Vorrede | Inhalt | Kritik der reinen Vernunft

Einleitung

I. Idee der Transzendental-Philosophie

13

Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Produkt, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet. Sie ist ebendadurch die erste Belehrung und im Fortgang so unerschöpflich an neuem Unterricht, daß das zusammengekettete Leben aller künftigen Zeugungen an neuen Kenntnissen, die auf diesem Boden gesammelt werden können, niemals Mangel haben wird. Gleichwohl ist sie bei weitem nicht das einzige Feld, darin sich unser Verstand einschränken läßt. Sie sagt uns zwar, was da sei, aber nicht, daß es notwendigerweise so und nicht anders sein müsse. Ebendarum gibt sie uns auch keine wahre Allgemeinheit, und die Vernunft, welche nach dieser Art von Erkenntnissen so begierig ist, wird durch sie mehr gereizt als befriedigt. Solche allgemeinen Erkenntnisse nun, die zugleich den Charakter der inneren Notwendigkeit haben, müssen, von der Erfahrung unabhängig, vor sich selbst klar und gewiß sein; man nennt sie daher Erkenntnisse a priori: da im Gegenteil das, was lediglich von der Erfahrung erborgt ist, wie man sich ausdrückt, nur à posteriori oder empirisch erkannt wird.

Nun zeigt es sich, was überaus merkwürdig ist, daß selbst unter unsere Erfahrungen sich Erkenntnisse mengen, die ihren Ursprung a priori haben müssen und die vielleicht nur dazu dienen, um unseren Vorstellungen der Sinne Zusammenhang zu verschaffen. Denn wenn man aus den ersteren auch alles wegschafft, was en Sinnen angehört, so bleiben dennoch gewisse ursprüngliche Begriffe und aus ihnen erzeugte Urteile übrig, die gänzlich a priori, unabhängig von der Erfahrung, entstanden sein müssen, weil sie machen, daß man von den Gegenständen, die den Sinnen erscheinen, mehr sagen zu können glaubt, als bloße Erfahrung lehren würde, und daß Behauptungen wahre Allgemeinheit und strenge Notwendigkeit enthalten, dergleichen bloß empirische Erkenntnis nicht liefern kann.

14

Was aber noch weit mehr sagen will, ist dies, daß gewisse Erkenntnisse sogar das Feld aller möglichen Erfahrungen verlassen und durch Begriffe, denen überall kein entsprechender Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann, den Umfang unserer Urteile über alle ihre Grenzen zu erweitern den Anschein habend.

Und gerade in diesen letzteren Erkenntnissen, welche über die, Sinnenwelt hinausgehen, wo Erfahrung gar keinen Leitfaden noch Berichtigung geben kann, liegen die Nachforschungen unserer Vernunft, die wir der Wichtigkeit nach für weit vorzüglicher und ihre Endabsicht für viel erhabener halten als alles, was der Verstand im Feld der Erscheinungen lernen kann, wobei wir, sogar auf die Gefahr zu irren, eher alles wagen, als daß wir so angelegene Untersuchungen aus irgendeinem Grund der Bedenklichkeit oder aus Geringschätzung und Gleichgültigkeit aufgeben sollten.

Nun scheint es zwar natürlich, daß, sobald man den Boden der Erfahrung verlassen hat, man doch nicht mit Erkenntnissen, die man besitzt, ohne zu wissen woher, und auf den Kredit der Grundsätze, deren Ursprung man nicht kennt, sofort ein Gebäude errichten werde, ohne der seiner Grundlegung durch sorgfältige Untersuchungen vorher versichert zu sein, daß man also die Frage vorlängst werde aufgeworfen haben, wie denn der Verstand zu allen diesen Erkenntnissen a priori kommen könne und welchen Umfang, Gültigkeit und Wert sie haben mögen. In der Tat ist auch nichts natürlicher, wenn man unter diesem Wort2 das versteht, was billiger- und vernünftigerweise geschehen sollte; versteht man aber darunter das, was gewöhnlichermaßen geschieht, so ist hinwiederum nichts natürlicher und begreiflicher, als daß diese Untersuchung lange Zeit unterbleiben mußte. Denn ein Teil dieser Erkenntnisse, die mathematischen, ist im alten Besitz der Zuverlässigkeit und gibt dadurch eine günstige Erwartung auch für andere, obgleich diese von ganz verschiedener Natur sein mögen. Überdem, wenn man über den Kreis der Erfahrung hinaus ist, so ist man sicher, durch Erfahrung nicht widersprochen zu werden. Der Reiz, seine Erkenntnisse zu erweitern, ist so groß, daß man nur durch einen klaren Widerspruch, auf den man stößt, in seinem Fortschritt aufgehalten werden kann. Dieser aber kann vermieden werden, wenn man seine Erdichtungen behutsam macht, ohne daß sie deswegen weniger Erdichtungen bleiben. Die Mathematik gibt uns ein glänzendes Beispiel, wie weit wir es unabhängig von der Erfahrung in der Erkenntnis a priori bringen können. Nun beschäftigt sie sich zwar mit Gegenständen und Erkennt-

