7. Über zweierlei Kritik an Dühring | Inhalt | KAPITEL V

8. Wie konnten die reaktionären Philosophen an J. Dietzgen Gefallen finden?

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Das oben angeführte Beispiel mit Gelfond enthält bereits die Antwort auf diese Frage, und wir wollen die unzähligen Fälle, in denen unsere Machisten nach Gelfondscher Art mit J. Dietzgen umspringen, nicht weiter verfolgen. Zweckmäßiger dürfte es sein, einige Betrachtungen von J. Dietzgen selbst anzuführen, um seine schwachen Seiten zu zeigen.

„Denken ist eine Funktion des Gehirns", sagt Dietzgen („Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit", 1903, S. 52. Es gibt eine russische Übersetzung). „Denken ist ein Produkt des Gehirns ... Mein Schreibtisch als Inhalt meines Gedankens ist eins mit diesem Gedanken, unterscheidet sich nicht von demselben. Jedoch der Schreibtisch außerhalb des Kopfes ist sein durchaus von ihm verschiedener Gegenstand." (53.) Diese völlig klaren materialistischen Sätze ergänzt Dietzgen jedoch durch einen Satz wie diesen: „Gleichwohl ist doch auch die unsinnliche Vorstellung sinnlich, materiell, daß heißt wirklich ... Der Geist ist nicht weiter vom Tisch, vom Licht, vom Ton verschieden, wie diese Dinge untereinander verschieden sind." (54.) Das ist offenkundig falsch. Richtig ist, daß sowohl das Denken als auch die Materie „wirklich" sind, d. h. existieren. Das Denken aber als materiell bezeichnen heißt einen falschen Schritt tun zur Vermengung von Materialismus und Idealismus. Im Grunde ist es eher eine Ungenauigkeit des Ausdrucks bei Dietzgen, der an einer anderen Stelle richtig sagt: „Geist und Materie haben wenigstens das gemeinschaftlich, daß sie sind." (80.) „Denken ist eine leibliche Arbeit", sagt Dietzgen. „Zum Denken

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bedarf ich einen Stoff, der sich denken läßt. Dieser Stoff ist gegeben in den Erscheinungen der Natur und des Lebens... Die Materie ist die Schranke des Geistes; er kann nicht über sie hinaus... Geist ist ein Produkt der Materie, die Materie jedoch ist mehr als ein Produkt des Geistes..." (64.) Die Machisten vermeiden es, solche materialistischen Betrachtungen des Materialisten J. Dietzgen zu analysieren! Sie ziehen es vor, sich an Ungenauigkeiten und die Verworrenheiten bei Dietzgen zu klammem. So erklärt er zum Beispiel, daß die Naturforscher „Idealisten nur außerhalb ihres Faches" sein können (108). Ob dem so ist und warum, darüber schweigen die Machisten. Dagegen gibt Dietzgen knapp eine Seite vorher „die positive Seite des modernen Idealismus" (106) und das „Unzureichende des materialistischen Prinzips" zu, was für die Machisten eine Freude sein muß! Dietzgens nicht richtig ausgedrückter Gedanke besteht darin, daß auch der Unterschied von Materie und Geist relativ ist, nicht überschwenglich (107). Das stimmt, daraus folgt aber nicht, daß der Materialismus unzureichend ist, sondern daß der metaphysische, antidialektische Materialismus unzureichend ist.

„Profane wahrhaftige Wahrheit gründet sich nicht auf eine Person. Sie hat ihre Gründe außerhalb" (d. h. außerhalb der Person) „in ihrem Material, sie ist eine objektive... Wir nennen uns Materialisten... Philosophische Materialisten kennzeichnen sich dadurch, daß sie die leibhaftige Welt an den Anfang, an die Spitze, und die Idee oder den Geist als Folge setzen, während die Gegner nach religiöser Art die Sache vom Worte ..., die materielle Welt von der Idee ableiten." („Kleinere philosophische Schriften", 1903, S. 59, 62.) Diese Anerkennung der objektiven Wahrheit und die Wiederholung der Engelsschen Definition des Materialismus übergehen die Machisten. Nun aber sagt Dietzgen: „Wir dürften uns ebenso füglich auch Idealisten nennen, weil unser System auf dem Gesamtresultat der Philosophie fußt, auf der wissenschaftlichen Erforschung der Idee, auf der klaren Einsicht in die Natur des Geistes." (63.) Bei diesem offensichtlich falschen Satz kann man ohne weiteres einhaken, um den Materialismus zu verwerfen. In Wirklichkeit ist bei Dietzgen eher die Formulierung falsch als der Grundgedanke, der auf den Hinweis hinausläuft, daß der alte Materialismus es nicht vermochte, die Ideen wissenschaftlich (mit Hilfe des historischen Materialismus) zu erforschen.

