Werner Heisenberg
Die Kopenhager Deutung der Quantentheorie
Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie beginnt mit einem Paradox. Jedes physikalische Experiment, gleichgültig, ob es sich auf Erscheinungen des täglichen Lebens oder auf Atomphysik bezieht, muß in den Begriffen der klassischen Physik beschrieben werden. Diese Begriffe der klassischen Physik bilden die Sprache, in der wir die Anordnung unserer Versuche angeben und die Ergebnisse festlegen. Wir können sie nicht durch andere ersetzen. Trotzdem ist die Anwendbarkeit dieser Begriffe begrenzt durch die Unbestimmtheitsrelationen. Wir müssen uns dieser begrenzten Anwendbarkeit der klassischen Begriffe bewußt bleiben, während wir sie anwenden, aber wir können und sollten nicht versuchen, sie zu verbessern.
Um dieses Paradox besser zu verstehen, ist es nützlich, zu vergleichen, wie ein Versuch in der klassischen Physik oder in der Quantentheorie interpretiert wird. In der NEWTONschen Himmelsmechanik z.B. können wir damit beginnen, den Ort und die Geschwindigkeit eines Planeten zu bestimmen, dessen Bewegung wir studieren wollen. Die Ergebnisse der Beobachtung werden in Mathematik übersetzt, indem man Zahlen für die Koordinaten und die Bewegungsgrößen des Planeten aus der Beobachtung ableitet. Dann verwendet man die Bewegungsgleichung, um aus diesen Zahlwerten der Koordinaten und Bewegungsgrößen zu einer gegebenen Zeit die Werte der Koordinaten oder irgendwelche anderen Eigenschaften des Systems zu einer späteren Zeit zu ermitteln, und in dieser Weise kann der Astronom die Eigenschaften des Systems zu einer späteren Zeit vorhersagen. Er kann z. B. die genaue Zeit einer Mondfinsternis berechnen.
In der Quantentheorie ist das Verfahren etwas anders. Wir könnten uns z.B. für die Bewegung eines Elektrons in einer Nebelkammer interessieren und könnten durch irgendeine Beobachtung die Anfangslage und Geschwindigkeit des Elektrons bestimmen. Aber diese Bestimmung kann nicht genau sein. Sie wird zum mindesten die Ungenauigkeiten enthalten, die aus den Unbestimmtheitsrelationen zwangsläufig folgen, und sie wird außerdem wahrscheinlich noch sehr viel größere Ungenauigkeiten enthalten, die durch die Schwierigkeit des Experiments bedingt sind. Die erste dieser Ungenauigkeiten gibt die Möglichkeit, das Ergebnis der Beobachtung in das mathematische Schema der Quantentheorie zu übersetzen. Eine Wahrscheinlichkeitsfunktion wird niedergeschrieben, die die experimentelle Situation zur Zeit der Messung darstellt, einschließlich der möglichen Ungenauigkeit der Messung.
Diese Wahrscheinlichkeitsfunktion stellt eine Mischung aus zwei verschiedenen Elementen dar, nämlich teilweise eine Tatsache, teilweise den Grad unserer Kenntnis einer Tatsache. Sie stellt ein Faktum, d. h. eine Tatsache dar, insoweit sie der Ausgangssituation die Wahrscheinlichkeit, d.h. vollständige Sicherheit, zuschreibt. Es ist völlig sicher, daß das Elektron sich an dem beobachteten Ort mit der beobachteten Geschwindigkeit bewegt hat. Beobachtet heißt dabei allerdings: beobachtet innerhalb der Genauigkeit des Experiments. Sie stellt den Grad unserer Kenntnis dar, insofern ein anderer Beobachter vielleicht die Lage des Elektrons noch genauer hätte kennen können. Der experimentelle Fehler oder die Ungenauigkeit des Experiments kann, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, nicht als Eigenschaft des Elektrons betrachtet werden, sondern ist ein Mangel in unserer Kenntnis des Elektrons. Auch dieser Mangel an Kenntnis wird durch die Wahrscheinlichkeitsfunktion ausgedrückt.
