Karl Marx/Friedrich Engels - Werke | Das Elend der Philosophie

Nach: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Dietz Verlag, Berlin. Band 6, 6. Auflage 1975, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 562-565.
Die Seitenangaben verweisen auf: Reclam "Karl Marx - Das Elend der Philosophie" Leipzig, 1978

Freidrich Engels

Proudhon


Geschrieben Anfang Dezember 1848 für die „Neue Rheinische Zeitung", jedoch nicht erschienen.

188

Paris. Wir sprachen gestern von den MontagnardsAnm 1 und den Sozialisten, von der Kandidatur Ledru-Rollin und der Kandidatur Raspail, von der „Réforme" und dem „Peuple" des Bürgers Proudhon. Wir versprachen, auf Proudhon zurückzukommen.

Wer ist der Bürger Proudhon?

Der Bürger Proudhon ist ein franc-comtesischer Bauer, der verschiedne Erwerbszweige und verschiedne Studien durchgemacht hat. Die öffentliche Aufmerksamkeit zog er zuerst auf sich durch ein 1842 veröffentlichtes Pamphlet: „Was ist das Eigentum?"Anm 2 Die Antwort lautete: „Das Eigentum ist der Diebstahl."

Die überraschende Repartie [Antwort] frappierte die Franzosen. Die Regierung Ludwig Philipps, der austère [gestrenge] Guizot, der kein Organ fürs Calembour [Wortspiel] hat, war borniert genug, Proudhon vor Gericht zu stellen. Aber umsonst. Für ein so pikantes Paradoxon hat man bei jeder französischen Jury auf Freisprechung zu rechnen. Und so geschah's. Die Regierung blamierte sich, und Proudhon wurde ein berühmter Mann.

Was das Buch selbst angeht, so entsprach es durchgehends dem obigen Resumé. Jedes Kapitel faßte sich zusammen in einem merkwürdigen Paradoxon, in einer Manier, die den Franzosen noch nicht vorgekommen war.

Im übrigen enthielt es teils juristisch-moralische, teils ökonomisch-moralische Abhandlungen, deren jede zu beweisen suchte, daß das Eigentum auf einen Widerspruch hinausläuft. Was die juristischen Punkte angeht, so kann dies zugegeben werden, insofern nichts leichter ist, als nachzuweisen, daß die ganze Jurisprudenz überhaupt auf lauter Widersprüche hinausläuft. Was die ökonomischen Abhandlungen betrifft, so enthalten sie wenig Neues, und was sie Neues enthalten, beruht auf falschen Kalkulationen. Die Regeldetri ist überall schmählich mißhandelt.

Indes die Franzosen wurden mit dem Buch nicht fertig. Den

189

Juristen war es zu ökonomisch, den Ökonomen zu juristisch und beiden zu moralisch. Après tout [Immerhin], sagten sie endlich, c'est un ouvrage remarquable [ist es ein bemerkenswertes Werk].

Aber Proudhon strebte nach größeren Triumphen. Nach verschiedenen verschollenen kleinen Schriften erschien endlich 1846 seine Philosophie de la misere in zwei gewaltigen Bänden. In diesem Werk, das seinen Ruhm auf ewig begründen sollte, wandte Proudhon eine arg mißhandelte Hegeische philosophische Methode auf eine seltsam mißverstandene Nationalökonomie an und suchte durch allerlei transzendente Sprünge ein neues sozialistisches System der freien Arbeiterassoziation zu begründen. Dies System war so neu, daß es in England unter dem Namen der Equitable Labour Exchange Bazaars oder Offices bereits vor zehn Jahren in zehn verschiednen Städten zehnmal Bankerott gemacht hatte.

Dies schwerfällige, gelehrttuende, dickleibige Werk, worin schließlich nicht nur sämtliche bisherigen Ökonomen, sondern auch sämtliche bisherigen Sozialisten die größten Grobheiten zu hören bekamen, machte auf die leichtsinnigen Franzosen durchaus keinen Eindruck. Diese Art zu sprechen und zu räsonieren war ihnen noch nicht vorgekommen und weit weniger nach ihrem Geschmack als die kuriosen Paradoxa aus Proudhons früherem Werk. Dergleichen Paradoxa fehlten zwar auch hier nicht (so erklärte sich Proudhon sehr ernsthaft als „persönlichen Feind des Jehova"), aber sie waren unter der vorgeblich dialektischen Bagage wie vergraben. Die Franzosen sagten wieder: C'est un ouvrage remarquable und legten es beiseite. In Deutschland wurde das Werk natürlich mit großer Ehrfurcht aufgenommen.

Marx hat damals eine ebenso witzige wie gründliche Gegen­schrift (Misere de la philosophie, reponse ä la Philosophie de la misere, de M. Proudhon. Par Karl Marx, Bruxelles et Paris 1847) erlassen, und die in Denkweise und Sprache tausendmal französischer ist als das Proudhonsche prätentiöse Ungetüm.

Was den wirklichen Inhalt beider Proudhonschen Schriften an Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angeht, so kann man, nachdem man sie beide gelesen hat, mit gutem Gewissen sagen, daß er sich auf Null reduziert.

Was seine Vorschläge zur sozialen Reform betrifft, so haben sie, wie schon gesagt, den Vorteil, daß sie sich in England

190

bereits vor längerer Zeit durch mehrfachen Bankerott glänzend bewährt haben.

Das war Proudhon vor der Revolution. Während er sich noch damit beschäftigte, ein Tagblatt „Le Repräsentant du peuple" ohne Kapital, aber vermittelst einer Kalkulation, die in Verachtung der Regeldetri ihresgleichen sucht, zustande zu bringen, setzten sich die Pariser Arbeiter in Bewegung, jagten Louis-Philippe weg und gründeten die Republik.