15

nissen bloß so weit, als sich solche in der Anschauung darstellen lassen. Aber dieser Umstand wird leicht übersehen, weil gedachte Anschauung selbst a priori gegeben werden kann, mithin von einem bloßen reinen Begriff kaum unterschieden wird. Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft aufgemuntert, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Flug die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstand so vielfältige Hindernisse legt, und wagte sich jenseits derselben auf den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen. Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Spekulation, ihr Gebäude so früh wie möglich fertig zu machen und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut gelegt sei. Alsdann aber werden allerlei Beschönigungen herbeigesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit zu trösten oder eine solche späte und gefährliche Prüfung abzuweisen. Was uns aber während des Bauens von aller Besorgnis und allem Verdacht frei hält und mit scheinbarer Gründlichkeit schmeichelt, ist dieses. Ein großer Teil, und vielleicht der größte, von dem Geschäft unserer Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen haben. Dies liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, obgleich sie nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desjenigen sind, was in unseren Begriffen (wiewohl noch auf verworrene Art) schon gedacht worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich geschätzt werden, wiewohl sie der Materie oder dem Inhalt nach die Begriffe, die wir haben, nicht erweitern, sondern nur auseinandersetzen. Da dieses Verfahren nun eine wirkliche Erkenntnis a priori gibt, die einen sicheren und nützlichen Fortgang hat, so erschleicht die Vernunft, ohne es selbst zu merken, unter dieser Vorspiegelung Behauptungen von ganz anderer Art, wo die Vernunft zu gegebenen Begriff en a priori ganz fremde hinzutut, ohne daß man weiß, wie sie dazu gelange, und ohne sich diese Frage auch nur in die Gedanken kommen zu lassen. Ich will daher gleich anfangs von dem Unterschied dieser zweifachen Erkenntnisart handeln.

Vom Unterschied analytischer und synthetischer Urteile

16

In allen Urteilen, in denen das Verhältnis eines Subjekts zum Prädikat gedacht wird (wenn ich nur die bejahenden erwäge: denn auf die verneinenden ist die Anwendung leicht), ist dieses Verhältnis auf zweierlei Art möglich. Entweder das Prädikat B gehört zum Subjekt A als etwas, was in diesem Begriff A (versteckterweise) enthalten ist, oder B liegt ganz außer dem Begriff A, obzwar es mit demselben in Verknüpfung steht. Im ersten Fall nenne ich das Urteil analytisch, im anderen synthetisch. Analytische Urteile (die bejahenden) sind also diejenigen, in welchen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt durch Identität, diejenigen aber, in denen diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird, sollen synthetische Urteile heißen. Die ersteren könnte man auch Erläuterungs-, die anderen Erweiterungsurteile heißen, weil jene durch das Prädikat nichts zum Begriff des Subjekts hinzutun, sondern diesen nur durch Zergliederung in seine Teilbegriffe zerfallen, die in selbigen schon (obschon verworren) gedacht waren: dahingegen die letzteren zu dem Begriff des Subjekts ein Prädikat hinzutun, welches in jenem gar nicht gedacht war und durch keine Zergliederung desselben hätte herausgezogen werden können; z. B. wenn ich sage: Alle Körper sind ausgedehnt, so ist dies ein analytisches Urteil. Denn ich darf nicht aus dem Begriff, den ich mit dem Wort Körper verbinde, hinausgehen, um die Ausdehnung als mit demselben verknüpft zu finden, sondern jenen Begriff nur zergliedern, d.i. des Mannigfaltigen, welches ich jederzeit in ihm denke, nur bewußt werden, um dieses Prädikat darin anzutreffen; es ist also ein analytisches Urteil. Dagegen, wenn ich sage: Alle Körper sind schwer, so ist das Prädikat etwas ganz anderes als das, was ich in dem bloßen Begriff eines Körpers überhaupt denke. Die Hinzufügung eines solchen Prädikats gibt also ' ein synthetisches Urteil. Nun ist hieraus klar:
  1. daß durch analytische Urteile unsere Erkenntnis gar nicht erweitert wird, sondern der Begriff, den ich schon habe, auseinandergesetzt und mir selbst verständlich gemacht wird;
  2. daß bei synthetischen Urteilen ich außer dem Begriff des Subjekts noch etwas anderes (X) haben muß, worauf sich der Verstand stützt, um ein Prädikat, das in jenem Begriff nicht liegt, doch als dazugehörig zu erkennen.

