Landé-Faktor

Der Landé-Faktor g (nach Alfred Landé) (auch gyromagnetischer Faktor, kurz: g-Faktor) ist für ein Atom, einen Atomkern oder ein Elementarteilchen das Verhältnis des gemessenen magnetischen Moments zu dem magnetischen Moment, das bei dem vorliegenden Drehimpuls nach der klassischen Physik theoretisch zu erwarten wäre. Ein negativer g-Faktor zeigt an, dass das magnetische Moment zur erwarteten Richtung entgegengesetzt ist.

Als klassischer Vergleichswert wird das magnetische Moment für ein System berechnet, das die gleiche Masse, die gleiche elektrische Ladung und den gleichen Drehimpuls besitzt. Bei reinem Bahndrehimpuls herrscht Übereinstimmung, daher ist g_{\ell }{\mathord  =}1 (der Index \ell ist das Symbol für den Bahndrehimpuls). Abweichende Fälle g{\mathord  {\neq }}1 erklären sich, wenn der Gesamtdrehimpuls ganz oder teilweise vom Spin herrührt.

Liegt reiner Spindrehimpuls vor, heißt der g-Faktor g_{s} auch Spin-g-Faktor oder anomaler g-Faktor des Spins und hat für jede Teilchenart einen feststehenden charakteristischen Wert. Beispielsweise ist für das Elektron g_s \mathord \approx -2, für das Proton g_{s}{\mathord  \approx }5{,}6, für das Neutron g_{s}{\mathord  \approx }{\mathord  -}3{,}8, für deren Antiteilchen dieselben Werte mit entgegengesetztem Vorzeichen.

Wenn der Gesamtdrehimpuls des Systems im betrachteten Zustand aus beiden Arten Drehimpuls zusammengesetzt ist, ist der g-Faktor eine Kombination aus g_{s} und g_{\ell } nach der Landé-Formel (s.u.).

Befindet sich das System in einem Magnetfeld, präzedieren die Vektoren {\vec {J}} (Gesamtdrehimpuls) und \vec \mu (magnetisches Moment), deren Erwartungswerte immer zueinander parallel sind, mit der Larmor-Frequenz um die Richtung des Magnetfelds und verursachen eine beobachtbare Aufspaltung des Energieniveaus, durch die der g-Faktor bestimmt werden kann (siehe Zeeman-Effekt, magnetische Kernresonanz, Elektronenspinresonanz). Solche Messungen haben entscheidend zur Entdeckung des Spin und zur Aufklärung des Aufbaus der Elektronenhülle und der Atomkerne beigetragen.

Theorie

Magnetisches Moment

Nach der klassischen Physik hat ein Körper mit Masse m und elektrischer Ladung q, der mit dem Drehimpuls {\vec  {\ell }} eine Kreisbahn beschreibt, ein magnetisches Moment:

{\vec  {\mu }}_{\ell }={\frac  {q}{2m}}{\vec  {\ell }}\quad
(kleine Buchstaben für Einteilchen-, große für Mehrteilchensysteme)

Das gyromagnetische Verhältnis nach der klassischen Physik ist demnach {\tfrac  {|{\vec  {\mu }}_{\ell }|}{|{\vec  {\ell }}|}}={\tfrac  {q}{2m}}.

Dies gilt auch für den Bahndrehimpuls {\vec  {\ell }} in der Quantenmechanik (wobei hier genau genommen die Operatoren {\hat  {{\vec  {\mu }}}} bzw. {\hat  {{\vec  {\ell }}}} gemeint sind). Dagegen weicht das mit dem Spin {\hat  {{\vec  s}}}{\mathord  =}{\tfrac  {\hbar }{2}}{\hat  {{\vec  \sigma }}} (den es in der klassischen Physik nicht gibt) verbundene magnetische Moment davon ab, was in der Formel mit einem „anomalen Spin-g-Faktor“ g_{s} berücksichtigt wird:

{\vec  {\mu }}_{{s}}=g_{s}{\frac  {q}{2m}}{\vec  {s}}

Die Operatoren für den Gesamtdrehimpuls bzw. das gesamte magnetische Moment eines Teilchens sind:

