Martin Spiewak
Irgendwann wird sie es mit ihrer Mutter besprechen. Nicht sofort, nicht gleich morgen. Aber bald. "Ich spüre das kommen." Nun, da Katrin Ann Kunze ihre Geschichte selbst einem Fremden erzählt hat. Jetzt nach mehr als zwei Jahrzehnten.
Damals im Urlaub, sie war 16 Jahre alt, hatten die Eltern ihr gesagt: "Du bist anders als andere Mädchen." Eierstöcke habe sie keine, auch die Gebärmutter fehle, eigene Kinder werde sie niemals bekommen. Stattdessen hätten die Ärzte männliche Gonaden bei ihr gefunden.
Plötzlich machte alles einen Sinn. Die ständigen Sitzungen auf dem gynäkologischen Stuhl. Die Gespräche der Mutter mit dem Arzt, während Katrin vor der Tür warten musste. Die Sorge, warum alle Mädchen in der Klasse bereits ihre Regel hatten, nur sie selbst noch nicht. Gleichzeitig bekam Katrin von ihren Eltern eingeschärft, mit niemandem darüber zu sprechen, dass sie eine Frau sei, aber mit den Erbanlagen eines Mannes. Nicht mit ihren Geschwistern, die noch zu jung seien. Nicht mit den Verwandten, die damit nicht umgehen könnten. Nicht mit zukünftigen Partnern, die sie sonst vielleicht nicht mehr liebten. Und auch die Eltern selbst meiden bis heute das Gespräch.
Katrin Ann Kunze gehört zu einer Gruppe von Menschen, denen der kleine Unterschied zum größten Problem wurde. Zwitter nennt sie der Volksmund oder, gebildeter, Hermaphroditen, nach den Göttern Hermes und Aphrodite. In der Wissenschaft heißen sie Intersexuelle - ein Sammelbegriff für eine Vielzahl medizinischer Befunde, bei denen die äußeren oder inneren Geschlechtsteile bei der Geburt fehlen oder fehlgebildet sind. Bei schweren Fällen wissen die Geburtshelfer keine spontane Antwort auf die klassische erste Frage: "Junge oder Mädchen?" Anders als bei Transsexuellen, deren Gefühl, im falschen Körper zu leben, ursächlich schwer erklärbar ist, hat Intersexualität gut bekannte medizinische Ursachen (siehe Artikel-Link Intersexualität).
Etwa eines von 2000 Neugeborenen ist intersexuell. Das scheint wenig, doch insgesamt dürfte es 20.000 bis 30.000 Betroffene in Deutschland geben. Fast jeder ist bereits einem von ihnen begegnet - meist ohne es zu bemerken. Denn die Ärzte weisen den Kindern gleich nach der Geburt ein Geschlecht zu, bessern den scheinbaren Fehltritt der Natur mit Skalpell und Hormonen nach - und hoffen mit den Eltern, das Problem sei halbwegs behoben.
Die Patienten erfahren oft erst spät, was ihnen fehlt. Bis heute bedeckt ein Tabu das Thema, unter dem viele Betroffene zu ersticken drohen. Katrin Ann Kunze hielt sich lange an das Schweigegebot. "Ich habe die Sache ganz tief in mir vergraben und ständig daran vorbeigelebt", sagt sie. Für den Fall, dass andere Mädchen sie um einen Tampon bitten würden, hatte sie stets welche dabei. Ging es um Verhütung, sagte sie, dass sie die Pille nehme. Was nicht einmal gelogen war, hatten die Ärzte ihr doch nach Entfernung der Gonaden Hormonpillen verschrieben. Irgendwann aber begann das Geheimnis zu schmerzen. Ess- und Schlafstörungen wechselten sich ab, immer wieder überfielen sie Depressionen. Und tief in ihr quälte sie die Vorstellung, keine vollwertige Frau zu sein - eher "so eine Art Alien". Heute, nach mehreren Therapien, ist die nun 40-Jährige endlich eins mit sich und hat gelernt, darüber zu reden.