Bei empirischen oder Erfahrungsurteilen hat es hiermit gar keine Schwierigkeit. Denn dieses X ist die vollständige Erfahrung von

17

dem Gegenstand, den ich durch einen Begriff A denke, welcher nur einen Teil dieser Erfahrung ausmacht. Denn obschon ich in dem Begriff eines Körpers überhaupt das Prädikat der Schwere gar nicht einschließe, so bezeichnet er doch die vollständige Erfahrung durch einen Teil derselben, zu welchem also ich noch andere Teile ebenderselben Erfahrung, als zu dem ersteren gehörig, hinzufügen kann. Ich kann den Begriff des Körpers vorher analytisch durch die Merkmale der Ausdehnung, der Undurchdringlichkeit, der Gestalt usw., die alle in diesem Begriff gedacht werden, erkennen. Nun erweitere ich aber meine Erkenntnis, und, indem ich auf die Erfahrung zurücksehe, von welcher ich diesen Begriff des Körpers abgezogen hatte, so finde ich mit obigen Merkmalen auch die Schwere jederzeit verknüpft. Es ist also die Erfahrung jenes X, das außer dem Begriff A liegt und worauf sich die Möglichkeit, der Synthesis des Prädikats der Schwere B mit dem Begriff A gründet.

Aber bei synthetischen Urteilen a priori fehlt dieses Hilfsmittel ganz und gar. Wenn ich über den Begriff A hinausgehen soll, um einen andern B, als damit verbunden, zu erkennen, was ist das, worauf ich mich stütze und wodurch die Synthesis möglich wird, da ich hier den Vorteil nicht habe, mich im Feld der Erfahrung darnach umzusehen? Man nehme den Satz »Alles, was geschieht, hat seine Ursache«. In dem Begriff von etwas, das geschieht, denke ich zwar ein Dasein, vor welchem eine Zeit vorhergeht usw., und daraus lassen sich analytische Urteile ziehen. Aber der Begriff einer Ursache zeigt etwas von dem, was geschieht, Verschiedenes an und ist in dieser letzteren Vorstellung gar nicht mit enthalten. Wie komme ich denn dazu, von dem, was überhaupt geschieht, etwas davon ganz Verschiedenes zu sagen und den Begriff der Ursachen, obzwar in jenen nicht enthalten, dennoch, als dazugehörig, zu erkennen? Was ist hier das X, worauf sich der Verstand stützt, wenn er außer dem Begriff von A ein demselben fremdes Prädikat aufzufinden glaubt, das gleichwohl damit verknüpft sei? Erfahrung kann es nicht sein, weil der angeführte Grundsatz nicht allein mit größerer Allgemeinheit als die Erfahrung verschaffen kann, sondern auch mit dem Ausdruck der Notwendigkeit, mithin gänzlich a priori und aus bloßen Begriffen diese zweite Vorstellung zu der ersteren hinzufügt. Nun beruht auf solchen synthetischen, d.i. Erweiterungs-Grundsätzen, die ganze Endabsicht unserer spekulativen Erkenntnis a priori; denn analytischen sind zwar höchst wichtig und nötig, aber nur um

18

zu derjenigen Deutlichkeit der Begriffe zu gelangen, die zu einei sicheren und ausgebreiteten Synthesis als zu einem wirklich neuen Anbau erforderlich ist.