In der klassischen Physik muß zwar auch eine sorgfältige Beobachtung die Beobachtungsfehler berücksichtigen. Als Ergebnis bekommt man dann eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für die Anfangswerte der Koordinaten und Geschwindigkeiten, und daher etwas Ähnliches wie die Wahrscheinlichkeitsfunktionen der Quantenmechanik. Aber die besondere Unsicherheit, die zwangsläufig aus den Unbestimmtheitsrelationen folgt, fehlt in der klassischen Physik.
Sobald in der Quantentheorie die Wahrscheinlichkeitsfunktion zur Anfangszeit aus der Beobachtung bestimmt worden ist, kann man aus den Gesetzen dieser Theorie die Wahrscheinlichkeitsfunktion zu irgendeiner späteren Zeit berechnen, und man kann in dieser Weise im voraus die Wahrscheinlichkeit dafür bestimmen, daß eine Messung einen bestimmten Wert für die zu messende Größe liefert. Man kann z.B. eine Voraussage über die Wahrscheinlichkeit machen, mit der man zu einer späteren Zeit das Elektron an einem bestimmten Punkt der Nebelkammer finden wird.
Es muß aber betont werden, daß die Wahrscheinlichkeitsfunktion nicht selbst einen Ablauf von Ereignissen in der Zeit darstellt. Sie stellt etwa eine Tendenz zu Vorgängen, die Möglichkeit für Vorgänge oder unsere Kenntnis von Vorgängen dar. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion kann mit der Wirklichkeit nur verbunden werden, wenn eine wesentliche Bedingung erfüllt ist: wenn nämlich eine neue Messung oder Beobachtung gemacht wird, um eine bestimmte Eigenschaft des Systems festzulegen. Nur dann erlaubt die Wahrscheinlichkeitsfunktion, das wahrscheinliche Ergebnis der neuen Messung zu berechnen. Das Ergebnis der Messung wird dabei wieder in den Begriffen der klassischen Physik angegeben.
Daher erfordert die theoretische Deutung eines Experiments drei deutlich unterschiedene Schritte. Im ersten wird die experimentelle Ausgangssituation in eine Wahrscheinlichkeitsfunktion übersetzt. Im zweiten wird diese Funktion rechnerisch im Laufe der Zeit verfolgt. Im dritten wird eine neue Messung am System vorgenommen, deren zu erwartendes Ergebnis dann aus der Wahrscheinlichkeitsfunktion berechnet werden kann. Für den ersten Schritt ist die Gültigkeit der Unbestimmtheitsrelation eine notwendige Vorbedingung. Der zweite Schritt kann nicht in den Begriffen der klassischen Physik beschrieben werden. Es ist unmöglich, anzugeben, was mit dem System zwischen der Anfangsbeobachtung und der nächsten Messung geschieht. Nur im dritten Schritt kann wieder der Wechsel vom Möglichen zum Faktischen vollzogen werden.
Wir wollen diese drei Schritte an einem einfachen Gedankenexperiment erläutern. Es ist schon gesagt worden, daß das Atom aus einem Atomkern besteht, und aus Elektronen, die sich um diesen Kern bewegen. Es ist auch festgestellt worden, daß der Begriff der Elektronenbahn etwas problematisch ist. Gegen die letztere Formulierung kann man zunächst einwenden, daß es doch wenigstens im Prinzip möglich sein sollte, das Elektron in seiner Bahn zu beobachten. Man könnte, so scheint es, das Atom einfach durch ein Mikroskop mit einem sehr hohen Auflösungsvermögen anschauen, dann würde man das Elektron auf seiner Bahn in Bewegung sehen.
Allerdings könnte man ein so hohes Auflösungsvermögen nicht mit einem Mikroskop erhalten, das gewöhnliches Licht verwendet; denn die Ungenauigkeit in der Ortsmessung kann in einem solchen Versuch niemals kleiner werden als die Lichtwellenlänge. Aber ein Mikroskop, das y-Strahlen benützt, mit einer Wellenlänge, die kleiner ist als die Größe des Atoms, müßte zur Beobachtung genügen. Ein solches Mikroskop ist bisher nicht konstruiert worden; aber diese technische Schwierigkeit soll uns nicht davon abhalten, das Gedankenexperiment zu diskutieren.
