4. Das „Prinzip der Denkökonomie" und die Frage der „Einheit der Welt" | Inhalt | 6. Freiheit und Notwendigkeit

5. Raum und Zeit

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Da der Materialismus die von unserem Bewußtsein unabhängige Existenz der objektiven Realität, d. h. der sich bewegenden Materie, anerkennt, so muß er unvermeidlich auch die objektive Realität von Zeit und Raum anerkennen, zum Unterschied vor allem vom Kantianismus, der in dieser Frage auf der Seite des Idealismus steht und Zeit und Raum nicht für eine objektive Realität, sondern für Formen der menschlichen Anschauung hält. Über den fundamentalen Unterschied der beiden philosophischen Grundlinien auch in dieser Frage sind sich die Schriftsteller der verschiedensten Richtungen, wenn sie nur halbwegs konsequente Denker sind, durchaus im klaren. Beginnen wir mit den Materialisten.

„Raum und Zeit", sagt Feuerbach, „sind keine bloßen Erscheinungsformen - sie sind Wesensbedingungen ... des Seins." (Werke, II, 332.) Da Feuerbach die sinnliche Welt, die wir über die Empfindungen erkennen, als objektive Realität anerkennt, verwirft er natürlicherweise auch die phänomenalistische (wie Mach von sich sagen würde) oder agnostische (wie Engels sich ausdrückt) Auffassung von Raum und Zeit: so wie die Dinge oder Körper nicht einfache Erscheinungen, nicht Empfindungskomplexe, sondern objektive Realitäten sind, die auf unsere Sinne einwirken, so sind auch Raum und Zeit keine einfachen Erscheinungsformen, sondern die objektiv-realen Formen des Seins. In der Welt existiert nichts als die sich bewegende Materie, und die sich bewegende Materie kann sich nicht anders bewegen als im Raum und in der Zeit. Die menschlichen Vorstellungen von Raum und Zeit sind relativ, doch setzt sich aus diesen relativen Vorstellungen die absolute Wahrheit zusammen, diese relativen Vorstellungen entwickeln sich in der Richtung der absoluten Wahrheit, nähern sich dieser. Die Veränderlichkeit der menschlichen Vorstellungen von Raum und Zeit widerlegt die objektive Realität beider ebensowenig,

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wie die Veränderlichkeit der wissenschaftlichen Kenntnisse über Struktur und Bewegungsformen der Materie die objektive Realität der Außenwelt widerlegt.

Engels, der den inkonsequenten und konfusen Materialisten Dühring entlarvt, ertappt ihn gerade dabei, daß er von der Veränderung des Zeitbegriffs spricht (eine Frage, die für alle einigermaßen bedeutenden modernen Philosophen der verschiedensten philosophischen Richtungen unbestreitbar ist) und sich vor einer klaren Antwort auf die Frage drückt; Sind Raum und Zeit real oder ideell? Sind unsere relativen Vorstellungen von Raum und Zeit Annäherungen an die objektiv-realen Formen des Seins? Oder sind sie nur Produkte des sich entwickelnden, sich organisierenden, sich harmonisierenden usw. menschlichen Denkens? Darin und nur darin besteht die erkenntnistheoretische Grundfrage, die tatsächlich die philosophischen Grundrichtungen voneinander scheidet. „... es geht uns hier gar nichts an", schreibt Engels, „welche Begriffe sich im Kopf des Herrn Dühring verwandeln. Es handelt sich nicht um den Zeitbegriff, sondern um die wirkliche Zeit, die Herr Dühring so wohlfeilen Kaufs" (d. h. durch Phrasen über die Veränderlichkeit der Begriffe) „keineswegs los wird." („Anti-Dühring", 5. dtsch. Aufl., S. 4l.)67