Es liegt also hier ein gewisses Geheimnis verborgen3, dessen Aufschluß allein dem Fortschritt in dem grenzenlosen Feld der reines Verstandeserkenntnis sicher und zuverlässig machen kann: nämlich mit gehöriger Allgemeinheit den Grund der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aufzudecken, die Bedingungen, die eine jede Art derselben möglich machen, einzusehen und diese ganze Erkenntnis (die ihre eigene Gattung ausmacht) in einem System nach ihren ursprünglichen Quellen, Abteilungen, Umfang und Grenzen, nicht durch einen flüchtigen Umkreis zu bezeichnen, sondern dem vollständig und zu jedem Gebrauch hinreichend zu bestimmen. Soviel vorläufig von dem Eigentümlichen, das die synthetischen Urteile an sich haben.

Aus diesem allen ergibt sich nun die Idee einer besonderer Wissenschaft, die zur Kritik der reinen Vernunft dienen kann. Es heißt aber jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdartigen vermischt ist. Besonders aber wird eine Erkenntnis schlechthin rein genannt, in die sich überhaupt keine Erfahrung oder Empfindung einmischt, welche mithin völlig a priori möglich ist. Nun ist Vernunft das Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt. Daher ist reine Vernunft diejenige welche die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält. Ein Organ der reinen Vernunft würde ein Inbegriff derjenigen Prinzipien sein, nach denen alle reinen Erkenntnisse a priori erworben und wirklich zustande gebracht werden können. Die ausführliche Anwendung eines solchen Organs würde ein System der reinen Vernunft verschaffen. Da dieses aber sehr viel verlangt ist und es noch dahinsteht, ob auch hier überhaupt eine solche Erweiterung unserer Erkenntnis und in welchen Fällen sie möglich sei, so können wir eine Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen, als die Propädeutik zum System der reinen Vernunft ansehen. Eine solche würde nicht eine Doktrin, sondern nur Kritik der reinen Vernunft heißen müssen, und ihr Nutzen würde wirklich nur negativ sein, nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Läuterung unsere Vernunft dienen und sie von Irrtümern freihalten, welches schon sehr viel gewonnen ist. Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unseren Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt. Ein

19

System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen. Diese ist aber wiederum für den Anfang zuviel. Denn well eine solche Wissenschaft sowohl die analytische Erkenntnis wie die synthetische a priori vollständig enthalten müßte, so ist sie, insofern es unsere Absicht betrifft, von zu weitem Umfang, indem wir die Analysis nur so weit treiben dürfen, als sie unentbehrlich nötig ist, um die Prinzipien der Synthesis a priori, worum es uns nur zu tun ist, in ihrem ganzen Umfang einzusehen. Diese Untersuchung, die wir eigentlich nicht Doktrin, sondern nur transzendentale Kritik nennen können, weil sie nicht die Erweiterung der Erkenntnisse selbst, sondern nur die Berichtigung derselben zur Absicht hat und Probierstein des Werts oder Unwerts aller Erkenntnisse a priori abgeben soll, ist das, womit wir uns jetzt beschäftigen. Eine solche Kritik ist demnach womöglich eine Vorbereitung zu einem Organon und, wenn dies nicht gelingen sollte, wenigstens zu einem Kanon derselben, nach welchen allenfalls dereinst das vollständige System der Philosophie der reinen Vernunft, es mag nun in Erweiterung oder bloßer Begrenzung ihrer Erkenntnis bestehen, sowohl analytisch als synthetisch dargestellt werden könnte. Denn daß dieses möglich sei, ja daß ein solches System von nicht gar großem Umfange sein könne, um zu hoffen, es ganz zu vollenden, läßt sich schon im voraus daraus ermessen, daß hier nicht die Natur der Dinge, welche unerschöpflich ist, sondern der Verstand, der über die Natur der Dinge urteilt, und auch dieser wiederum nur in Ansehung seiner Erkenntnis a priori den Gegenstand ausmacht, dessen Vorrat, weil wir ihn doch nicht auswärtig suchen dürfen, uns nicht verborgen bleiben kann, und allem Vermuten nach klein genug ist, um vollständig aufgenommen, nach seinem Wert oder Unwert beurteilt und unter richtige Schätzung gebracht zu werden.