Sie ist nicht die Einzige. In den USA hat sich in den vergangenen Jahren eine Intersex-Bewegung formiert, deren Protest allmählich auch in Deutschland ein Echo findet. Betroffene haben Selbsthilfegruppen gebildet und die Anonymität verlassen. Sie werfen Ärzten schwere Therapiefehler vor, klagen über eine inhumane Medizin und fordern grundlegend veränderte Behandlungsmethoden, mehr Mitsprache für die Patienten und ein Ende der Geheimniskrämerei. Andere gehen noch weiter und behaupten, es gebe gar nichts zu behandeln. Nicht Intersexuelle seien krank, sondern die Gesellschaft, die sie für krank erkläre. Intersexualität ist für sie bloß eine Variante der Natur - und der Beweis, dass die übliche Zweiteilung in Mann und Frau nur ein kulturelles Konstrukt ist. Die amerikanische Genetikerin Anne Fausto-Sterling schlug in der August-Ausgabe der Zeitschrift The Sciences vor, die Kategorie "Geschlecht" in Pässen und Dokumenten ganz zu streichen.
Was ist normal, was krankhaft? Welche Abweichungen von den Geschlechtsstandards kann eine Gesellschaft verkraften? Welche irreversiblen Entscheidungen dürfen Ärzte und Eltern für Kinder treffen? Diese Fragen beschleichen Mareike Polzin* mitunter, wenn sie ihre Tochter anschaut. Eigentlich hatten die Ärzte ihr nach vorgeburtlichen Untersuchungen einen Jungen angekündigt. Der Name stand bereits fest. Doch als das Kind kam, hing zwischen den Beinen "statt eines Penis nur ein kleines Läppchen", erinnert sie sich. Fünf Tage rätselten die Ärzte, ob das Kind als Junge oder Mädchen aufwachsen soll. Dann plädierten sie für Mädchen. Als Junge könne er nie im Stehen pinkeln und würde gehänselt, sagten sie. Geschlechtsverkehr sei mit diesem Penis kaum möglich. Aus Simon wurde Simone.
Mareike Polzin spürte, dass die Ärzte unsicher waren. Doch die Zweifel blieben unausgesprochen. Dafür gab es wissenschaftliches Interesse: "Der Professor wollte mein Kind sofort seinen Studenten vorführen und Fotos machen", erzählt sie. Seine Erklärungen aber beschränkte er auf Fachliches. Eine Ärztin riet gar: "Geben Sie Ihrem Kind einen Ohrring, dann wächst es schon als Mädchen auf."
Heute weiß die 39-jährige Mutter, dass es so einfach nicht ist. Anders als man früher glaubte, sind Kinder bei der Geburt kein weißes Blatt, was ihre geschlechtliche Identität angeht. Die alte feministische These "Mädchen und Jungen werden gemacht und nicht geboren" ist falsch. Schon vor der Geburt wirken Hormone im Mutterleib auf das Gehirn des Fötus und prägen die Identität als Junge oder Mädchen. Das haben Studien mit intersexuellen Patientinnen bewiesen. Obwohl die Eltern sie konsequent als Mädchen erziehen, spielen viele von ihnen lieber mit Autos und Legos statt mit Puppen. Häufig haben sie eher Jungen als Mädchen zu Freunden.
Mareike Polzin zeigt Fotos: Simone mit kurzen Haaren und Jeans auf einem Fahrrad. Simone mit Latzhose beim Grillen. Auf den ersten Blick ganz klar: ein Junge. Gerauft und gebolzt hat ihre Tochter, so Polzin. Kleider wollte sie niemals tragen, auch keine Lackschuhe. Die letzten Bilder dann ganz anders. Lange Haare, weibliche Formen - ganz klar ein Mädchen in der Pubertät. Und dennoch beschleichen Mareike Polzin mitunter Zweifel: Ist Simone nur deshalb eine Tochter, weil sie Hormone nimmt? Was passiert, wenn sie die Medikamente absetzt, plötzlich rebelliert?