{\vec  {j}}={\vec  {\ell }}+{\vec  {s}}\quad {\mbox{bzw.}}\quad {\vec  {\mu }}={\vec  {\mu _{\ell }}}+{\vec  {\mu _{s}}}={\frac  {q}{2m}}({\vec  \ell }+g_{s}{\vec  s})

Um diese Formeln allgemein und auch für neutrale Teilchen (wie das Neutron) verwenden zu können, obwohl deren Bahndrehimpuls wegen q{\mathord  =}0 kein magnetisches Moment erzeugt, wählt man konstant q{\mathord  =}e und schreibt

{\vec  {\mu }}={\frac  {e}{2m}}(g_{\ell }{\vec  \ell }+g_{s}{\vec  s}),

wobei g_{\ell }{\mathord  =}{\mathord  \pm }1 für Teilchen mit Ladung q{\mathord  =}{\mathord  \pm }e und g_{\ell }{\mathord  =}0 für neutrale Teilchen gilt.

Wenn das System aus mehreren Teilchen derselben Art besteht (z.B. Elektronen in der Atomhülle), dann addieren sich alle Bahndrehimpulsoperatoren zum gesamten Bahndrehimpuls {\vec  {L}}=\sum {\vec  {\ell _{i}}} und alle Spinoperatoren zum Gesamtspin {\vec  {S}}=\sum {\vec  {s_{i}}}. Die Operatoren für den Gesamtdrehimpuls des Systems und sein gesamtes magnetisches Moment sind die Vektorsummen

{\vec  {J}}={\vec  {L}}+{\vec  {S}}\quad {\mbox{bzw.}}\quad {\vec  {\mu }}={\vec  {\mu _{L}}}+{\vec  {\mu _{S}}}={\frac  {e}{2m}}(g_{\ell }{\vec  L}+g_{s}{\vec  S}).

Landé-Formel

Wegen g_{\ell }{\mathord  {\neq }}g_{s} sind die oben definierten Vektoren {\vec {j}} und {\vec {\mu }} nicht parallel. Wenn aber in einem durch die Energie festgelegten Zustand die Quantenzahlen \ell ,s,j,m_{j} für die Beträge von Bahn-, Spin- und Gesamtdrehimpuls (und dessen z-Komponente) bestimmte Werte haben, wirkt sich das magnetische Moment nur durch seine Komponente parallel zu {\vec {j}} aus (Wigner-Eckart-Theorem, veranschaulicht durch „Die zum Drehimpuls senkrechten Komponenten mitteln sich heraus.“). Zur Unterscheidung von den Quantenzahlen werden die Operatoren jetzt „mit Dach“ {\hat  {{\vec  j}}} (etc.) geschrieben. Zu beachten ist auch, dass die Symbole {\hat  {{\vec  j}}},\ {\hat  {{\vec  \ell }}},\ {\hat  {{\vec  s}}},\ {\hat  {{\vec  \mu }}} hier die physikalischen Größen mit ihrer Dimension bezeichnen, die Symbole j,\,\ell ,\,s aber die reinen Quantenzahlen. Der Operator {\hat  {{\vec  j}}}^{2} hat also z.B. den Eigenwert j(j+1)\hbar ^{2}.

Als Operator ist {\hat  {{\vec  \mu }}} also nicht ein Vielfaches von {\hat  {{\vec  j}}}, aber effektiv tritt an seine Stelle die zu {\hat  {{\vec  j}}} parallele Komponente {\hat  {{\vec  \mu }}}_{{{\text{eff}}}}, mit der auch der resultierende g-Faktor g_{j} festgelegt wird:

{\hat  {{\vec  \mu }}}_{{{\text{eff}}}}={\frac  {({\hat  {{\vec  \mu }}}\cdot {\hat  {{\vec  j}}})}{{\hat  {{\vec  j}}}^{2}}}\,{\hat  {{\vec  j}}}=g_{j}{\frac  {e}{2m}}{\hat  {{\vec  j}}}

Der resultierende g-Faktor ist demnach der Wert des Operators

g_{j}={\frac  {2m}{e}}{\frac  {({\hat  {{\vec  \mu }}}\cdot {\hat  {{\vec  j}}})}{{\hat  {{\vec  j}}}^{2}}}\quad ={\frac  {g_{{\ell }}({\hat  {{\vec  \ell }}}\cdot {\hat  {{\vec  j}}})+g_{s}({\hat  {{\vec  s}}}\cdot {\hat  {{\vec  j}}})}{\hbar ^{2}j(j+1)}}.