Ist der erste Schritt, die Übersetzung des Ergebnisses der Beobachtung in eine Wahrscheinlichkeitsfunktion, möglich? Er ist nur möglich, wenn die Unbestimmtheitsrelation nach der Beobachtung erfüllt ist. Der Ort des Elektrons wird mit einer Genauigkeit bekannt sein, die durch die Wellenlänge des y-Strahls gegeben ist. Nehmen wir an, das Elektron sei vor der Beobachtung praktisch in Ruhe gewesen. In dem Akt der Beobachtung muß mindestens ein Lichtquantum des y-Strahls durch das Mikroskop durchgegangen und vorher vom Elektron abgelenkt worden sein, Daher hat das Elektron von dem Lichtquant einen Stoß erlitten, es hat seine Bewegungsgröße und seine Geschwindigkeit geändert. Man kann zeigen, daß die Unbestimmtheit dieser Änderung ebenso groß ist, daß die Gültigkeit der Unbestimmtheitsrelation nach dem Stoß garantiert wird. Es gibt also keine Schwierigkeiten bei dem ersten Schritt.
Gleichzeitig kann man aber leicht sehen, daß es offenbar nicht möglich ist, die Bahn des Elektrons um den Kern zu beobachten. Denn der zweite Schritt - die rechnerische Verfolgung der Wahrscheinlichkeitsfunktion - zeigt nicht ein Wellenpaket, das sich um den Atomkern herum bewegt, sondern eines, das sich vom Atomkern weg bewegt, da das erste Lichtquant das Elektron schon aus dem Atom herausgeschlagen hat. Die Bewegungsgröße des y-Quants ist erheblich größer als die ursprüngliche Bewegungsgröße des Elektrons, wenn die Wellenlänge des y-Strahls viel kleiner ist als die Größe des Atoms. Daher genügt schon das erste Lichtquant, um das Elektron aus dem Atom herauszuschlagen, und man kann nie mehr als einen Punkt der Elektronenbahn beobachten. Man gerät also nicht in Widerspruch mit der Erfahrung, wenn man behauptet: es gibt gar keine Elektronenbahnen im gewöhnlichen Sinne.
Die nächste Beobachtung, der dritte Schritt, wird also das Elek-tron auf seiner Bahn vom Atom weg zeigen. Es ist ganz allgemein unmöglich, anschaulich zu beschreiben, was zwischen zwei aufeinanderfolgenden Beobachtungen geschieht. Natürlich ist man versucht zu sagen, das Elektron müsse zwischen den beiden Beobachtungen irgendwo gewesen sein, und es müsse irgendeine Art von Bahn oder Weg beschrieben haben - selbst wenn es etwa unmöglich sein sollte, diesen Weg festzustellen. SO könnte man in der klassischen Physik vernünftigerweise argumentieren. In der Quantentheorie aber würde es sich dabei um einen Mißbrauch der Sprache handeln, der, wie wir später sehen werden, nicht gerechtfertigt werden kann.
Wir können es hier für den Augenblick offen lassen, ob es sich bei dieser Warnung um eine Aussage über die Art handelt, wie wir über Atomvorgänge sprechen sollen, oder um eine Aussage über diese Vorgänge selbst, ob es sich gewissermaßen um Erkenntnistheorie oder um Ontologie handelt. Jedenfalls müssen wir bei der Formulierung einer Aussage, die sich auf das Verhalten atomarer Teilchen bezieht, äußerste Vorsicht üben.
Tatsächlich brauchen wir überhaupt nicht über Teilchen zu sprechen. Bei vielen Experimenten ist es zweckmäßiger, über Materiewellen zu reden, z.B. über die stehenden Schwingungen der Elektronen-Materie um einen Atomkern. Eine solche Beschreibung würde allerdings der anderen Beschreibung widersprechen, wenn man nicht auf die Grenzen achtete, die durch die Unbestimmtheitsrelationen gesetzt sind. Durch diese Begrenzung werden die Widersprüche vermieden. Der Gebrauch des Begriffs Materiewellen ist z.B. dann zweckmäßig, wenn es sich um die Strahlung handelt, die vom Atom emittiert wird. Durch ihre Frequenz und Intensität gibt uns die Strahlung Kunde von der schwingenden Ladungsverteilung im Atom, und an dieser Stelle kommt das Wellenbild der Wahrheit näher als die Teilchenvorstellung. Daher hat BOHR den Gebrauch beider Bilder empfohlen, die er als komplementär zueinander bezeichnete.