Mareike Polzin hatte Glück. Nach Jahren einsamer Fragen und Vorwürfe, einer Odyssee durch Praxen von Kindertherapeuten traf sie Knut Werner-Rosen. Der Berliner Psychologe und Therapeut hat sich auf die Betreuung intersexueller Kinder und ihrer Eltern spezialisiert. Er ist der Einzige in Deutschland. Zwar gibt es in jeder großen Kinderklinik Psychologen. Doch die kennen sich mit den besonderen Syndromen kaum aus. Ein Betreuungskonzept für die Patienten fehlt in Deutschland.
"Es gibt einen großen Mangel an Beistand", kritisiert Olaf Hiort von der Universitätsklinik Lübeck, und zwar sowohl für die Kinder als auch für die Eltern. Die erste Nachricht der Ärzte vom "schwer zu definierenden Genitale" trifft die Eltern meist "wie ein Schlag", berichtet Werner-Rosen. Dank Pränataldiagnostik haben sie sich oft längst auf einen Jungen oder ein Mädchen eingestellt, gar passende Kleidung gekauft. Nun plötzlich gibt es Zweifel am Geschlecht. Fällt der Begriff Intersex, schauen sie im Internet nach und stoßen auf Porno-Seiten und Transsexuellen-Websites. Hören sie das Wort Zwitter, packt sie die "nackte Panik", so Werner-Rosen. Beim Wickeln werden sie stets daran erinnert, dass ihr Kind anders ist. Schuldgefühle stellen sich ein, Angst vor späteren Vorwürfen ihres Kindes, Scham, andere könnten es erfahren.
Die Kinder ahnen immer mehr, als die Eltern glauben
"Manchmal wünschte ich, mein Kind hätte AIDS, dann könnte ich wenigsten mit jemandem drüber reden", klagte eine Mutter. Die Sache wegmachen und nie mehr drüber reden - dieser Wunsch der Eltern wird übermächtig. "Dabei ahnen die Kinder immer mehr, als die Eltern glauben", sagt Werner-Rosen.
Noch heute erinnert sich Eveline Kraus an die Operation, als ihre Klitoris verkleinert und eine Scheide angelegt wurde. Drei Jahre war sie alt. Sie weiß, wie das Zimmer aussah und wer neben ihr lag. Sie kam mit einem Adrenogenitalen Syndrom (AGS) auf die Welt. Bei diesem häufigsten intersexuellen Befund produziert der Körper zu viele männliche Sexualhormone. Bei weiblichen Feten führt das unter anderem dazu, dass sich die Klitoris vergrößert - bei einigen nur geringfügig, bei anderen so stark, dass sie einem Penis ähnelt.
Der Operation folgten unzählige Besuche bei Ärzten, die, so schien es ihr, immer nur eines wollten: ihr zwischen die Beine schauen. "Ich dachte, irgendwie sind alle Kinderärzte pervers." Da die Scheidenplastik Narben bildete und sich verengte, musste die neue Körperöffnung mit Stäben gedehnt werden. Bougieren heißt das Verfahren. Eveline Kraus hat eine andere Bezeichnung, die sie damals nicht wagte auszusprechen, da die Ärzte es doch gut mit ihr meinten: "Es war wie eine Vergewaltigung." Schwestern mussten sie festhalten, so wehrte sie sich. Später erfolgten die Bougierungen unter Narkose. Doch als sie aufwachte, blutete und schmerzte der Unterleib.