Wenn man {\hat  {{\vec  s}}}={\hat  {{\vec  j}}}-{\hat  {{\vec  \ell }}} quadriert, lässt sich das erste Skalarprodukt gemäß

({\hat  {{\vec  j}}}\cdot {\hat  {{\vec  \ell }}})={\tfrac  {1}{2}}\,(\,{\hat  {{\vec  j}}}^{2}+{\hat  {{\vec  \ell }}}^{2}-{\hat  {{\vec  s}}}^{2})={\tfrac  {1}{2}}(j(j+1)+\ell (\ell +1)-s(s+1))\,\hbar ^{2}

durch die Quantenzahlen ausdrücken, das zweite analog. Es folgt die verallgemeinerte Landé-Formel

g_{j}={\frac  {1}{2}}{\frac  {g_{{\ell }}(j(j+1)+\ell (\ell +1)-s(s+1))+g_{s}(j(j+1)+s(s+1)-\ell (\ell +1))}{j(j+1)}}.

Für ein Elektron setzt man g_{{\ell }}{\mathord  =}1,\ g_{s}{\mathord  =}2 und erhält so die gewöhnliche Landé-Formel

g_{j}=1+{\frac  {\,j(j+1)-\ell (\ell +1)+s(s+1)}{2j(j+1)}}.

Für eine ganze Atomhülle mit mehreren Elektronen muss die Art der Kopplung der Drehimpulse berücksichtigt werden. Die einfache Landé-Formel ist im Fall der LS-Kopplung richtig, weil nur dann in dem betrachteten Zustand der gesamte Bahndrehimpuls {\hat  {{\vec  L}}} und der gesamte Spindrehimpuls {\hat  {{\vec  S}}} wohldefinierte Werte haben. Für die Berechnung werden nur die Valenzelektronen berücksichtigt, die sich nach den Hundschen Regeln auf die verschiedenen Niveaus der höchsten besetzten Schale verteilen, da die Drehimpuls- und Spinquantenzahlen abgeschlossener Schalen zu Null koppeln.

Die einfache Landé-Formel enthält noch nicht den genaueren Spin-g-Faktor des Elektrons, der aufgrund von Effekten der Quantenelektrodynamik um 1,1 ‰ größer ist.

Landé selbst hatte 1923 (fast richtig) g=1+{\tfrac  {j^{2}-{\tfrac  {1}{4}}-\ell ^{2}+s^{2}}{2(j^{2}-{\tfrac  {1}{4}})}} angegeben. Erst nach der Entdeckung der quantenmechanischen Formeln für den Drehimpuls 1925 entstand die korrekte Version.

Anomale g-Faktoren des Spins

Elektron

In der theoretischen Beschreibung des Elektrons durch die Schrödinger-Gleichung gibt es zunächst keinen Spin. Mit der Entdeckung des halbzahligen Spins musste dem Elektron aufgrund der Beobachtungen am anomalen Zeeman-Effekt der anomale gyromagnetische Faktor g_{e}{\mathord  =}2 zugeschrieben werden. In der Erweiterung der Schrödingergleichung zur Pauli-Gleichung wird der Spin einbezogen, wobei der gyromagnetische Faktor frei wählbar, also unerklärt ist. Erst die relativistische Beschreibung des Elektrons durch die Dirac-Gleichung für Spin-½-Fermionen ergab theoretisch g_{e}{\mathord  =}2. Entgegen verbreiteter Meinung kann dieser Wert auch aus der nichtrelativistischen Schrödingergleichung begründet werden, wenn man sie geeignet modifiziert. [Anm. 1]