Dies, sollte man meinen, ist so klar, daß selbst die Herren Juschkewitsch das Wesen der Frage hätten begreifen können. Engels hält Dühring die allgemein anerkannte und für jeden Materialisten selbstverständliche These von der Wirklichkeit, d. h. der objektiven Realität der Zeit entgegen und meint, man könne sich durch Betrachtungen über die Veränderung der Begriffe Zeit und Raum einer eindeutigen Anerkennung oder Ablehnung dieser These nicht entziehen. Nicht etwa, daß Engels die Notwendigkeit und den wissenschaftlichen Wert der Untersuchungen über die Veränderung, über die Entwicklung unserer Zeit- und Raumbegriffe geleugnet hätte - es geht darum, daß wir die erkenntnistheoretische Frage, nämlich die Frage nach der Quelle und der Bedeutung alles menschlichen Wissens überhaupt, folgerichtig lösen. Ein halbwegs vernünftiger philosophischer Idealist - und Engels hatte, wenn er von den Idealisten sprach, die genial-konsequenten Idealisten der klassischen Philosophie im Auge - wird die Entwicklung unserer Zeit- und Raumbegriffe leicht zugeben, ohne deshalb aufzuhören, Idealist zu sein, und er könnte zum Beispiel annehmen, daß die sich entwickelnden: Zeit- und

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Raumbegriffe sich der absoluten Idee der Zeit und des Raumes nähern usw. Es ist unmöglich, einen philosophischen Standpunkt, der jeglichem Fideismus und Idealismus feindlich gegenübersteht, konsequent beizubehalten, wenn man nicht entschieden und bestimmt anerkennt, daß unsere sich entwickelnden Zeit- und Raumbegriffe die objektiv-reale Zeit und den objektiv-realen Raum widerspiegeln, daß sie sich hier, wie überhaupt, der objektiven Wahrheit nähern.

„Denn die Grundformen alles Seins", belehrt Engels Dühring, „sind Raum und Zeit, und ein Sein außer der Zeit ist ein ebenso großer Unsinn, wie ein Sein außerhalb des Raums." (Ebenda.)

Wozu brauchte Engels in der ersten Hälfte dieses Satzes eine fast buchstäbliche Wiederholung Feuerbachs und in der zweiten Hälfte die Erinnerung an den von Feuerbach so erfolgreich geführten Kampf gegen den größten Unsinn des Theismus? Er brauchte das, weil Dühring, wie aus demselben Kapitel bei Engels ersichtlich, in seiner Philosophie nicht auskommen konnte, ohne sich bald auf die „Endursache" der Welt, bald auf den „ersten Anstoß" (ein anderer Ausdruck für Gott, sagt Engels) zu stützen. Dühring wollte wahrscheinlich nicht weniger aufrichtig Materialist und Atheist sein, als unsere Machisten Marxisten sein wollen, aber er verstand nicht, den philosophischen Standpunkt, der dem idealistischen und theistischen Unsinn wirklich ganz den Boden unter den Füßen entzogen hätte, konsequent zu vertreten. Da Dühring die objektive Realität von Zeit und Raum nicht oder zumindest nicht klar und eindeutig anerkennt (denn er schwankte und verhaspelte sich in dieser Frage), ist es nicht zufällig, sondern unvermeidlich, daß er auf schiefer Ebene abgleitet und bei der „Endursache" und dem „ersten Anstoß" landet; denn er hat sich des objektiven Kriteriums begeben, das ihn hindert, die Grenzen von Zeit und Raum zu überschreiten. Wenn Zeit und Raum nur Begriffe sind, so ist die Menschheit, die sie geschaffen hat, berechtigt, über ihre Grenzen hinauszugehen, und die bürgerlichen Professoren sind berechtigt, von den reaktionären Regierungen dafür Gehalt zu beziehen, daß sie die Berechtigung dieses Hinausgehens verteidigen, daß sie direkt oder indirekt mittelalterlichen „Unsinn" rechtfertigen.

Engels wies Dühring nach, daß das Leugnen der objektiven Realität von Zeit und Raum theoretisch eine philosophische Konfusion, praktisch die Kapitulation oder Ohnmacht vor dem Fideismus ist.