Die Besuche in der Klinik empfand sie als Albtraum. Schon Tage vorher weinte sie. Heute noch bekommt sie Beklemmungen, wenn sie eine Kinderstation betritt. "Das war die blanke Medizin", sagt Eveline Kraus, die später selbst Medizin studiert hat. Was für die Ärzte zählte, waren die Wissenschaft, das Dogma, wie die Behandlung zu erfolgen hatte. Das Loch ist zu klein, also muss es geweitet werden. "Doch niemand interessierte sich dafür, wie ich mit den Untersuchungen zurechtkomme", erinnert sich Eveline Kraus.
Bis heute haben viele intersexuelle Patienten mit den Folgen der Behandlungen schwer zu kämpfen. Neben dem Zurschaustellen vor Ärzten und der Geheimniskrämerei beanstanden sie schlechte Ergebnisse der Operationen. Die Chirurgen hätten ihnen nicht nur die Geschlechtsorgane korrigiert, sondern ihre sexuelle Erlebnisfähigkeit beschnitten. Viele Frauen hätten noch nie einen Orgasmus gehabt, da ihnen die gesamte Klitoris gekappt worden sei, klagt die Intersex Society of North America, die wichtigste Lobbygruppe in den USA. Deren Vorsitzende Cheryl Chase vergleicht die Operationen gar mit den "Genitalverstümmelungen" an afrikanischen Frauen. Zudem kritisieren sie, dass sie niemals ihr Einverständnis geben konnten zu so einer einschneidenden Therapie. Auch Jahre später habe sie niemand gefragt, wie sie mit der Behandlung leben.
"Es ist ein Skandal, dass es kaum Folgestudien gibt, ob die Therapiemethoden die richtigen sind", sagt der Sexualwissenschaftler Milton Diamond, der bekannteste Kritiker der bisherigen Behandlungsweise. Bis solche Erkenntnisse vorliegen, fordert Diamond, müsse man auf alle irreversiblen Eingriffe bei Kindern mit zweideutigem Geschlecht verzichten. Zwar sollen Ärzte und Eltern wie bisher entscheiden, ob das Kind als Junge oder Mädchen aufwächst. Doch soll man es den Betroffenen überlassen, ob sie eine Operation wünschen oder nicht. Medizinisch sei es unproblematisch zu warten. Schließlich seien ein winziger Penis, eine enge Vagina oder übergroße Klitoris meist nicht gefährlich.
Die Kritiker bekommen Rückenwind durch eine Geschlechtsumwandlung, die Medizingeschichte machte - und deren Ausgang erst vor kurzem bekannt wurde: David Reimer, der Erstgeborene eines eineiigen Zwillingspaares, hatte bei einer grob fehlerhaften Beschneidung seinen Penis verloren. Die verzweifelten Eltern wandten sich an John Money, einen bekannten Sexualforscher an der John-Hopkins-Universität in Baltimore. Auf Moneys Rat hin beschlossen sie, den Jungen als Mädchen aufwachsen zu lassen. Die Chirurgen formten ihm eine Vagina, aus David wurde Brenda Reimer. Die Eltern wies Money an, ihrem Kind die Geschlechtsumwandlung zu verschweigen.
Schon früh hatten Kinder mit "unfertigen" Geschlechtsteilen die Aufmerksamkeit des Professors erregt. Bis Mitte der fünfziger Jahre hatten Mediziner und Juristen das Problem fehlender sexueller Differenzierung durch Bestimmen eines "wirklichen Geschlechts" zu lösen versucht. Sie machten es an den Gonaden fest: Ein Wesen mit Eierstöcken wurde zur Frau, auch wenn die äußeren Geschlechtsmerkmale männlich waren. Hoden definierten den Mann. Das ging so weit, dass selbst verheiratete Frauen mitunter zum Mann erklärt wurden, wenn man entdeckte, dass ihnen Eierstöcke fehlten.