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Hier die Betrachtung Dietzgens über den alten Materialismus: „Wie das Verständnis der Ökonomie, so ist auch unser Materialismus eine wissenschaftliche, eine historische Errungenschaft. Wie wir uns scharf unterscheiden von den Sozialisten der Vergangenheit, so auch von den ehemaligen Materialisten. Mit den letzteren haben wir nur gemein, die Materie als Voraussetzung oder Urgrund der Idee zu erkennen." (140.) Dieses „nur" ist charakteristisch! Es schließt in sich alle erkenntnistheoretischen Grundlagen des Materialismus, die ihn vom Agnostizismus, Machismus, Idealismus unterscheiden, ein. Doch Dietzgens Augenmerk ist darauf gerichtet, sich vom Vulgärmaterialismus abzugrenzen.

Dafür folgt weiter unten eine Stelle, die direkt falsch ist: „Der Begriff der Materie ist weiter zu fassen. Es gehören dazu alle Erscheinungen der Wirklichkeit, auch unser Begriffs- oder Erklärungsvermögen." (141.) Das ist ein Durcheinander, das nur geeignet ist, unter dem Deckmantel, den Materialismus „weiter zu fassen", Materialismus und Idealismus zu vermengen. Sich an ein derartiges „Weiterfassen" klammern wollen heißt die Grundlage der Philosophie Dietzgens, nämlich die Anerkennung der Materie als des Primären, als „Schranke des Geistes" vergessen. Einige Zeilen weiter verbessert sich Dietzgen eigentlich selbst: „Das Ganze regiert den Teil, die Materie den Geist." (142.) ... „In diesem Sinne mögen wir die materielle Welt... als erste Ursache, als Schöpfer des Himmels und der Erde lieben und ehren." (142.) Daß man in den Begriff der Materie auch die Gedanken einzubeziehen habe, wie es Dietzgen in den „Streifzügen" (S. 214 des zit. Buches) wiederholt, ist eine Konfusion, denn dadurch verliert die erkenntnistheoretische Gegenüberstellung von Materie und Geist, von Materialismus und Idealismus ihren Sinn, eine Gegenüberstellung, auf der Dietzgen selbst besteht. Daß diese Gegenüberstellung nicht „überschwenglich", übertrieben, metaphysisch sein darf, ist unbestreitbar (und das große Verdienst des dialektischen Materialisten Dietzgen besteht darin, daß er dies betont). Die Grenzen der absoluten Notwendigkeit und absoluten Wahrhaftigkeit dieser relativen Gegenüberstellung sind eben jene Grenzen, die die Richtung der erkenntnistheoretischen Forschungen bestimmen. Außerhalb dieser Grenzen mit der Gegensätzlichkeit von Materie und Geist, von Physischem und Psychischem als mit einer absoluten Gegensätzlichkeit zu operieren, wäre ein gewaltiger Fehler.

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Zum Unterschied von Engels drückt Dietzgen seine Gedanken verschwommen, unklar, breiig aus. Indes, von den Mängeln der Darstellung und einzelnen Fehlern abgesehen, vertritt er doch nicht umsonst die „materialistische Erkenntnistheorie" (S. 222, ebenfalls S. 271), den „dialektiscben 'Materialismus" (S. 224). „Darauf läuft denn", sagt J. Dietzgen, „die materialistische Erkenntnistheorie hinaus, zu konstatieren, daß das menschliche Erkenntnisorgan keine metaphysische Erleuchtung ausstrahlt, sondern ein Naturstück ist, welches andere Naturstücke konterfeit." (222/223.) „Unser Erkenntnisvermögen ist keine übernatürliche Wahrheitsquelle, sondern ein spiegelartiges Instrument, welches die Dinge der Welt oder die Natur reflektiert." (243.) Unsere tiefsinnigen Machisten gehen einer Analyse jeder einzelnen These der materialistischen Erkenntnistheorie J. Dietzgens aus dem Wege und klammern sich an seine Abweichungen davon, an die Unklarheiten und Verworrenheiten. Die reaktionären Philosophen konnten darum an J. Dietzgen Gefallen finden, weil er hie und da konfus ist. Wo Konfusion ist, da sind auch die Machisten, das ist selbstverständlich.