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Betrachten wir jetzt die „Lehre" des „neuesten Positivismus" über diesen Gegenstand. Wir lesen bei Mach: „Raum und Zeit sind [wohlgeordnete] Systeme von Empfindungsreihen." („Mechanik", 3. dtsch. Aufl., S. 498.) Das ist offenkundiger idealistischer Unsinn, der sich unvermeidlich aus der Lehre ergibt, daß die Körper Empfindungskomplexe seien. Nicht der Mensch mit seinen Empfindungen existiert in Raum und Zeit, sondern Raum und Zeit existieren im Menschen, sind von ihm abhängig, von ihm erzeugt - so sieht die Sache bei Mach aus. Er spürt, daß er zum Idealismus abgleitet, und leistet „Widerstand", indem er eine Menge Vorbehalte macht und, ähnlich wie Dühring, die Frage in langatmigen Betrachtungen über die Veränderlichkeit unserer Raum- und Zeitbegriffe, ihre Relativität usw. untergehen lassen will (siehe besonders „Erkenntnis und Irrtum"). Doch das rettet ihn nicht und kann ihn nicht retten, denn wirklich überwinden kann man die idealistische Position in dieser Frage einzig und allein dadurch, daß man die objektive Realität von Raum und Zeit anerkennt. Das aber will Mach um keinen Preis. Er baut die gnoseologische Theorie von Zeit und Raum auf dem Prinzip des Relativismus auf, das ist alles. Zu etwas anderem als zum subjektiven Idealismus kann eine solche Konstruktion dem Wesen der Sache nach nicht führen, wie wir dies bereits bei der Behandlung der absoluten und relativen Wahrheit klargestellt haben.

Sich gegen die unvermeidlichen idealistischen Schlußfolgerungen aus seinen eigenen Thesen sträubend, wendet sich Mach gegen Kant und verteidigt den Ursprung des Raumbegriffs aus der Erfahrung („Erkenntnis und Irrtum", 2. dtsch. Aufl., S. 350, 385). Wenn uns aber in der Erfahrung nicht die objektive Realität gegeben ist (wie Mach lehrt), dann wird durch einen derartigen Einwand gegen Kant die allgemeine Position des Agnostizismus, die sowohl Kant als auch Mach einnehmen, nicht im geringsten aufgehoben. Nehmen wir den Raumbegriff aus der Erfahrung, ohne daß er eine Widerspiegelung der objektiven Realität außer uns ist, so bleibt Machs Theorie idealistisch. Die Existenz der Natur in der nach Millionen Jahren zu messenden Zeit vor dem Erscheinen des Menschen und der menschlichen Erfahrung beweist die Absurdität dieser idealistischen Theorie.

„In physiologischer Beziehung", schreibt Mach, „sind Zeit und Raum Systeme von Orientierungsempfindungen, welche nebst den Sinnesemp-

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findungen die [Auslösung] biologisch zweckmäßiger Anpassungsreaktionen bestimmen. In physikalischer Hinsicht sind Zeit und Raum besondere Abhängigkeiten der physikalischen Elemente voneinander." (Ebenda, S. 434.)

Der Relativist Mach beschränkt sich darauf, den Begriff der Zeit in verschiedenen Beziehungen zu betrachten! Und wie Dühring kommt auch er nicht vom Fleck. Wenn die „Elemente" Empfindungen sind, so kann die Abhängigkeit der physikalischen Elemente voneinander nicht außerhalb des Menschen, vor dem Menschen und vor der organischen Materie existieren. Wenn die Zeit- und Raumempfindungen dem Menschen eine biologisch zweckmäßige Orientierung geben können, so ausschließlich unter der Bedingung, daß diese Empfindungen die objektive Realität außerhalb des Menschen widerspiegeln: der Mensch würde sich nicht biologisch einer Umgebung anpassen können, wenn seine Empfindungen ihm nicht eine objektiv richtige Vorstellung von dieser Umgebung gäben. Die Lehre von Raum und Zeit ist untrennbar verbunden mit der Lösung der Grundfrage der Erkenntnistheorie: Sind unsere Empfindungen Abbilder der Körper und Dinge, oder sind die Körper Komplexe unserer Empfindungen? Mach verhaspelt sich nur zwischen diesen beiden Lösungen.