Money dagegen entwickelte die Theorie des "optimalen Geschlechtes" und daraus seine Behandlungsmethode für Intersexuelle, die im Grundsatz bis heute weltweit gelten. Er fragte nicht: "Ist es ein Junge oder Mädchen?", sondern: "Hat das Kind eine bessere Chance, später als Junge oder als Mädchen glücklich zu werden?" Als wichtigstes Indiz galten Form und Größe der Geschlechtsteile - und das Vermögen, mittels Skalpell und Medikamenten einen "korrekten" Penis oder eine "richtige" Vagina zu formen. Da es chirurgisch viel schwieriger ist, ein Glied als eine Scheide zu bilden, verlassen bis heute 90 Prozent der Fälle als Mädchen die Klinik, auch wenn ihr Kerngeschlecht männlich ist oder sie unter einem Mikropenis (kürzer als zwei Zentimeter) leiden.
Für Money war dies kein Problem, glaubte er doch - ganz Kind seiner Zeit -, der Einfluss der Umwelt sei stärker als die Biologie. Er predigte, bis zum Ende des zweiten Lebensjahres seien Menschen "sexuell neutral" und könnten je nach Erziehung als Junge oder Mädchen aufwachsen. Das Schicksal David Reimers schien der eindeutige Beleg dieser Theorie zu sein: Ein Junge gedeiht als Mädchen und sein Zwillingsbruder als Junge. Der Fall fand als endgültiger Beweis für die Vorherrschaft der Umwelt über die Natur Eingang in unzählige Lehrbücher und Artikel.
Selbst, als es Brenda schon lange nicht mehr gab: Nach jahrelangem Kampf hatte "sie" ihr wahres Geschlecht erfahren und sich wieder zum Mann umoperieren lassen. Das Scheitern des spektakulären Falles, kürzlich dokumentiert in einem bewegenden Buch des amerikanischen Journalisten John Colapinto, diskreditiert nicht nur einen der einflussreichsten Sexualwissenschaftler, sondern auch Moneys Therapiekonzept für intersexuelle Patienten.
Dabei hat der Fall im strengen Sinn nichts mit der üblichen Intersexualität zu tun, wendet Annette Grüters vom Berliner Virchow-Klinikum ein. Anders als bei manchem Intersex-Patienten gab es keinen Zweifel, dass David Reimer bei der Geburt ein Junge war. Viel wichtiger noch: "Die jetzigen Behandlungsmethoden kann man mit denen von vor 20 Jahren nicht mehr vergleichen", sagt Grüters. Viele erwachsene Patienten hätten ein Recht, sich zu beschweren. Heute dagegen gehen Ärzte offener und einfühlsamer mit den betroffenen Kindern und Eltern um. Auch die Operationsmethoden haben sich verfeinert: Eine zu große Klitoris wird nicht mehr entfernt, sondern nur noch verkleinert. Zudem entdeckt man Kinder mit intersexuellen Genitalien sehr viel schneller und kann sie sicherer einem Geschlecht zuordnen. Das verhindert spätere Identitätsstörungen. Vielen AGS-Patienten etwa bereite ihr Hormondefekt "keine großen Probleme", so Grüters. Sie fühlen sich als Mädchen und Frauen, können sogar Kinder bekommen. Außer ihren täglichen Tabletten erinnert kaum etwas an ihre Krankheit.
Allerdings sind die Belege dünn, dass die neuen mikrochirurgischen Verfahren viel besser sind als die alten. Und selbst heute wird in einigen deutschen Krankenhäusern noch bougiert. In den USA haben Kritiker wie Anhänger der alten Methode eine Task-Force eingesetzt, die herausfinden soll, was am besten zu tun ist, wenn ein Kind mit intersexuellem Genitale geboren wird. "Unter Ärzten herrscht große Verwirrung", sagt der bekannteste amerikanische Intersex-Experte Heino Meyer-Bahlburg. "Viele fürchten spätere Schadensersatzklagen."
