυϑός" (den Abgrund), „in die Welt an sich." (27.) Das ist es also, weswegen die Mitkämpfer von Mach und Avenarius, die Immanenzphilosophen, Kant nicht mögen: weil er sich hier und da dem „Abgrund" des Materialismus nähert!

Und nun ein paar Proben der Kantkritik von links. Feuerbach wirft Kant nicht „Realismus", sondern Idealismus vor; er bezeichnet sein System als „Idealismus auf dem Standpunkte des Empirismus" (Werke, 11,296).

Hier eine besonders wichtige Betrachtung Feuerbachs über Kant: „Kant sagt: ,Wenn wir die Gegenstände der Sinne, wie billig, als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hierdurch doch zugleich, daß ihnen ein

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Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d. i. die Art, wie unsere Sinne von diesem unbekannten Etwas [affiziert] werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch, daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und insofern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen, nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei. ..'" Feuerbach wählt eine Stelle bei Kant, in der das Ding an sich als bloßes Gedankending, als ein Verstandeswesen, und nicht als Realität betrachtet wird, und richtet eben dagegen seine ganze Kritik. „... Die Gegenstände der Sinne, der Erfahrung", sagt er, „sind also für den Verstand bloße Erscheinung, keine Wahrheit..." „Und dennoch sollen die Verstandeswesen keine wirklichen Objekte für den Verstand sein! Die Kantsche Philosophie ist der Widerspruch von Subjekt und Objekt, Wesen und Existenz, Denken und Sein. Das Wesen fällt hier in den Verstand, die Existenz in die Sinne. Die Existenz ohne Wesen" (d. h. die Existenz der Erscheinungen ohne objektive Realität) „ist bloße Erscheinung - das sind die sinnlichen Dinge - das Wesen ohne Existenz ist bloßer Gedanke - das sind die Verstandeswesen, die Noumena; sie werden gedacht, aber es fehlt ihnen die Existenz - wenigstens die Existenz für uns - die Objektivität; sie sind die Dinge an sich, die wahren Dinge, nur sind sie keine wirklichen Dinge . .. Aber welch ein Widerspruch, die Wahrheit von der Wirklichkeit, die Wirklichkeit von der Wahrheit abzutrennen!" (Werke, II, S. 302/303.) Feuerbach macht Kant nicht zum Vorwurf, daß er Dinge an sich annimmt, sondern daß er ihre Wirklichkeit, d. h. ihre objektive Realität, nicht zugibt, daß er sie für bloße Gedanken, für „Verstandeswesen" hält und nicht für „Wesen, die Existenz haben", d. h. real sind, wirklich existieren. Feuerbach macht Kant zum Vorwurf, daß er vom Materialismus abweicht.

„Die Kantische Philosophie ist ein Widerspruch", schrieb Feuerbach am 26. März 1858 an Bolin, sie „führt mit unvermeidlicher Notwendigkeit auf den Fichteschen Idealismus oder auf den Sensualismus." Die erste Konsequenz „gehört der Vergangenheit an", die zweite „der Gegenwart und Zukunft" (Grün, l. c., II, 49). Wir haben schon gesehen, daß Feuerbach den objektiven Sensualismus, d. h. den Materialismus, verteidigt. Die neue Wendung von Kant zum Agnostizismus und Idealismus, zu Hume