In der heutigen Physik, meint er, gilt noch die Newtonsche Auffassung von absoluter Zeit und absolutem Raum (S. 442-444), von Zeit und Raum als solchen. Diese Annahme erscheint „uns" sinnlos, fährt Mach fort, augenscheinlich ohne zu ahnen, daß es Materialisten und eine materialistische Erkenntnistheorie auf der Welt gibt. In der Praxis sei diese Auffassung allerdings [unschädlich] (S. 442) geblieben und deshalb lange einer ernsten Kritik entgangen.

Diese naive Äußerung über die Unschädlichkeit der materialistischen Auffassung verrät den ganzen Mach! Erstens ist es falsch, daß die Idealisten diese Auffassung „sehr lange" nicht kritisiert haben; Mach ignoriert einfach den Kampf der idealistischen und der materialistischen Erkenntnistheorie in dieser Frage; er weicht einer eindeutigen und klaren Darstellung der beiden Auffassungen aus. Zweitens erkennt Mach dadurch, daß er die „Unschädlichkeit" der von ihm bestrittenen materialistischen Anschauungen zugibt, im Grunde ihre Richtigkeit an. Denn wie hätte etwas Unrichtiges im Laufe von Jahrhunderten unschädlich bleiben können? Wo ist das Kriterium der Praxis geblieben, mit dem Mach zu lieb-

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äugeln versucht hat? „Unschädlich" kann die materialistische Auffassung der objektiven Realität von Zeit und Raum nur deshalb sein, weil die Naturwissenschaft über die Grenzen von Zeit und Raum, über die Grenzen der materiellen Welt nicht hinausgeht und diese Beschäftigung den Professoren der reaktionären Philosophie überläßt. Eine solche „Unschädlichkeit" ist gleichbedeutend mit Richtigkeit.

„Schädlich" aber ist Machs idealistische Auffassung von Raum und Zeit, denn erstens öffnet sie dem Fideismus Tür und Tor, zweitens aber verführt sie Mach selbst zu reaktionären Schlußfolgerungen. So schrieb Mach zum Beispiel im Jahre 1872, „... daß man sich die chemischen Elemente nicht in einem Raum von drei Dimensionen vorstellen müsse" („Erhaltung der Arbeit", S. 29, wiederholt S. 55). Ein solches Verfahren könne uns „darüber belehren, welche unnötige Beschränkung wir uns hier auflegen. Es liegt keine Notwendigkeit vor, sich [das bloß Gedachte] räumlich, d. h. mit den Beziehungen des Sichtbaren und Tastbaren zu denken, ebensowenig als es nötig ist, dasselbe in einer bestimmten Tonhöhe zu denken." (27.) „Warum es bis jetzt nicht gelungen ist, eine befriedigende Theorie der Elektrizität herzustellen, das liegt vielleicht mit daran, daß man sich die elektrischen Erscheinungen durchaus durch Molekularvorgänge in einem Räume von drei Dimensionen erklären wollte." (30.)

Eine vom Standpunkt jenes unumwundenen und nicht verworrenen Machismus, den Mach 1872 offen verteidigte, vollkommen unbestreitbare Überlegung: Wenn man Moleküle, Atome, kurz die chemischen Elemente nicht empfinden kann, so sind sie eben „[das bloß Gedachte]“. Ist dem aber so, und haben Raum und Zeit keine objektiv reale Bedeutung, dann ist es klar, daß man durchaus nicht verpflichtet ist, sich die Atome räumlich vorzustellen! Mögen sich Physik und Chemie auf einen Raum von drei Dimensionen, in dem die Materie sich bewegt, „beschränken" - man könne dennoch, um die Elektrizität zu erklären, deren Elemente in einem nicht dreidimensionalen Raum suchen!