Auch unter deutschen Kinderärzten und Endokrinologen besteht längst kein Konsens mehr über die richtige Behandlungsmethode - etwa ob und wann man operieren soll. "Es ist alles im Fluss", sagt der Endokrinologe Olaf Hiort. Insbesondere Gespräche mit älteren Betroffenen haben ihn "nachdenklich" gemacht. Viele chirurgische Eingriffe, so der Lübecker Intersex-Experte, seien eigentlich "kosmetischer Natur" und damit eventuell nicht notwendig.
Das Personenstandsgesetz duldet keine Mehrdeutigkeit
Bloße Augenwischerei! Michel Reiter hält von solch besonnenen Reformgedanken nichts. Auf seiner Visitenkarte steht noch "Birgit-Michel Reiter", Aktivist. Bevor er die Karte übergibt, streicht er den Namen Birgit durch. Birgit - das war sein früheres Leben als Mädchen und Frau, die er niemals sein wollte. Die Jahre der "Folter", der "Hormonbomben". Michel dagegen steht für die wenigen Monate davor, als er noch ein Junge war, "und noch nicht verstümmelt". Eine komplizierte Geschichte: erst Junge, dann Mädchen, jetzt wieder Mann. Falsch, sagt Michel Reiter. Jetzt weder Mann noch Frau. "Zwitter" soll in Zukunft in seinem Pass stehen. Beim Standesamt München hat er den Antrag gestellt. Doch Zwitter gibt es nicht in deutschen Ämtern, das Personenstandsgesetz duldet keine Mehrdeutigkeit. Also will Reiter klagen, "bis zum Bundesverfassungsgericht". Nicht weil er unbedingt ein Zwitter sein möchte. Die Aktion dient ihm dazu, das wichtigste Ordnungsprinzip ad absurdum zu führen: die Unterteilung in Mann und Frau.
Michel Reiter lebt die Ambivalenz: kleine Statur und feingliedrige Finger, halb lange Haare, die Jacke an den Schultern gepolstert, am Kinn ein paar Barthaare. Manch einer schaut zweimal hin, um zu erkennen, ob er ein Mann oder eine Frau ist.
Ein Eiferer? Gewiss. 300 Untersuchungen und Operationen, Auflehnung gegen Ärzte und Eltern, Schulwechsel und Jobversagen sowie "5000 Stunden Selbsttherapie" haben ein Feindbild geformt, das es zu bekämpfen gilt: "Das Zwei-Geschlechter-Modell muss weg", fordert der 34-Jährige. Ein Spinner? Nicht unbedingt. Auch Geschlechter- und Frauenforscher sind der Ansicht, die Zweiteilung der Geschlechter sei ein Kulturprodukt. Intersexuelle liefern ihnen den Beleg, dass nicht einmal die Natur strikt zwischen Mann und Frau unterscheide. Würden die Ärzte dies anerkennen, dann gäbe es "unbegrenzte Möglichkeiten", die Geschlechterrollen der Gesellschaft zu verändern, schreibt Suzanne Kessler in ihrem Buch Lessons from the Intersexed, eine der Hauptinterpretinnen dieser Strömung.
Für Michel Reiter bedeutet dieses Konzept: keine Operationen, keine Hormone, keine Behandlung. Die Kinder wachsen so auf, wie sie geboren werden - als Intersexuelle. Um sie vor Anfeindungen und Hänseleien zu schützen, müsse man sie gegebenenfalls privat oder gemeinsam unterrichten und ihnen psychologische Hilfe anbieten. Irgendwann werde die Gesellschaft Intersexualität tolerieren, wie sie es gelernt hat, Schwule und Transsexuelle zu akzeptieren. Was Reiter als Geschlechterutopie preist, erscheint vielen Eltern und Betroffenen als Horrorszenario. "Man muss die Kinder vor der Umwelt schützen", sagt die Berliner Endokrinologin Annette Grüters. Eine misslungene Operation könne schlimme Folgen haben. Noch schlimmer wäre es jedoch, nicht zu operieren und die Kinder dem Spott anderer auszusetzen.
