8. Wie konnten die reaktionären Philosophen an J. Dietzgen Gefallen finden? | Inhalt | 1. Die Krise der modernen Physik

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KAPITEL V
DIE NEUESTE REVOLUTION
IN DER NATURWISSENSCHAFT
UND DER PHILOSOPHISCHE IDEALISMUS

Vor einem Jahr erschien in der Zeitschrift „Die Neue Zeit" ein Aufsatz von Josef Diner-Dénes: „Der Marxismus und die neueste Revolution in den Naturwissenschaften" (1906/1907, Nr. 52). Der Mangel dieses Aufsatzes besteht darin, daß die erkenntnistheoretischen Schlußfolgerungen, die aus der „modernen" Physik gezogen werden und die uns jetzt speziell interessieren, ignoriert werden. Aber gerade infolge dieses Mangels erwecken der Standpunkt und die Schlußfolgerungen des genannten Verfassers unser besonderes Interesse. Josef Diner-Dénes steht, wie der Schreiber dieser Zeilen auch, auf dem Standpunkt des nämlichen „einfachen Marxisten", von dem unsere Machisten mit so großartiger Verachtung sprechen. „Dialektischer Materialist", schreibt zum Beispiel Herr Juschkewitsch, „nennt sich gewöhnlich der durchschnittliche, einfache Marxist." (S. 1 seines Buches.) Dieser einfache Marxist nun in der Person von J. Diner-Dénes stellte die neuesten Entdeckungen in der Naturwissenschaft und insbesondere in der Physik (X-Strahlen, Becquerel-Strahlen, Radium93 usw.) unmittelbar Engels' „Anti-Dühring" gegenüber. Zu welcher Schlußfolgerung ist er dabei gekommen? „Auf den verschiedensten Gebieten der Naturwissenschaften", schreibt J. Diner-Dénes, „sind neue Erkenntnisse gewonnen worden, die alle nach jenem Punkte hinzielen, den Engels klarstellen wollte, daß es nämlich in der Natur ,keine unversöhnlichen Gegensätze gibt, keine gewaltsam fixierten Grenzlinien und Unterschiede', und daß, wenn schon Gegensätze und Unterschiede in der Natur vorkommen, nur wir ihre Starrheit und absolute Gültigkeit in die Natur hineingetragen haben." Es wurde beispielsweise entdeckt, daß Licht und Elektrizität Äußerungen ein und derselben Naturkraft sind.94 Mit jedem Tage wird es wahrscheinlicher, daß die chemische Affinität sich

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auf elektrische Vorgänge zurückführen läßt. Die unzerstörbaren und un­zerlegbaren Elemente der Chemie, deren Zahl gleichsam zum Hohn auf die Einheit der Welt noch fortwährend wächst, erweisen sich als zerstörbar und zerlegbar. Es gelang, das Element Radium in das Element Helium überzuführen.95 „So wie die Naturkräfte auf eine Kraft, sind mit dieser Erkenntnis auch alle Naturstoffe auf einen Stoff" (hervorgehoben von J. Diner-Dénes) „zurückgeführt." Der Verfasser zitiert die Ansicht eines der Gelehrten, die das Atom nur für verdichteten Äther halten96 und ruft: „Wie glänzend ist damit Engels' Ausspruch gerechtfertigt: Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie." „Alle Naturerscheinungen sind Bewegung, und die Unterschiede zwischen ihnen bestehen nur darin, daß wir Menschen diese Bewegung in verschiedenen Formen wahrnehmen ... Es ist, wie Engels gesagt hat. Ganz ebenso wie die Geschichte, wird auch die Natur von dem dialektischen Bewegungsgesetz beherrscht."

Anderseits ist es unmöglich, die machistische Literatur oder die Literatur über den Machismus in die Hand zu nehmen, ohne auf prätentiöse Berufungen auf die neue Physik zu stoßen, die den Materialismus widerlegt haben soll usw. usf. Ob diese Berufungen begründet sind, ist eine andere Frage, aber der Zusammenhang der neuen Physik oder vielmehr einer bestimmten Schule der neuen Physik mit dem Machismus und anderen Spielarten der modernen idealistischen Philosophie unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Sich mit dem Machismus auseinandersetzen und diesen Zusammenhang ignorieren - wie es Plechanow tut97 -, das ist ein Hohn auf den Geist des dialektischen Materialismus, das heißt die Engelssche Methode diesem oder jenem Buchstaben bei Engels zum Opfer bringen. Engels sagt ausdrücklich: „Mit jeder epochemachenden Entdeckung schon auf naturwissenschaftlichem Gebiet" (geschweige denn auf dem der Geschichte der Menschheit) „muß er" (der Materialismus) „seine Form ändern." („L. Feuerbach", S. 19 der dtsch. Ausg.)98 Eine Revision der „Form" des Engelsschen Materialismus, eine Revision seiner naturphilosophischen Sätze enthält folglich nicht nur nichts „Revisionistisches" im landläufigen Sinne des Wortes, sondern ist im Gegenteil eine unumgängliche Forderung des Marxismus. Den Machisten machen wir auch keineswegs eine solche Revision zum Vorwurf, sondern ihr rein revisionistisches Verfahren: das Thesen des Materialismus unter dem Deckmantel einer Kritik an seiner Form preiszugeben, die Grundthesen der reaktio-

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nären bürgerlichen Philosophie zu übernehmen, ohne den geringsten Versuch, sich direkt, offen und entschieden zum Beispiel mit solchen für die Frage unbedingt äußerst wesentlichen Äußerungen von Engels auseinanderzusetzen, wie dieser: „... Bewegung ist undenkbar ohne Materie" („Anti-Dühring", S. 50)".99

Selbstverständlich sind wir bei der Untersuchung der Frage nach dem Zusammenhang einer bestimmten Schule der neuesten Physiker mit der Wiedergeburt des philosophischen Idealismus weit entfernt von dem Gedanken, die Speziallehren der Physik zu erörtern. Uns interessieren lediglich die erkenntnistheoretischen Schlußfolgerungen aus einigen ganz bestimmten Sätzen und allgemein bekannten Entdeckungen. Diese erkenntnistheoretischen Schlußfolgerungen drängen sich in einem solchen Maße von selber auf, daß sie auch schon von vielen Physikern berührt werden. Mehr noch, unter den Physikern gibt es bereits verschiedene Richtungen, bilden sich bestimmte Schulen auf diesem Boden heraus. Unsere Aufgabe beschränkt sich deshalb darauf, präzis darzustellen, worin die wesentliche Differenz dieser Richtungen besteht und in welchem Verhältnis sie zu den Grundlinien der Philosophie stehen.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 25.01.2013