Daß unsere Machisten diesen Unsinn von Mach ganz vorsichtig umgehen, obzwar er ihn 1906 wiederholt („Erkenntnis und Irrtum", 2. Aufl., S. 418), ist begreiflich, denn sie wären sonst gezwungen, in aller Schärfe die Frage der idealistischen und der materialistischen Auffassung des Raumes zu stellen, ohne Ausflüchte und ohne Versuche, die Gegensätze zu „versöhnen". Ebenso begreiflich ist, daß einer der Führer der Imma-

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nenzschule, Anton von Leclair, schon damals, in den siebziger Jahren, als Mach noch völlig unbekannt war und die „orthodoxen Physiker" sich sogar weigerten, seine Aufsätze zu drucken, sich mit aller Kraft auf eben diese Betrachtung Machs als auf eine bemerkenswerte Absage an den Materialismus und Anerkennung des Idealismus stürzte! Denn zu jener Zeit hatte sich Leclair den „neuen" Namen „Immanenzschule" noch nicht ausgedacht bzw. noch nicht von Schuppe und Schubert-Soldern oder J. Rehmke entlehnt, sondern bezeichnete sich direkt als kritischen Idealisten* Dieser unzweideutige Verteidiger des Fideismus, den er in seinen philosophischen Werken direkt predigt, erklärte Mach wegen solcher Betrachtungen sogleich für einen großen Philosophen, für einen „Revolutionär im besten Sinne des Wortes" (S. 252), und er hatte vollkommen recht. Machs Betrachtung ist der Übergang aus dem Lager der Naturwissenschaft in das des Fideismus. Die Naturwissenschaft, im Jahre 1872 sowohl wie im Jahre 1906, suchte, sucht und findet - zumindest ertastet sie - das Atom der Elektrizität, das Elektron, im dreidimensionalen Raum. Für die Naturwissenschaft steht es außer Frage, daß der Stoff ihrer Forschung nirgendwo anders existiert als im dreidimensionalen Raum, und folglich existieren auch die Teilchen dieses Stoffes, und mögen sie auch so klein sein, daß wir sie nicht sehen können, „unbedingt" in dem nämlichen dreidimensionalen Raum. Seit dem Jahre 1872 sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen, in denen die Wissenschaft gigantische, schwindelerregende Fortschritte in der Frage der Struktur der Materie gemacht hat, und während dieser Zeit ist die materialistische Auffassung von Raum und Zeit weiterhin „unschädlich", d. h. nach wie vor in Übereinstimmung mit der Naturwissenschaft geblieben, während die entgegengesetzte Auffassung von Mach und Co. eine „schädliche" Preisgabe ihrer Position an den Fideismus war.

In seiner „Mechanik" verteidigt Mach die Mathematiker, die die Frage denkbarer Räume von n Dimensionen untersuchen, gegen den Vorwurf, daß sie schuld seien, wenn aus ihren Untersuchungen „monströse" Schlußfolgerungen gezogen werden. Zweifellos eine ganz berechtigte Verteidigung. Betrachten wir aber, welche erkenntnistheoretische Stellung Mach bei dieser Verteidigung einnimmt. Die neuere Mathematik, sagt


* Anton von Leclair, „Der Realismus der modernen Naturwissenschaft im Lichte der von Berkeley und Kant angebahnten Erkenntniskritik", Prag 1879.

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Mach, warf die sehr wichtige und nützliche Frage eines n-dimensionalen Raumes als eines denkbaren Raumes auf, „[ein wirklicher Fall]" aber bleibe nur der dreidimensionale Raum (3. Aufl., S. 483-485). Daher sei es ein vergebliches Bemühen, wenn „manche Theologen, welche in Verlegenheit waren, die Hölle unterzubringen", und die Spiritisten aus der vierten Dimension Nutzen zu ziehen suchten (ebenda).