Muss man dann nicht ihre Umwelt ändern? Machen doch Schwule und Lesben durch mutiges Auftreten die heutige Toleranz gegenüber Homosexuellen erst möglich. Allerdings sind sie Erwachsene. Bei Intersexuellen werden die wichtigen Weichen im Kindesalter gestellt. Und darf man Kinder als Versuchsobjekte benützen, um die Gesellschaft zu erziehen?
Wie die Entscheidung auch fällt: Ob sie richtig war, entscheidet sich erst oft drei Jahrzehnte später. Das macht Intersexualität zu einem der schwierigsten medizinischen Probleme.
Zurzeit bringen derartige akademische Gedankenspiele die Kinder und ihre Eltern kaum weiter. Hilfreicher für sie sind Studien über den Erfolg oder Misserfolg von Behandlungsmethoden sowie eine intensive psychologische Therapie und Beratung. Ein paar Gespräche und gute Tipps bei der Geburt reichen selten aus, ebenso wenig wie die Aufforderung: Bei Schwierigkeiten können Sie immer kommen. Intersex-Patienten brauchen eine jahrzehntelange Betreuung, sagt der Therapeut Knut Werner-Rosen. Häufig wöchentliche Sitzungen, aber auch regelmäßige Gespräche in größeren zeitlichen Abständen, um Selbstzweifel und Verwirrungen zu bekämpfen.
Noch wichtiger ist ein offenerer Umgang mit dem Thema. "Das Schlimmste ist das Schweigen", dieser Satz zieht sich wie ein schwarzes Band durch alle Gespräche mit Betroffenen. Gegenüber den Kindern muss die Devise von Anfang an lauten: keine Geheimnisse. Werner-Rosen übt regelrecht mit Eltern, wie sie ihrem Kind die Wahrheit nahe bringen.
Mareike Polzins Tochter wusste bereits früh, warum sie ihre Hormone nehmen muss. Dass sie niemals eigene Kinder bekommen kann, erwähnt Simone ganz offen, so wie andere Kinder, dass sie einen Herzfehler haben und beim Sport aufpassen müssen. Mitunter, findet die Mutter, Simone rede sogar ein wenig zu offen. Fast, als wäre ihre Tochter ein wenig stolz, etwas Besonderes zu sein.
* Namen geändert
Bücher zum Thema:
* John Colapinto: Der Junge der als Mädchen aufwuchs, Walter 2000 * Suzanne Kessler: Lessons from the Intersexed, New Brunswick,Rutgers University Press, 1998. Darstellung der sozialkonstruktivistischen Sicht auf Intersexualität als Möglichkeit der Überwindung der Geschlechtergrenzen.
* AD. Dreger Hermaphrodites and the medical intervention of sex, Cambridge,Harvard University Press 1998. Darstellung wie Medizin und Gesellschaft dem Thema Intersexualität in den verschiedenen Jahrhunderten begegnet sind
* A.D. Dreger (u.a.): Intersex in the Age of Ethics, Hagerstown, University, Publishing group, 1999. Zusammenstellung verschiedener Aufsätze sowie Erlebnisberichte von amerikanischen Betroffenen, die sich alle kritisch mit dem herrschenden Behandlungsmethoden auseinandersetzen
* Aus einer Mannes Mädchenjahre N.O.Body (Pseud.), Berlin 1993, Edition Hentrich. Erlebnisberichte eines/einer Betroffenen zur Jahrhundertwende
* Michel Foucault: Über Hermaphroditismus: Der Fall Barbin, rororo Frankfurt 1998. Darstellung eines historischen Falls aus dem 18. Jahrhundert plus Kommentare aus der Zeit sowie vom französischen Soziologen Foucault
Hilfe: * Die Selbsthilfegruppe zum Thema "Androgen Insensitivity Syndrom" (AIS) ist erreichbar unter KISS-Altona, Gaußstraße 21, 22765 (Tel 040-7395767) oder per email: kat.tekste@wtal.de.
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