Experimente der Elektronenspinresonanz zeigten später geringe Abweichungen. Zuweilen werden nur diese zusätzlichen Abweichungen anomales magnetisches Moment genannt, Experimente zu ihrer Bestimmung heißen auch (g-2)-Experimente. Die Dirac-Gleichung berücksichtigt nicht die mögliche Erzeugung und Vernichtung von Photonen und Elektron-Positron-Paaren. Dies leistet erst die Quantenelektrodynamik. Das führt zu Korrekturen in der Ankopplung des Elektrons an das Magnetfeld. Sie liefern einen theoretischen Wert von

g_{{{\text{Elektron, theoretisch}}}}=-2{,}002\,319\,304\,8(8),

wohingegen Experimente nach derzeitiger Messgenauigkeit einen Wert von

g_{{{\text{Elektron, gemessen}}}}=-2{,}002\,319\,304\,361\,82(52)

ergeben. Die experimentelle Genauigkeit übertrifft dabei die Genauigkeit der theoretischen Vorhersage. Die präzise Berechnung des g-Faktors und der Vergleich mit dem Experiment etwa beim Myon dient für Präzisionstests des Standardmodells der Elementarteilchen.

usammengesetzte Teilchen

Zusammengesetzte Teilchen haben deutlich andere gyromagnetische Faktoren:

Die g-Faktoren dieser Nukleonen sind nicht genau berechenbar, da das Verhalten ihrer Bestandteile, Quarks und Gluonen, nicht genügend genau bekannt ist.

Beim gyromagnetischen Faktor des Neutrons handelt es sich genau genommen um die Stärke der Spin-Magnetfeld-Energie des Neutrons im Vergleich zur Bahndrehimpuls-Magnetfeld-Energie des Protons, denn das Neutron ist ungeladen und hat keine Bahndrehimpuls-Magnetfeld-Energie.

Ebenso wie die gyromagnetischen Faktoren der Protonen und Neutronen kann der Kern-g-Faktor nicht a-priori berechnet werden, sondern muss experimentell bestimmt werden.

Bestimmungsgeschichte

Der g-Faktor, insbesondere der Wert g_{s}=2 für das Elektron, wurde 1923 von Landé phänomenologisch eingeführt, um die Beobachtungen am anomalen Zeeman-Effekt in Formeln zu fassen. Eine theoretische Erklärung wurde 1928 mit der Dirac-Gleichung gefunden. Die stark abweichenden Werte für Proton (1933) und Neutron (1948) konnten erst Jahrzehnte später im Quark-Modell verstanden werden. Die kleine Abweichung vom Dirac-Wert g_{s}=2 beim Elektron wurde bei gebundenen Elektronen durch Polykarp Kusch und andere ab 1946 entdeckt, für freie Elektronen durch H. Richard Crane ab 1954, bis hin zu einer Präzisionsmessung auf 13 Dezimalstellen 2011 durch D. Hanneke, in Übereinstimmung mit der theoretischen Berechnung im Standardmodell der Elementarteilchen

Der Bestimmung des g-Faktors des Myons widmete sich insbesondere Vernon Hughes, gipfelnd in einem Experiment am Brookhaven National Laboratory, dessen Ergebnisse 2002 vorgelegt wurden. Der Vergleich mit der Theorie ist beim Myon insofern schwieriger, als in den theoretischen Wert zusätzliche experimentelle Werte mit geringerer Genauigkeit mit einfließen. Eine Analyse ergab 2009 eine Abweichung von den Vorhersagen des Standardmodells.

Siehe auch

Anmerkungen

  1. Zwei mögliche Vorgehensweisen:
    • Nach Shankar: Principles of quantum mechanics. Plenum Press, N.Y. 1980: Die kinetische Energie statt durch {\hat  {\vec  {p}}}^{2}/2m mit der identischen Größe ({\vec  {\sigma }}\cdot {\hat  {\vec  {p}}})^{2}/2m ansetzen. Nach Ankopplung des elektromagnetischen Felds in üblicher Form, {\hat  {\vec  {p}}}\rightarrow ({\hat  {\vec  {p}}}-{\tfrac  {e}{c}}{\vec  {A}}), ergibt sich g=2.
    • Nach Greiner: Quantenmechanik. Einführung. Band 4, Kapitel XIV, ISBN 3-8171-1765-5: Die Schrödingergleichung direkt linearisieren, d.h. als Produkt zweier Differentialoperatoren 1. Ordnung zu schreiben. Es ergeben sich die 4-komponentigen Dirac-Spinoren und entsprechend g=2.
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