Die beiden Bilder schließen sich natürlich gegenseitig aus, weil eine bestimmte Sache nicht gleichzeitig ein Teilchen (d.h. Substanz, beschränkt auf ein sehr kleines Volumen) und eine Welle (d.h. ein Feld, ausgebreitet über einen großen Raum) sein kann. Aber die beiden Bilder ergänzen sich; wenn man mit beiden Bildern spielt, indem man von einem Bild zum anderen übergeht und wieder zurück, so erhält man schließlich den richtigen Eindruck von der merkwürdigen Art von Realität, die hinter unseren Atomexperimenten steckt. BOHR gebraucht den Begriff Komplementarität in der Deutung der Quantentheorie an verschiedenen Stellen. Die Kenntnis des Ortes eines Teilchens ist komplementär zu der Kenntnis seiner Geschwindigkeit oder seiner Bewegungsgröße. Wenn wir die eine Größe mit großer Genauigkeit kennen, können wir die andere nicht mit hoher Genauigkeit bestimmen, ohne die erste Kenntnis wieder zu verlieren.
Aber wir müßten doch beide kennen, um das Verhalten des Systems zu beschreiben. Die raum-zeitliche Beschreibung von Atomvorgängen ist komplementär zu ihrer kausalen oder deterministischen Beschreibung. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion genügt einer Bewegungsgleichung, ähnlich wie die für die Koordinaten in der NEWTONschen Mechanik. Ihre Anderung im Laufe der Zeit ist durch die quantenmechanischen Gleichungen vollständig bestimmt, aber sie liefert keine raum-zeitliche Beschreibung des Systems. Durch die Beobachtung andererseits wird eine raum-zeitliche Beschreibung erzwungen. Aber sie unterbricht den durch die Rechnung bestimmten Ablauf der Wahrscheinlichkeitsfunktion, indem sie unsere Kenntnis des Systems ändert.
Ganz allgemein kann der Dualismus zwischen zwei verschiedenen Beschreibungen der gleichen Wirklichkeit nicht länger als eine grundsätzliche Schwierigkeit betrachtet werden, da wir aus der mathematischen Formulierung der Theorie wissen, daß es in ihr keine Widersprüche geben kann. Der Dualismus zwischen den beiden komplementären Bildern, Wellen- und Teilchenbild, wird auch deutlich sichtbar in der Flexibilität des mathematischen Formalismus. Dieser Formalismus wird gewöhnlich so aufgeschrieben, daß er der Newtonschen Mechanik ähnelt, also mit Bewegungsgleichungen für die Koordinaten und die Geschwindigkeiten der Teilchen. Aber durch eine einfache Transformation kann er umgeschrieben werden in eine Wellengleichung für dreidimensionale Materiewellen; nur haben auch diese Wellen den Charakter von Matrizen oder Operatoren, nicht von einfachen Feldgrößen. Daher hat die Möglichkeit, mit verschiedenen komplementären Bildern zu spielen, ihr Analogon in den verschiedenen Transformationen des mathematischen Formalismus. Sie führt in der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie nicht ZU irgendwelchen Schwierigkeiten.
Ein Hemmnis für das Verständnis dieser Deutung ergibt sich allerdings stets, wenn man die bekannte Frage stellt: Aber was geschieht denn wirklich in einem Atomvorgang? Zunächst ist schon vorher gesagt worden, daß man die Messung und die Ergebnisse der Beobachtung stets in den Begriffen der klassischen Physik beschreiben muß. Was man aus der Beobachtung entnimmt, ist aber eine Wahrscheinlichkeitsfunktion, also ein mathematischer Ausdruck, der Aussagen vereinigt über Möglichkeiten oder Tendenzen mit Aussagen über unsere Kenntnis von Tatsachen. Daher können wir das Ergebnis einer Beobachtung nicht vollständig objektivieren. Wir können nicht beschreiben, was zwischen dieser Beobachtung und der nächsten passiert. Es sieht zunächst so aus, als hätten wir damit ein subjektives Element in die Theorie eingeführt, so als wollten wir sagen: das, was geschieht, hängt davon ab, wie wir das Geschehen beobachten, oder wenigstens von der Tatsache, daß wir es beobachten. Bevor wir diesen Einwand erörtern, ist es notwendig, ganz genau zu erklären, warum man in die allergrößten Schwierigkeiten geriete, wenn man versuchen wollte, zu beschreiben, was zwischen zwei aufeinanderfolgenden Beobachtungen geschieht.