Sehr schön! Mach will nicht in die Gesellschaft von Theologen und Spiritisten geraten. Wodurch aber grenzt er sich in seiner Erkenntnistheorie von ihnen ab? Durch den Satz, daß nur der dreidimensionale Raum ein wirklicher Raum ist! Was ist das aber für ein Abschirmen gegen die Theologen und Co., wenn ihr die objektive Realität von Raum und Zeit nicht anerkennt? Das bedeutet doch, daß ihr euch der Methode bedient, stillschweigend etwas bei dem Materialismus zu entlehnen, wenn es gilt, von den Spiritisten abzurücken. Denn die Materialisten, die die wirkliche Welt, die von uns wahrgenommene Materie, als objektive Realität anerkennen, haben das Recht, daraus zu schließen, daß alle menschlichen Erfindungen, welchem Zwecke immer sie dienen, die über die Grenzen von Zeit und Raum hinausgehen, unwirklich sind. Ihr aber, ihr Herren Machisten, sprecht in euerm Kampf gegen den Materialismus der „Wirklichkeit" die objektive Realität ab und schmuggelt sie heimlich wieder ein, wenn es gilt, gegen den konsequenten, ganz entschiedenen und unverhüllten Idealismus zu kämpfen! Wenn der relative Zeit- und Raumbegriff nichts anderes enthält als Relativität, wenn es keine objektive (= weder vom Menschen noch von der Menschheit abhängige) Realität gibt, die durch diese relativen Begriffe widergespiegelt wird, warum sollte dann die Menschheit, warum sollte die Mehrzahl der Menschen kein Recht auf den Begriff von Wesen außerhalb von Zeit und Raum haben? Wenn Mach berechtigt ist, die Atome der Elektrizität oder die Atome überhaupt außerhalb des dreidimensionalen Raumes zu suchen, warum sollte dann die Mehrzahl der Menschen nicht berechtigt sein, die Atome oder die Grundlagen der Moral außerhalb des dreidimensionalen Raumes zu suchen?

„Ein Akkoucheur", schreibt Mach an gleicher Stelle, „der eine Geburt durch die vierte Dimension bewerkstelligt hätte, ist noch nicht aufgetreten."

Ein ausgezeichnetes Argument - aber nur für diejenigen, die im Kriterium der Praxis die Bestätigung der objektiven Wahrheit, der objektiven Realität unserer sinnlichen Welt sehen. Wenn unsere Empfindungen uns

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ein objektiv richtiges Abbild der unabhängig von uns existierenden Außenwelt geben, dann ist dieses Argument mit dem Akkoucheur, mit der Berufung auf die ganze menschliche Praxis, brauchbar. Dann aber ist der ganze Machismus als philosophische Richtung völlig unbrauchbar.

„Ich hoffe aber", fährt Mach unter Berufung auf seine Arbeit aus dem Jahre 1872 fort, „daß mit dem, was ich darüber gedacht, gesagt und geschrieben habe, niemand [die Kosten einer Spukgeschichte bestreiten] wird."

Man darf nicht darauf hoffen, daß Napoleon nicht am 5. Mai 1821 gestorben ist. Man darf nicht darauf hoffen, daß niemand mit Hilfe des Machismus „die Kosten einer Spukgeschichte bestreiten" wird, wenn es die Immanenzphilosophen schon getan haben und auch weiterhin tun!

Und nicht allein die Immanenzphilosophen, wie wir später sehen werden. Der philosophische Idealismus ist nur eine verkappte, ausgeschmückte Spukgeschichte. Man schaue sich aber die französischen und englischen Vertreter des Empiriokritizismus an, die weniger schwülstig sind als die deutschen Vertreter dieser philosophischen Strömung. Poincaré meint, daß die Begriffe von Raum und Zeit relativ seien und daß folglich (für die Nichtmaterialisten ist das in der Tat „folglich") „nicht die Natur sie" (diese Begriffe) „uns aufdrängt (impose), sondern daß wir sie der Natur aufdrängen, weil wir sie bequem finden" (l. c., p. 6 [S. 4]). Rechtfertigt das etwa nicht das Entzücken der deutschen Kantianer? Bestätigt das etwa nicht die Erklärung von Engels, daß eine konsequente philosophische Lehre entweder die Natur oder das menschliche Denken als das Primäre annehmen muß?