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und Berkeley ist sogar vom Standpunkt Feuerbachs unzweifelhaft reaktionär. Und der begeisterte Anhänger Feuerbachs, Albrecht Rau, der mit den Vorzügen Feuerbachs auch seine Schwächen übernahm, die Marx und Engels überwunden haben, kritisierte Kant ganz im Sinne seines Meisters. „Die Kantsche Philosophie ist eine Amphibolie" (Zweideutigkeit), „sie ist sowohl Materialismus als Idealismus, und in dieser ihrer Doppelnatur liegt der Schlüssel zu ihrem Wesen. Als Materialist oder Empirist kann Kant nicht umhin, den Dingen außer uns [Wesenheit] zuzuerkennen. Als Idealist vermochte er sich aber nicht von dem Vorurteile zu befreien, daß die Seele ein von den sinnlichen Dingen total verschiedenes Wesen sei. Es gibt also wirkliche Dinge und einen menschlichen Geist, der diese Dinge begreift. Wie kommt nun aber dieser Geist an die von ihm durchaus verschiedenen Dinge heran? Der Ausweg ist der: der Geist hat gewisse Erkenntnisse a priori, vermöge deren die Dinge so, wie sie ihm erscheinen, erscheinen müssen. Daß wir also die Dinge so begreifen, wie wir sie begreifen: das ist unsere Schöpfung. Denn der in uns lebende Geist ist ja nichts anderes als der Geist Gottes, und wie dieser aus Nichts die Welt erschuf, so macht der Geist des Menschen aus Dingen etwas, was diese Dinge an und für sich nicht sind. Den wirklichen Dingen wird ihre Wesenheit als ,Dinge an sich' garantiert. Der Seele aber bedurfte Kant, weil ihm die Unsterblichkeit ein moralisches Postulat war. Das ,Ding an sich', meine Herren" (so wendet sich Rau an die Neukantianer im allgemeinen und an den Wirrkopf A. Lange, der die „Geschichte des Materialismus" gefälscht hat, im besonderen), „ist also das Ding, durch welches der Kantsche Idealismus sich von dem Berkeleys unterscheidet: es bildet die Brücke vom Idealismus zum Materialismus. - Das ist meine Kritik der Kantschen Philosophie, und die stoße um, wer kann ... Für den Materialisten ist die Unterscheidung von Erkenntnissen a priori und dem ,Ding an sich' durchaus überflüssig, denn da er die Kontinuität der Natur nirgends unterbricht, da für ihn Materie und Geist nicht zwei grundverschiedene Dinge sind, sondern nur die zwei Seiten eines und desselben Dinges, so bedarf er auch keiner besonderen Kunstgriffe, um den Geist an die Dinge heranzubringen."*

Ferner, Engels macht, wie wir gesehen haben, Kant den Vorwurf, daß


* Albrecht Rau, „Ludwig Feuerbachs Philosophie, die Naturforschung und die philosophische Kritik der Gegenwart", Leipzig 1882, S. 87-89.

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er Agnostiker ist, nicht aber, daß er vom konsequenten Agnostizismus abweiche. Ein Schüler von Engels, Lafargue, polemisierte im Jahre 1900 gegen die Kantianer (zu denen damals Charles Rappoport gehörte) folgendermaßen :

„... Anfang des 19. Jahrhunderts begann unsere Bourgeoisie, nachdem sie das revolutionäre Zerstörungswerk beendet hatte, ihre voltairianische und freidenkerische Philosophie zu verleugnen; man machte den Katholizismus, den der Dekorationsmeister Chateaubriand in romantischen Farben ausmalte (peinturlurait), wieder zur Mode, und Sébastien Mercier importierte den Kantschen Idealismus, um dem Materialismus der Enzyklopädisten, dessen Verkünder von Robespierre guillotiniert worden waren, den Gnadenstoß zu geben.

Ende des 19. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Bourgeoisie, wie es die Geschichte nennen wird, versuchen die Intellektuellen, mit Hilfe der Kantschen Philosophie den Materialismus von Marx und Engels in Grund und Boden zu schlagen. Diese reaktionäre Bewegung begann in Deutschland - ungeachtet unserer Integral-Sozialisten, die die ganze Ehre dem Begründer ihrer Schule, Malon, zuerkannt wissen möchten. Malon selbst kommt aus keiner anderen Schule als aus der Höchbergs, Bernsteins und anderer Schüler Dührings, die in Zürich den Marxismus zu reformieren begannen." (Lafargue spricht von der bekannten ideologischen Strömung im deutschen Sozialismus in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.74) „Es ist zu erwarten, daß uns Jaurès, Fournière und unsere Intellektuellen ebenfalls den Kant vorsetzen werden, nachdem sie sich an seine Terminologie gewöhnt haben... Rappoport irrt, wenn er versichert, daß für Marx ,die Identität von Idee und Realität existiere'. Vor allem gebrauchen wir nie eine solche metaphysische Phraseologie. Die Idee ist ebenso real wie das Objekt, dessen Widerspiegelung im Gehirn sie ist... Um die Genossen, die die bürgerliche Philosophie kennenzulernen genötigt sind, ein wenig zu ergötzen (récréer), will ich darlegen, worin dieses berühmte Problem besteht, das die spiritualistischen Geister so stark beschäftigt hat...