Es ist hier zweckmäßig, das folgende Gedankenexperiment zu diskutieren. Nehmen wir an, daß eine kleine monochromatische Lichtquelle Licht ausstrahlt auf einen schwarzen Schirm, der zwei kleine Löcher hat. Die Durchmesser der Löcher brauchen nicht viel größer zu sein als die Wellenlänge des Lichtes, aber ihr Abstand soll erheblich größer sein. In einigem Abstand hinter dem Schirm soll eine photographische Platte das ankommende Licht auffangen.
Wenn man dieses Experiment in den Begriffen des Wellenbildes beschreibt, so sagt man, daß die Primärwelle durch die beiden Löcher dringt. Es wird also zwei sekundäre Kugelwellen geben, die von den Löchern ihren Ausgang nehmen und die miteinander interferieren. Die Interferenz wird ein Muster stärkerer und schwächerer Intensitäten, die sogenannten Interferenzstreifen, auf der photographischen Platte hervorbringen. Die Schwärzung der photographischen Platte ist im Quantenprozeß ein chemischer Vorgang, der durch einzelne Lichtquanten hervorgerufen wird. Daher muß man das Experiment auch in der Lichtquantenvorstellung beschreiben können.
Wenn es nun erlaubt wäre, darüber zu sprechen, was dem einzelnen Lichtquant zwischen seiner Emission von der Lichtquelle und seiner Absorption in der photographischen Platte passiert, so könnte man in der folgenden Weise argumentieren. Das einzelne Lichtquant kann entweder durch das erste oder durch das zweite Loch gehen. Wenn es durch das erste Loch geht und dort gestreut wird, so ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß es später an einem bestimmten Punkt der photographischen Platte absorbiert wird, davon unabhängig, ob das zweite Loch geschlossen oder offen ist. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung auf der Platte muß die gleiche sein, als wenn nur das erste Loch offen wäre.
Wenn man das Experiment viele Male wiederholt und alle die Fälle zusammenfaßt, in denen das Lichtquant durch das erste Loch gegangen ist, so sollte die Schwärzung der photographischen Platte dieser Wahrscheinlichkeitsverteilung entsprechen. Wenn man nur die Lichtquanten betrachtet, die durch das zweite Loch gegangen sind, so sollte die Schwärzungsverteilung jener Wahrscheinlichkeitsverteilung entsprechen, die man aus der Annahme erhält, daß nur das zweite Loch offen war. Die Gesamtschwärzung sollte also genau die Summe der Schwärzungen in beiden Fällen sein; in anderen Worten, es sollte keine Interferenzstreifen geben.
Aber wir wissen, daß dies falsch ist, und das Experiment wird zweifellos die Interferenzstreifen zeigen. Daraus erkennt man, daß die Aussage, das Lichtquant müsse entweder durch das eine oder durch das andere Loch gegangen sein, problematisch ist und zu Widersprüchen führt. Man erkennt aus diesem Beispiel deutlich, daß der Begriff der Wahrscheinlichkeitsfunktion nicht eine raumzeitliche Beschreibung dessen erlaubt, was zwischen zwei Beobachtungen geschieht. Jeder Versuch, eine solche Beschreibung zu finden, würde zu Widersprüchen führen. Dies bedeutet, daß schon der Begriff Geschehen auf die Beobachtung beschränkt werden muß. Das ist allerdings ein sehr merkwürdiges Resultat, das zu zeigen scheint, daß die Beobachtung eine entscheidende Rolle bei dem Vorgang spielt und daß die Wirklichkeit verschieden ist, je nachdem, ob wir sie beobachten oder nicht. Um diesen Punkt deutlicher zu machen, müssen wir den Beobachtungsprozeß noch etwas genauer analysieren.