Ganz eindeutig sind die Anschauungen des englischen Machisten Karl Pearson. „Wir können nicht behaupten", sagt er, „daß Raum und Zeit eine reale Existenz haben. Sie befinden sich nicht in den Dingen, sondern sind unsere Art (our mode), die Dinge wahrzunehmen." (l. c., p. 184.) Das ist offener und unverhüllter Idealismus. „Wie der Raum, so ist auch die Zeit eines der Verfahren (wörtlich: plans, Pläne), nach welchen die große Sortiermaschine, das menschliche Erkenntnisvermögen, ihr Material ordnet (arranges)." (Ebenda.) Die endgültige Schlußfolgerung K. Pearsons, wie gewöhnlich in klare und exakte Thesen gefaßt, lautet: „Raum und Zeit sind keine Realitäten der Erscheinungswelt (phenomenal world), sondern die Art und Weise (Modi, modes), in welcher wir die Dinge

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wahrnehmen. Sie sind weder unendlich groß noch unendlich teilbar, sondern sind ihrem Wesen nach (essentially) durch den Inhalt unserer Wahrnehmungen begrenzt." (p. 191, Zusammenfassung des Kapitels V über Raum und Zeit.)

Pearson, der offene und ehrliche Feind des Materialismus, mit dem Mach, wie gesagt, mehrmals sein völliges Einverständnis bekundet und der selbst offen von seinem Einverständnis mit Mach spricht, erfindet für seine Philosophie kein besonderes Aushängeschild, sondern nennt ohne die geringsten Umschweife jene Klassiker, von denen er seine philosophische Linie herleitet: Hume und Kant (p. 192)!

Und wenn sich in Rußland naive Leute fanden, die glaubten, der Machismus habe eine „neue" Lösung des Raum- und Zeitproblems gegeben, so haben in der englischen Literatur die Naturforscher einerseits und die idealistischen Philosophen anderseits sofort und völlig eindeutig dem Machisten K. Pearson gegenüber Stellung bezogen. Hier zum Beispiel die Äußerung des Biologen Lloyd Morgan: „Die Naturwissenschaft als solche nimmt die Welt der Erscheinungen als eine außerhalb des Verstandes des Beobachters liegende, von ihm unabhängige", während Professor Pearson „eine idealistische Stellung" einnimmt.* „Die Naturwissenschaft als Wissenschaft ist, meiner Ansicht nach, durchaus berechtigt, Raum und Zeit als rein objektive Kategorien zu behandeln. Mich dünkt, ein Biologe ist berechtigt, die Verteilung der Organismen im Raum, ein Geologe ihre Verteilung in der Zeit zu betrachten, ohne sich dabei aufzuhalten, dem Leser klarzumachen, daß nur von Sinneswahrnehmungen, von angehäuften Sinneswahrnehmungen, von bestimmten Formen der Wahrnehmung die Rede ist. Das alles mag vielleicht richtig sein, doch in der Physik und in der Biologie ist kein Platz dafür." (p. 304.) Lloyd Morgan ist ein Vertreter jenes Agnostizismus, den Engels „verschämten Materialismus" genannt hat, und, wie „versöhnend" die Tendenzen dieser Philosophie auch sein mögen, erwies es sich doch als unmöglich, die Auffassungen Pearsons mit der Naturwissenschaft zu versöhnen. Nach Pearson sei „zuerst der Geist im Raum, dann aber der Raum im Geiste", sagt ein anderer Kritiker.** „Darüber kann kein Zweifel sein", erwiderte


* „Natural Science"68, vol. 1,1892, p. 300.
** J.M. Bentley über Pearson in „The Philosophical Review"69, vol. VI, 5, 1897, September, p. 523.