Marx schrieb am 5. Dezember 1868 an Kugelmann: „Vor ziemlich langer Zeit schickte er" (Dietzgen) „mir das Bruchstück eines Manuskripts über das ,Denkvermögen', was trotz einer gewissen Konfusion, und zu häufiger Wiederholungen, viel Vorzügliches und - als selbständiges Produkt eines Arbeiters - selbst Bewundernswertes enthält." (S. 53 der russ. übers.)92 Herr Walentinow zitiert diese Äußerung, aber es fallt ihm nicht ein, sich zu fragen, worin Marx die Konfusion bei J. Dietzgen sah: ob in dem, was Dietzgen Mach näherbringt, oder in dem, was Dietzgen zu Mach in Gegensatz bringt. Herr Walentinow hat diese Frage nicht gestellt, denn er hat sowohl Dietzgen als auch die Briefe von Marx in der Art des Gogolchen Petruschka* gelesen. Es ist aber nicht schwer, die Antwort auf diese Frage zu finden. Marx bezeichnete seine Weltanschauung wiederholt als dialektischen Materialismus, und im „Anti-Dühring", den "Marx vollständig im 'Manuskript gelesen hat, legt Engels eben diese Weltanschauung dar. Daraus hätten sogar die Herren Walentinow ersehen können, daß die Konfusion J. Dietzgens nur in seinen Abweichungen von der konsequenten Anwendung der Dialektik, vom konsequenten Materialismus, insbesondere vom „Anti-Dühring", bestehen konnte.


* Gestalt aus dem Roman „Die toten Seelen" von N. W. Gogol Der Übers.

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Ahnen Herr Walentinow und seine Kumpanei jetzt nicht, daß Marx nur das bei Dietzgen als Konfusion bezeichnen konnte, was Dietzgen Mach näherbringt, der von Kant nicht zum Materialismus, sondern zu Berkeley und Hume ging? Oder sollte der Materialist Marx gerade Dietzgens materialistische Erkenntnistheorie als Konfusion bezeichnet, hingegen seine Abweichungen vom Materialismus gebilligt haben? Das gebilligt, was mit dem unter seiner Mitwirkung geschriebenen „Anti-Dühring" nicht übereinstimmt?

Wen wollen unsere Machisten, die als Marxisten gelten möchten und dabei aller Welt verkünden, daß „ihr" Mach Dietzgen gebilligt habe, zum Narren halten? Unsere Helden haben nicht kapiert, daß Mach an Dietzgen nur das billigen konnte, um dessentwillen Marx ihn einen Wirrkopf nannte!

Bei einer Gesamteinschätzung verdient J. Dietzgen alles in allem keine so scharfe Verurteilung. Er ist zu neun Zehnteln Materialist, der niemals auf Originalität oder auf eine besondere vom Materialismus sich unterscheidende Philosophie Anspruch erhob. Von Marx sprach Dietzgen oft und niemals anders als von dem Wortführer der Richtung („Kleinere phil. Sehr.", S. 4 - Äußerung aus dem Jahre 1873; auf S. 95 - aus dem Jahre 1876 - wird betont, daß Marx und Engels „die nötige philosophische Schule besaßen", d. h. philosophische Bildung; S. 181 - aus dem Jahre 1886 - spricht er von Marx und Engels als den „anerkannten Stiftern" der Richtung). Dietzgen war Marxist, und wenn Eugen Dietzgen und - leider! - auch Genosse P. Dauge einen „Naturmonismus", einen „Dietzgenismus" u. dgl. erdichten, so erweisen sie ihm einen Bärendienst. Ein „Dietzgenismus" zum Unterschied vom dialektischen Materialismus, das ist Konfusion, ist ein Schritt zu einer reaktionären Philosophie, ist der Versuch, eine Linie zu schaffen nicht aus dem, was an Josef Dietzgen groß ist (in diesem Arbeiterphilosophen, der den dialektischen Materialismus auf seine Weise entdeckt hat, steckt viel Großes!), sondern aus dem, was an ihm schwach ist!

Ich beschränke mich auf zwei Beispiele, um zu zeigen, wie Gen. P. Dauge und Eug. Dietzgen zu einer reaktionären Philosophie abgleiten.

