Versuch einer Zwischenbilanz

Die geschilderten Anfangsjahre des Motorfluges waren von dem ungeduldigen Streben gekennzeichnet, sich endlich mit einer Flugmaschine in die Luft zu erheben und zu fliegen — möglichst hoch und schnell, aber auch möglichst lange und weit. Mit den treffenden Worten "vom Schritt zum Sprung, vom Sprung zum Flug" und "von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land" hat der französische Förderer des Motorfluges Ferdinand Ferber seinerzeit diesen schwierigen Beginn und seine Entwicklungsetappen beschrieben. Und wie rasch ging es dann voran, nachdem die ersten Hopser und kurzen Flüge gelungen waren!

Am 17. Dezember 1903 durchflog Orville Wright in 12s eine 53-m-Strecke in 3 m Höhe. Nach eigenen Angaben der Brüder Wright betrug die Fluggeschwindigkeit 31 Meilen/h (eine amerikanische Landmeile = 1609,3 m). Das entspricht einer Geschwindigkeit von ungefähr 50 km/h. Bemerkenswert ist, daß schon zehn Jahre später, am 29. September 1913, von Maurice Prevost erstmals die 200-km/h-Geschwindigkeit überschritten wurde. Ein paar Monate danach, am 31. März 1914, waren aus den ersten Höhenmetern von Wright durch einen Flug von Otto Linnekogel bereits 6,3 Höhenkilometer geworden. Zu Jener Zeit lief längst die Flugzeugserienproduktion:

Viele der ersten Versuche zur Lösung des Motorflugproblems erscheinen uns heute unbeholfen und umwegig. Das waren sie auch, wenn sie aus gegenwärtiger Sicht bewertet werden, die über gänzlich andere wissenschaftliche Einsichten und technische Realisierungsmöglichkeiten verfügt als sie den Experimenteuren und Konstrukteuren jener Jahre gegeben waren. Werden aber gerechterweise der damalige Erkenntnis- und Entwicklungsstand zum Maßstab der Beurteilung erhoben, dann ist leicht zu erkennen, daß dieses Damals eine kreative Zeit war, die empirisches Vorgehen zu einer unerläßlichen Bedingung des möglichen und nicht einmal des garantierten Erfolges machte. Jedem, der fliegen wollte, wurde ein hohes Quantum an Einfallsreichtum und Wagemut abverlangt. So betrachtet, verdient selbst mancher Mißerfolg, der am Ende suchender Mühen stand, respektvolle Wertschätzung. So hat unser heutiges modernes Flugwesen eben einmal angefangen.

Mancherlei fällt auf, wenn jene Jahre und Jahrzehnte resümierend überschaut werden. Da ist zunächst die Unbekümmertheit, mit der die Konstrukteure zu Werke gingen. In erstaunlich kurzen Bauzeiten von mitunter nur wenigen Wochen entstand ein Versuchsmuster. Dann folgte die Erprobung, die gewöhnlich ein Mißerfolg wurde. In ebenso kurzer Zeit wurde — oft aus den Trümmern - ein neuer, verbesserter Flugapparat aufgebaut und wiederum sofort erprobt. In dieser Folge von Bauen, Erproben, Mißerfolg, Verbessern und erneutem Erproben verlief zumeist der Weg zum allmählichen und dann immer besser beherrschten Fliegen.

Auf diese Weise offenbarte sich auch zielstrebige Hartnäckigkeit als Voraussetzung für flugzeugtechnische Erfolge, denn jeder, der damals Flugzeuge bauen und damit fliegen wollte, mußte von der Realisierbarkeit seiner Idee so fest überzeugt sein, daß er persönliche finanzielle Opfer und Gefahren für die körperliche Unversehrtheit zumindest aus seinem Bewußtsein verdrängte. Doch genügte das Engagement nicht, denn mancher Triumph wurde verhindert, weil eines Tages das Geld nicht mehr zum Weiterbauen ausreichte. Immer dann stand Resignation am Ende einens hoffnungsvollen Bemühens. Und - wer vermag wohl heute zu entscheiden, ob nicht Kress, Philips oder Ellehammer schließlich erfolgreicher gewesen wären, wenn ihnen die finanziellen Mittel eines Maxim oder Santos-Du-mont zur Verfügung gestanden hätten?

Aus dieser Sicht wird in Betracht zu ziehen sein, daß auch kostensparende Überlegungen eine Rolle gespielt haben, wenn sich Brüder zu einem Motorflugvorhaben zusammenschlössen, denn daraus ergaben sich mehrere Vorteile. Die Brüder finanzierten das Bauen und Erproben gemeinsam. Familienmitglieder brauchten auch nicht entlohnt zu werden wie etwa Mechaniker, Monteure und Versuchsflieger. Außerdem blieben bei solchem Vorgehen selbst neue konstruktive Ideen im Familienbesitz, denn einer gab dem anderen, wodurch vielerlei Patentstreitigkeiten umgangen werden konnten, die damals allgemein üblich waren. Insofern trugen Brüder die Risiken gemeinsam, meist auch den kommerziellen Erfolg, sofern er sich einstellte. So wird das Phänomen verständlich, daß in den schwierigen Anfangsjahren oft Geschwister an einem Projekt arbeiteten: Orville und Wilbur Wright, Gabriel und Charles Voisin, Henry und Maurice Farman, Edouard und Charles de Nieport, Jacob und Wilhelm Ellehammer, Bruno und Willi Hanuschke. ...

Anders ausgerückt, man konnte nur bauen, was dem damaligen Stand der Technik entsprach und verkäuflich war. So konnte auf Grund der Bedingungen nicht der kürzeste Weg beschritten werden, sondern das moderne, aerodynamisch hochwertige Flugzeug entstand aus ganz verschiedenen relativ unabhängigen Entwicklungslinien.
Es waren nicht perönliche Schrullen oder rückständige Auffassungen der Konstrukteure die der Erreichung des Optimums im Wege standen.
Der wichtigste Faktor für eine stürmische Entwicklung steckte selbst noch in den Kinderschuhen. Die Aerodynamik begann sich erst als eigenständiger Wissenschaftszweig zu entwickeln. So bot die Doppeldeckerbauweise die sicherste Methode mit einem Minimum an Masse ein Maximum an Stabilität zu schaffen.


 
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basierend auf Günter Schmitt "Fliegende Kisten"

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Datum der letzten Änderung:  Jena, den : 14.12. 2014