II. Einteilung der Transzendental-Philosophie

Die Transzendental-Philosophie ist hier nur eine Idee, wozu die Kritik der reinen Vernunft den ganzen Plan architektonisch, d. i. aus Prinzipien, entwerfen soll, mit völliger Gewährleistung der Vollständigkeit und Sicherheit aller Stücke, die dieses Gebäude ausmachen. Daß diese Kritik nicht schon selbst Transzendental-Philosophie heißt, beruht lediglich darauf, daß sie, um ein vollständiges System zu sein, auch eine ausführliche Analysis der ganzen menschlichen Erkenntnis a priori enthalten müßte. Nun muß

20

zwar unsere Kritik allerdings auch eine vollständige Herzählung aller Stammbegriffe, welche die gedachte reine Erkenntnis ausmachen, vor Augen legen. Allein der ausführlichen Analysis dieser Begriffe selbst wie auch der vollständigen Rezension der daraus abgeleiteten enthält sie sich billig, teils weil diese Zergliederung nicht zweckmäßig wäre, indem sie die Bedenklichkeit nicht hat, welche bei der Synthesis angetroffen wird, um derentwillen eigentlich die ganze Kritik da ist, teils, weil es der Einheit des Plans zuwider wäre, sich mit der Verantwortung der Vollständigkeit einer solchen Analysis und Ableitung zu befassen, deren man in Ansehung seiner Absicht doch überhoben sein konnte. Diese Vollständigkeit der Zergliederung sowohl als der Ableitung aus den künftig zu liefernden Begriffen a priori ist indessen leicht zu ergänzen, wenn sie nur allererst als ausführliche Prinzipien der Synthesis da sind und ihnen in Ansehung dieser wesentlichen Absicht nichts ermangelt.

Zur Kritik der reinen Vernunft gehört demnach alles, was die Transzendental-Philosophie ausmacht, und sie ist die vollständige Idee der Transzendental- Philosophie, aber diese Wissenschaft noch nicht selbst, weil sie in der Analysis nur so weit geht, als es zur vollständigen Beurteilung der synthetischen Erkenntnis a priori, erforderlich ist.

Das vornehmste Augenmerk bei der Einteilung einer solchen Wissenschaft ist, daß gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten, oder daß die Erkenntnis a priori völlig rein sei. Obzwar daher die obersten Grundsätze der Moralität und ihre Grundbegriffe Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendental-Philosophie, weil die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen, der Willkür usw., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, dabei vorausgesetzt werden müßten. Daher ist die Transzendental-Philosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft. Denn alles Praktische, sofern es Bewegungsgründe enthält, bezieht sich auf Gefühle, welche zu empirischen Erkenntnisquellen gehören.

Wenn man nun die Einteilung dieser Wissenschaft aus dem allgemeinen Gesichtspunkt eines Systems überhaupt anstellen will, so muß die, welche wir jetzt vortragen, erstlich eine Elementarlehre, zweitens eine Methodenlehre der reinen Vernunft enthalten. Jeder dieser Hauptteile würde seine Unterabteilung haben, deren Gründe sich gleichwohl hier noch nicht vortragen lassen. Nur so-

21

viel scheint zur Einleitung oder Vorerinnerung nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden. Sofern nun die Sinnlichkeit Vorstellungen a priori enthalten sollte, welche die Bedingungen ausmachen, unter der uns Gegenstände gegeben werden, so würde sie zur Transzendental-Philosophie gehören. Die transzendentale Sinnenlehre würde zum ersten Teil der Elementarwissenschaft gehören müssen, weil die Bedingungen, worunter allein die Gegenstände der menschlichen Erkenntnis gegeben werden, denjenigen vorgehen, unter welchen selbige gedacht werden.




Inhalt
Datum der letzten Änderung : Jena, den : 19.10. 2014