P. Dauge schreibt in der zweiten Auflage des „Akquisit", S. 273: „Selbst die bürgerliche Kritik weist auf die Verwandtschaft Dietzgens mit dem Empiriokritizismus und mit der immanenten Philosophie hin"; und

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weiter unten: „namentlich mit Leclair" (in dem Zitat aus der „bürgerlichen Kritik"),

Daß P. Dauge J. Dietzgen schätzt und achtet, ist unzweifelhaft. Ebenso unzweifelhaft ist aber auch, daß er J. Dietzgen eine Schmach antut, wenn er ohne Protest das Urteil eines bürgerlichen Schmierfinken zitiert, der den entschiedensten Feind des Fideismus und der Professoren, der „diplomierten Lakaien" der Bourgeoisie, mit dem offenen Prediger des Fideismus und Erzreaktionär Leclair in nähere Verbindung bringt. Es ist möglich, daß Dauge nur eine fremde Äußerung über die Immanenzphilosophen und Leclair wiedergegeben hat, ohne die Schriften dieser Reaktionäre selbst zu kennen. Doch möge ihm dies zur Warnung dienen: der Weg von Marx zu den Besonderheiten Dietzgens, zu Mach, zu den Immanenzphilosophen ist der Weg in den Sumpf. Nicht nur die nähere Verbindung mit Leclair, auch die nähere Verbindung mit Mach schiebt den Wirrkopf Dietzgen, zum Unterschied von dem Materialisten Dietzgen, in den Vordergrund.

Ich will J. Dietzgen gegen P. Dauge verteidigen. Ich behaupte, daß J. Dietzgen eine solche Schmach, daß man ihn mit Leclair in Verbindung bringt, nicht verdient hat. Und ich kann mich auf einen Zeugen berufen, der in dieser Frage die größte Autorität besitzt: auf einen ebensolchen reaktionären Philosophen, Fideisten und „Immanenzler" wie Leclair, nämlich auf Schubert-Soldern. 1896 schrieb dieser: „Die Sozialdemokraten lehnen sich gerne an Hegel an mit mehr oder weniger (in der Regel wenig) Berechtigung, nur wird die Hegeische Philosophie dann materialisiert; vgl. J. Dietzgen. Bei Dietzgen wird das Absolute zum Universum und dieses zum Ding an sich, zum absoluten Subjekt, dessen Erscheinungen seine Prädikate sind. Daß er damit ein reines Abstraktum zur Grundlage des konkreten Prozesses macht, sieht er natürlich ebensowenig wie Hegel... Hegel, Darwin, Haeckel und der naturwissenschaftliche Materialismus ballen sich oft chaotisch bei ihm zusammen." („Soziale Frage", S. XXXIII.) Schubert-Soldern kennt sich in philosophischen Nuancen besser aus als Mach, der alle und jeden lobt, sogar den Kantianer Jerusalem.

Eugen Dietzgen war naiv genug, sich beim deutschen Publikum darüber zu beschweren, daß die Engmaterialisten in Rußland J. Dietzgen „Unrecht getan" hätten; und er ließ die Aufsätze von Plechanow und

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Dauge über J. Dietzgen ins Deutsche übersetzen. (Siehe J. Dietzgen, „Erkenntnis und Wahrheit", Stuttgart 1908, Anhang.) Die Beschwerde des armen „Naturmonisten" fiel zu seinem eigenen Schaden aus; Fr. Mehring, der von Philosophie und von Marxismus etwas versteht, schrieb in seiner Rezension, daß Plechanow im wesentlichen gegen Dauge im Recht sei. („Neue Zeit", 1908, Nr. 38, 19. Juni, Feuilleton, S. 432.) Daß J. Dietzgen dort, wo er von Marx und Engels abweicht, in die Brüche geriet (S. 431), unterliegt für Mehring keinem Zweifel. Eugen Dietzgen antwortete Mehring mit einer langen und weinerlichen Notiz, in der er sich zu der Behauptung verstieg, daß J. Dietzgen nützlich sein könne, um „die feindlichen Brüder der Orthodoxen und Revisionisten" „zu vereinen" („N. Z.", 1908, Nr. 44, 31. Juli, S. 652).

Noch eine Warnung, Genosse Dauge: Der Weg von Marx zum „Dietzgenismus" und „Machismus" ist der Weg in den Sumpf, natürlich nicht für einzelne Personen, nicht für Iwan, Sidor oder Pawel, sondern für die Richtung.

Und nun, meine Herren Machisten, schreien Sie nicht, daß ich mich auf „Autoritäten" berufe: Ihr Geschrei gegen die Autoritäten soll ja nur verdecken, daß Sie an Stelle der sozialistischen Autoritäten (Marx, Engels, Lafargue, Mehring, Kautsky) bürgerliche Autoritäten (Mach, Petzoldt, Avenarius, die Immanenzphilosophen) unterschieben. Sie sollten die Frage der „Autoritäten" und des „Autoritarismus" lieber nicht aufrollen!



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 28.08.2013