Zunächst ist es an dieser Stelle wichtig, sich daran zu erinnern, daß wir uns in der Naturwissenschaft nicht für das Universum als Ganzes, das uns selbst einschließt, interessieren, sondern daß wir unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Teile des Universums richten und zum Gegenstand unseres Studiums machen. In der Atomphysik ist dieser Teil gewöhnlich ein sehr kleiner Gegenstand, nämlich ein atomares Teilchen oder eine Gruppe solcher Teilchen, manchmal ist er auch größer; auf die Größe kommt es hier nicht an. Wohl aber ist es wichtig, daß ein großer Teil des Universums, der uns selbst einschließt, nicht mit zum Gegenstand gehört.
Die theoretische Deutung eines Experiments beginnt mit den beiden Schritten, über die gesprochen worden ist. Beim ersten Schritt müssen wir die Anordnung des Experiments evtl. verbunden mit einer ersten Beobachtung in den Begriffen der klassischen Physik beschreiben, und wir müssen diese Beschreibung in eine Wahrscheinlichkeitsfunktion übersetzen. Diese Wahrscheinlichkeitsfunktion genügt dann den Gesetzen der Quantentheorie, und ihre Änderung im Laufe der Zeit, die kontinuierlich ist, kann aus den Anfangsbedingungen berechnet werden. Darin besteht der zweite Schritt.
Die Wahrscheinlichkeitsfunktion vereinigt objektive und subjektive Elemente. Sie enthält Aussagen über Wahrscheinlichkeiten oder besser Tendenzen (Potentia in der aristotelischen Philosophie), und diese Aussagen sind völlig objektiv, sie hängen nicht von irgendeinem Beobachter ab. Außerdem enthält sie Aussagen über unsere Kenntnis des Systems, die natürlich subjektiv sein müssen, insofern sie ja für verschiedene Beobachter verschieden sein können. In besonders günstigen Fällen kann das subjektive Element in der Wahrscheinlichkeitsfunktion gegenüber dem objektiven Element ganz vernachlässigt werden. Die Physiker sprechen dann von einem reinen Fall.
Wenn wir jetzt zur nächsten Beobachtung kommen, deren Resultat aus der Theorie vorhergesagt werden sollte, so ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, daß der Gegenstand vor oder wenigstens im Moment der Beobachtung in Wechselwirkung stehen muß mit dem übrigen Teil der Welt, nämlich mit der experimentellen Anordnung, den Maßstäben usw. Das bedeutet, daß die Bewegungsgleichung für die Wahrscheinlichkeitsfunktion jetzt den Einfluß berücksichtigen muß, den die Wechselwirkung mit den Meßanordnungen auf das System ausübt.
Dieser Einfluß bringt ein neues Element von Unbestimmtheit mit sich. Denn die Meßanordnung muß ja in den Begriffen der klassischen Physik beschrieben werden; eine solche Beschreibung aber enthält alle Unsicherheiten bezüglich der mikroskopischen Struktur der Anordnung, die wir schon von der Thermodynamik her kennen. Da die Anordnung außerdem mit dem Rest der Welt verbunden sein muß, enthält sie tatsächlich die Unsicherheiten der mikroskopischen Struktur der ganzen Welt. Diese Unsicherheiten kann man objektiv nennen, insofern sie ja einfach die Folge davon sind, daß wir das Experiment in den Begriffen der klassischen Physik beschreiben; sie hängen in den Einzelheiten nicht vom Beobachter ab. Man kann sie subjektiv nennen, insofern sie unsere unvollständige Kenntnis der Welt bezeichnen.
Nachdem die Wechselwirkung stattgefunden hat, enthält die Wahrscheinlichkeitsfunktion das objektive Element der Tendenz oder der Möglichkeit. , und das subjektive Element der unvollständigen Kenntnis, selbst dann, wenn es sich zunächst um einen reinen Fall gehandelt hatte. Eben aus diesem Grunde kann das Ergebnis einer Beobachtung im allgemeinen nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden. Was man vorhersagen kann, ist die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Ergebnis der Beobachtung, und diese Aussage über die Wahrscheinlichkeit kann nachgeprüft werden, indem man das Experiment viele Male wiederholt. Die Wahrscheinlichkeitsfunktion beschreibt, anders als das mathematische Schema der NEWTONschen Mechanik, nicht einen bestimmten Vorgang, sondern, wenigstens hinsichtlich des Beobachtungsprozesses, eine Gesamtheit von möglichen Vorgängen.