Vermöge der Republik wurde Proudhon zuerst »Bürger"; vermöge der Wahl der Pariser Arbeiter auf seinen ehrlichen sozialistischen Namen hin wurde er sodann Volksrepräsentant.

Damit hatte die Revolution den Bürger Proudhon aus der Theorie in die Praxis, aus dem Schmollwinkel aufs Forum geschleudert. Wie benahm sich der störrische, hochfahrende Autodidakt, der alle Autoritäten vor ihm, Juristen, Akademiker, Ökonomen und Sozialisten mit gleicher Verachtung behandelt, der alle bisherige Geschichte für Faselei erklärt und sich selbst sozusagen als neuen Messias hingestellt hatte — wie benahm er sich, als er selbst sollte Geschichte machen helfen?

Wir müssen ihm zum Ruhme nachsagen, daß er damit anfing, sich auf die äußerste Linke unter dieselben Sozialisten zu setzen und mit denselben Sozialisten zu stimmen, die er so tief verachtete und so heftig als unwissende, arrogante Hohlköpfe angegriffen hatte.

Man will freilich wissen, daß er in den Partei Versammlungen des Bergs seine alten gewaltsamen Angriffe auf die Gegner von ehedem mit frischer Heftigkeit erneuert, daß er sie samt und sonders für Ignoranten und Phrasendreher erklärt habe, die nicht das Abc von dem verstünden, worüber sie sprächen.
Wir glauben das gern. Wir glauben sogar gern, daß die mit der trocknen Leidenschaftlichkeit und Zuversicht des Doktrinarismus vorgebrachten ökonomischen Paradoxa Proudhons die Herren Montagnards nicht wenig in Verlegenheit setzten. Die wenigsten unter ihnen sind ökonomische Theoretiker und verlassen sich mehr oder weniger auf den kleinen Louis Blanc; und der kleine Louis Blanc, obgleich ein viel bedeutenderer Kopf als der unfehlbare Proudhon, ist doch eine zu intuitive Natur, als daß er mit der ökonomisch-gelehrten Prätention, der fremdartigen Transzendenz und der anscheinend ma-

191

thematischen Logik Proudhons fertig würde. Zudem mußte er bald fliehen, und seine auf dem Felde der Ökonomie ratlose Herde blieb schutzlos den unbarmherzigen Krallen des Wolfes Proudhon überlassen.

Daß Proudhon trotz aller dieser Triumphe doch ein höchst schwacher Ökonom ist, braucht wohl nicht wiederholt zu werden. Nur liegt seine schwache Seite nicht grade im Bereich der Menge der französischen Sozialisten.

Den größten Triumph, den er je erlebte, errang Proudhon jedoch auf der Tribüne der Nationalversammlung. Bei, ich weiß nicht mehr welcher Gelegenheit ergriff er das Wort und erboste die Bourgeois der Versammlung während anderthalb Stunden durch eine unaufhörliche Reihe echt Proudhonscher Paradoxa, eins toller wie das andre, aber jedes berechnet, die heiligsten und teuersten Gefühle der Zuhörer aufs gröbste zu schockieren. Und das alles vorgetragen mit seiner trocknen professoralen Gleichgültigkeit, im tonlosen, prof essoralen franc-comtesischen Dialekt, im trockensten imperturbabelsten [gelassensten] Stil von der Welt — der Effekt, der Veitstanz der rasenden Bourgeois war wirklich nicht übel.

Das war aber auch der Glanzpunkt der Proudhonschen öffentlichen Tätigkeit. Inzwischen fuhr er fort, durch den allmählich und nach bittern Erfahrungen über die Regeldetri zustande gekommenen „Représentant du Peuple", der sich bald in den „Peuple" kurzweg verwandelte, sowie in den Klubs die Ar­beiter für seine Beglückungstheorie zu bearbeiten. Er blieb nicht ohne Erfolg. On ne le comprend pas [Man versteht ihn nicht], sagten die Arbeiter, mais c'est un homme remarquable [aber er ist ein bedeutender Mensch].

Trenner

Anm 1: Montagnards — Mitglieder der Bergpartei, in der Revolution von 1848 die Partei der kleinbürgerlichen Republikaner. Sie übernahmen den Namen „Berg" von der Partei Robespierres, doch entsprach ihre Politik, nach einem Witz Proudhons, der eines Maulwurfshügels. Ihr führender Kopf und Kandidat für die Präsidentschaftswahlen am 10. Dezember 1848 war Ledm-Rollin, ihre Zeitung La Réforme.

Franfois Raspail — Führer der revolutionären Demokraten, mit dem auch die revolutionären Kommunisten zusammengingen. „Le Peuple" — Proudhons Zeitung, deren Namen er mehrfach änderte, um sie Verfolgungen zu entziehen.

Anm 2: Engels verwechselt Proudhons erste Streitschrift gegen das Eigentum mit der dritten von 1842, die Proudhon in Form eines Briefes an den Führer der Fourieristen Victor Considerant abfaßte: „Avertissement aux propriétaires, ou lettre à M. Victor Considerant, rédacteur de la Phalange, sur une défense de la propriete [Warnung an die Eigentümer; Brief an Victor Considerant, Redakteur der ,Phalange', über eine Verteidigung des Eigentums]". Es war diese Schrift, die Proudhon vor Gericht brachte.


Seitenanfang
Datum der letzten Änderung : Jena, den : 16.02.2013