Ein Arbeiter, der eine Wurst ißt und fünf Frank täglich verdient, weiß recht gut, daß er vom Unternehmer bestohlen wird und daß er Schweinefleisch ißt; er weiß, daß sein Unternehmer ein Dieb ist, daß die Wurst einen angenehmen Geschmack hat und nahrhaft für den Körper ist. Nichts

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dergleichen, sagt der bürgerliche Sophist, ganz gleich, ob er Pyrrhon, Hume oder Kant heißt, die Meinung des Arbeiters über diese Dinge ist seine persönliche, d. h. subjektive Meinung; mit dem gleichen Recht könnte er denken, daß der Unternehmer sein Wohltäter ist und daß die Wurst aus haschierter Haut gemacht ist, denn: das Ding an sich kann er nicht kennen ...

Die ganze Schwierigkeit besteht darin, daß die Frage falsch gestellt ist... Um das Objekt zu erkennen, hat sich der Mensch vorerst zu vergewissern, ob ihn seine Sinne nicht täuschen... Die Chemiker sind weiter gegangen, sie sind in das Innere der Körper vorgedrungen, haben sie analysiert, in ihre Elemente zerlegt, haben dann die umgekehrte Prozedur vorgenommen, d. h. eins Synthese, sie haben die Körper aus ihren Elementen wieder zusammengesetzt; von dem Augenblick an, in dem der Mensch imstande ist, aus diesen Elementen Dinge für seinen Gebrauch zu erzeugen, kann er - wie Engels sagt - behaupten, daß er die Dinge an sich kennt. Der Gott der Christen, wenn er existierte und die Welt erschaffen hätte, wüßte darüber auch nicht mehr."*

Wir haben uns erlaubt, diesen langen Auszug zubringen, um zu zeigen, wie Lafargue Engels auffaßte und wie er Kant von links kritisierte, nicht wegen jener Seiten des Kantianismus, die ihn vom Humeismus unterscheiden, sondern wegen derjenigen, die Kant und Hume gemeinsam sind; nicht wegen der Annahme des Dinges an sich, sondern wegen der ungenügend materialistischen Auffassung desselben.

Endlich kritisierte auch K. Kautsky in seiner „Ethik" Kant ebenfalls von einem dem Humeismus und Berkeleyanismus diametral entgegengesetzten Standpunkt aus: „Daß ich Grün und Rot und Weiß sehe", schreibt er gegen Kants Erkenntnistheorie, „das ist in meinem Sehvermögen begründet. Aber daß das Grüne etwas anderes ist als das Rote, das bezeugt etwas, das außer mir liegt, wirkliche Unterschiede der Dinge ... Die Verhältnisse und Unterschiede der Dinge selbst, die mir durch die einzelnen Raum- und Zeitvorstellungen angezeigt werden ..., sind wirkliche Verhältnisse und Unterschiede der Außenwelt, sie werden nicht durch die Art meines Erkenntnisvermögens bedingt. .. Wäre dem


* Paul Lafargue, „Le matérialisme de Marx et l'idéalisme de Kant" [Der Materialismus von Marx und der Idealismus von Kant] in „Le Socialiste"75 vom 25. Februar 1900.

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wirklich so" (wäre die Kantsche Lehre von der Idealität von Raum und Zeit richtig), „dann könnten wir von der Welt außer uns gar nichts wissen, nicht einmal, daß sie existiert." (S. 33/34 der russ. Übersetzung.76)

Also, die ganze Schule von Feuerbach, Marx und Engels ist von Kant nach links gegangen, zur völligen Ablehnung jeglichen Idealismus und jeglichen Agnostizismus. Unsere Machisten aber sind der reaktionären Richtung in der Philosophie gefolgt, sind Mach und Avenarius gefolgt, die Kant vom Standpunkt Humes und Berkeleys aus kritisierten. Jedem Bürger und zumal jedem Intellektuellen steht natürlich das heilige Recht zu, nach Belieben jedem ideologischen Reaktionär zu folgen. Wenn aber Leute, die mit den elementarsten Grundlagen des Marxismus in der Philosophie radikal gebrochen haben, dann anfangen, sich zu winden, konfus zu reden, Ausflüchte zu machen, zu versichern, daß sie „auch" Marxisten in der Philosophie seien, daß sie „fast" mit Marx übereinstimmen und ihn nur ein ganz klein wenig „ergänzt" hätten - so ist das schon ein recht peinliches Schauspiel.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 03.04.2013