Die Beobachtung selbst ändert die Wahrscheinlichkeitsfunktion unstetig. Sie wählt von allen möglichen Vorgängen den aus, der tatsächlich stattgefunden hat. Da sich durch die Beobachtung unsere Kenntnis des Systems unstetig geändert hat, hat sich auch ihre mathematische Darstellung unstetig geändert, und wir sprechen daher von einem Quantensprung. Wenn man aus dem alten Spruch Natura non facit saltus eine Kritik der Quantentheorie ableiten wollte, so können wir antworten, daß sich unsere Kenntnis doch sicher plötzlich ändern kann und daß eben diese Tatsache, die unstetige Änderung unserer Kenntnis, den Gebrauch des Begriffs Quantensprung rechtfertigt.
Der Übergang vom Möglichen zum Faktischen findet also während des Beobachtungsaktes statt. Wenn wir beschreiben wollen, was in einem Atomvorgang geschieht, so müssen wir davon ausgehen, daß das Wort geschieht sich nur auf die Beobachtung beziehen kann, nicht auf die Situation zwischen zwei Beobachtungen. Es bezeichnet dabei den physikalischen, nicht den psychischen Akt der Beobachtung, und wir können sagen, daß der Übergang vom Möglichen zum Faktischen stattfindet, sobald die Wechselwirkung des Gegenstandes mit der Meßanordnung, und dadurch mit der übrigen Welt, ins Spiel gekommen ist. Der Übergang ist nicht verknüpft mit der Registrierung des Beobachtungsergebnisses im Geiste des Beobachters. Die unstetige Änderung der Wahrscheinlichkeitsfunktion findet allerdings statt durch den Akt der Registrierung; denn hier handelt es sich um die unstetige Änderung unserer Kenntnis im Moment der Registrierung, die durch die unstetige Änderung der Wahrscheinlichkeitsfunktion abgebildet wird.
Inwieweit sind wir also schließlich zu einer objektiven Beschreibung der Welt, besonders der Atomvorgänge, gekommen? Die klassische Physik beruhte auf der Annahme - oder sollten wir sagen auf der Illusion -, daß wir die Welt beschreiben können oder wenigstens Teile der Welt beschreiben können, ohne von uns selbst zu sprechen. Das ist tatsächlich in weitem Umfang möglich. Wir wissen z.B., daß es die Stadt London gibt, unabhängig davon, ob wir sie sehen oder nicht sehen. Man kann sagen, daß die klassische Physik eben die Idealisierung der Welt darstellt, in der wir über die Welt oder über ihre Teile sprechen, ohne dabei auf uns selbst Bezug zu nehmen. Ihr Erfolg hat zu dem allgemeinen Ideal einer objektiven Beschreibung der Welt geführt. Objektivität gilt seit langem als das oberste Kriterium für den Wert eines wissenschaftlichen Resultats.
Entspricht die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie noch diesem Ideal? Man darf vielleicht sagen, daß die Quantentheorie diesem Ideal soweit wie möglich
entspricht. Sicher enthält die Quantentheorie keine eigentlich subjektiven Züge, sie führt nicht den Geist oder das Bewußtsein des Physikers als einen Teil des
Atomvorgangs ein. Aber sie beginnt mit der Einteilung der Welt in den Gegenstand und die übrige Welt und mit der Tatsache, daß wir jedenfalls diese übrige
Welt mit den klassischen Begriffen beschreiben müssen. Diese Einteilung ist in gewisser Weise willkürlich und historisch eine unmittelbare Folge der in den
vergangenen Jahrhunderten geübten naturwissenschaftlichen Methode. Der Gebrauch der klassischen Begriffe ist also letzten Endes eine Folge der allgemeinen
geistigen Entwicklung der Menschheit.
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Datum der letzten Änderung: Jena, den: 04.09. 2018