Dritter Abschnitt | Inhalt | Vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe

Zweites Buch
TRANSZENDENTALE ANALYTIK

Die Analytik der Grundsätze

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Die allgemeine Logik ist über einem Grundriß erbaut, der ganz genau mit der Einteilung der oberen Erkenntnisvermögen zusammentrifft. Diese sind Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Jene Doktrin handelt daher in ihrer Analytik von Begriffen, Urteilen und Schlüssen gerade den Funktionen und der Ordnung jener Gemütskräfte gemäß, die man unter der weitläufigen Benennung des Verstands überhaupt begreift.

Da gedachte bloß formale Logik von allem Inhalt der Erkenntnis (ob sie rein oder empirisch sei) abstrahiert und sich bloß mit der Form des Denkens (der diskursiven Erkenntnis) überhaupt beschäftigt, so kann sie in ihrem analytischen Teil auch den Kanon vor die Vernunft mit befassen, deren Form ihre sichere Vorschrift hat, die, ohne die besondere Natur der dabei gebrauchten Erkenntnis in Betracht zu ziehen, a priori, durch bloße Zergliederung der Vernunfthandlungen in ihre Momente eingesehen werden kann.

Die transzendentale Logik, da sie auf einen bestimmten Inhalt, nämlich bloß der reinen Erkenntnisse a priori, eingeschränkt ist, kann es ihr in dieser Einteilung nicht nachtun, denn es zeigt sich, daß der transzendentale Gebrauch der Vernunft gar nicht objektiv gültig sei, mithin nicht zur Logik der Wahrheit, d. i. der Analytik gehöre, sondern als eine Logik des Scheins einen besondern Teil des scholastischen Lehrgebäudes unter dem Namen der transzendentalen Dialektik erfordere.

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Verstand und Urteilskraft haben demnach ihren Kanon des objektiv gültigen, mithin wahren Gebrauchs in der transzendentalen Logik und gehören also in ihren analytischen Teil. Allein Vernunft in ihren Versuchen, über Gegenstände a priori etwas auszumachen und das Erkenntnis über die Grenzen möglicher Erfahrung zu erweitern, ist ganz und gar dialektisch, und ihre Scheinbehauptungen schicken sich durchaus nicht in einen Kanon, dergleichen doch die Analytik enthalten soll.

Die Analytik der Grundsätze wird demnach lediglich ein Kanon für die Urteilskraft sein, der sie lehrt, die Verstandesbegriffe, welche die Bedingung zu Regeln a priori enthalten, auf Erschei­nungen anzuwenden. Aus dieser Ursache werde ich, indem ich die eigentlichen Grundsätze des Verstandes zum Thema nehme, mich der Benennung einer Doktrin der Urteilskraft bedienen, wodurch dieses Geschäft genauer bezeichnet wird.

Einleitung
Von der transzendentalen Urteilskraft überhaupt

Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe oder nicht. Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urteilskraft und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert, so bleibt ihr nichts übrig, als das Geschäft, die bloße Form der Erkenntnis in Begriffen, Urteilen und Schlüssen analytisch auseinanderzusetzen und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zustande zu bringen. Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumieren, d. i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert ebendarum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urteilskraft; und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urteilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will. Daher ist diese auch das Spezifische des sogenannten Mutterwitzes, dessen Mangel keine Schule ersetzen kann, denn, obgleich diese einem eingeschränkten Verstand Regeln vollauf, von fremder Einsicht entlehnt, darreichen und gleichsam einpfropfen kann, so muß doch das Ver-

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mögen, sich ihrer richtig zu bedienen, dem Lehrling selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist in Ermangelung einer solchen Naturgabe vor Mißbrauch sicher9. Ein Arzt daher, ein Richter oder ein Staatskundiger kann viel schöne pathologische, juristische oder politische Regeln im Kopf haben, in dem Grad, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstand) mangelt und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteil abgerichtet worden. Dieses ist auch der einzige und große Nutzen der Beispiele, daß sie die Urteilskraft schärfen. Denn was die Richtigkeit und Präzision der Verstandeseinsicht betrifft, so tun sie derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen (als casus in terminis) und überdem diejenige Anstrengung des Verstandes oftmals schwächen, Regeln im allgemeinen und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung nach ihrer Zulänglichkeit einzusehen und sie daher zuletzt mehr wie Formeln als Grundsätze zu gebrauchen angewöhnen. So sind Beispiele der Gängelwagen der Urteilskraft, welchen derjenige, dem es am natürlichen Talent derselben mangelt, niemals entbehren kann.

Obgleich nun aber die allgemeine Logik der Urteilskraft keine Vorschriften geben kann, so ist es doch mit der transzendentalen ganz anders bewandt, sogar daß es scheint, die letztere habe es zu ihrem eigentlichen Geschäft, die Urteilskraft im Gebrauch des reinen Verstandes durch bestimmte Regeln zu berichtigen und zu sichern. Denn um dem Verstand im Feld reiner Erkenntnisse a priori Erweiterung zu verschaffen, mithin als Doktrin scheint Philosophie gar nicht nötig oder vielmehr übel angebracht zu sein, weil man nach allen bisherigen Versuchen damit doch wenig oder gar kein Land gewonnen hat, sondern als Kritik, um die Fehltritte der Urteilskraft (lapsus judicii) im Gebrauch der wenigen reinen Verstandesbegriffe, die wir haben, zu verhüten, dazu (obgleich der Nutzen alsdann nur negativ ist) wird Philosophie mit ihrer ganzen Scharfsinnigkeit und Prüfungskunst aufgeboten.

Es hat aber die Transzendental-Philosophie das Eigentümliche, daß sie außer der Regel (oder vielmehr der allgemeinen Bedin-

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gung zu Regeln), die in dem reinen Begriff des Verstandes gegeben wird, zugleich a priori den Fall anzeigen kann, worauf sie angewandt werden sollen. Die Ursache von dem Vorzug, den sie in diesem Stück vor allen ändern belehrenden Wissenschaften hat (außer der Mathematik), liegt eben darin, daß sie von Begriffen handelt, die sich auf ihre Gegenstände a priori beziehen sollen, mithin kann ihre objektive Gültigkeit nicht a posteriori dargetan werden; denn das würde jene Dignität derselben ganz unberührt lassen, sondern sie muß zugleich die Bedingungen, unter welchen Gegenstände in Übereinstimmung mit jenen Begriffen gegeben werden können, in allgemeinen, aber hinreichenden Kennzeichen darlegen, widrigenfalls sie ohne allen Inhalt, mithin bloße logische Formen und nicht reine Verstandesbegriffe sein würden.

Diese transzendentale Doktrin der Urteilskraft wird nun zwei Hauptstücke enthalten: das erste, welches von der sinnlichen Bedingung handelt, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d. i. von dem Schematismus des reinen Verstandes; das zweite aber von den synthetischen Urteilen, welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Bedingungen a priori herfließen und allen übrigen Erkenntnissen a priori zugrunde liegen, d. i. von den Grundsätzen des reinen Verstandes.


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Datum der letzten Änderung : Jena, den : 27.11. 2014