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K. Pearsons Verteidiger, R. J. Ryle, „daß die Lehre von Raum und Zeit, die mit Kants Namen verbunden ist, die wichtigste positive Errungenschaft der idealistischen Theorie von der menschlichen Erkenntnis seit der Zeit Bischof Berkeleys ist. Und einer der bemerkenswertesten Züge der ,Grammar of Science' von Pearson besteht darin, daß wir hier, vielleicht zum erstenmal in dem Werk eines englischen Gelehrten, eine vollständige Anerkennung der Grundwahrheit der Kantschen Lehre nebst einer kurzen und doch klaren Darstellung derselben finden . . ."*

Demnach gibt es in England weder bei den Machisten selbst noch bei ihren Gegnern im Lager der Naturforscher, noch bei ihren Anhängern im Lager der Fachphilosophen auch nur den geringsten Zweifel an dem idealistischen Charakter der Machschen Lehre von Raum und Zeit. Nur einige russische Schriftsteller, die Marxisten sein möchten, haben das „übersehen".

„Viele Einzelansichten von Engels", schreibt beispielsweise W. Basarow in den „Beiträgen", S. 67, „zum Beispiel seine Vorstellung von dem ,reinen' Raum und der ,reinen' Zeit, sind jetzt bereits veraltet."

Na, und ob! Die Ansichten des Materialisten Engels sind veraltet, die Ansichten des Idealisten Pearson und des verworrenen Idealisten Mach aber sind die allerneuesten! Das Kurioseste dabei ist, daß Basarow gar keinen Zweifel hegt, daß die Auffassungen von Raum und Zeit, nämlich die Anerkennung oder Leugnung der objektiven Realität derselben, zu den „Einzelansichten" gehören, im Gegensatz zum „Ausgangspunkt der 'Weltanschauung", von dem der Verfasser im nächsten Satz spricht. Hier haben wir ein anschauliches Beispiel für die „eklektische Bettelsuppe", von der Engels sprach, wenn von der deutschen Philosophie der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Rede war. Denn den „Ausgangspunkt" der materialistischen Weltanschauung von Marx und Engels ihrer „Einzelansicht" über die objektive Realität von Zeit und Raum gegenüberzustellen, ist ein ebenso himmelschreiender Unsinn, wie wenn man den „Ausgangspunkt" der ökonomischen Theorie von Marx seiner „Einzelansicht" über den Mehrwert gegenüberstellen wollte. Engels' Lehre von der objektiven Realität von Zeit und Raum zu trennen von seiner Lehre der Verwandlung der „Dinge an sich" in „Dinge für uns", von seiner Anerkennung der objektiven und absoluten Wahrheit, nämlich der


* R.J. Ryle über Pearson in „Natural Science", August 1892, p. 454.

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uns in der Empfindung gegebenen objektiven Realität, von seiner Anerkennung der objektiven Gesetzmäßigkeit, Kausalität, Naturnotwendigkeit, heißt eine geschlossene Philosophie in ein Sammelsurium verwandeln. Basarow ist, wie alle Machisten, dadurch auf Irrwege geraten, daß er die Veränderlichkeit der menschlichen Begriffe von Zeit und Raum, ihren ausschließlich relativen Charakter verwechselte mit der Unveränderlichkeit der Tatsache, daß der Mensch und die Natur nur in Zeit und Raum existieren, während die vom Pfaffentum geschaffenen und von der Einbildungskraft der unwissenden, niedergehaltenen Masse der Menschheit genährten Wesen außerhalb von Zeit und Raum krankhafte Phantasiegebilde, Schrullen des philosophischen Idealismus, das untaugliche Produkt einer untauglichen Gesellschaftsordnung sind. Die Lehre der Wissenschaft von der Struktur der Materie, von der chemischen Beschaffenheit der Nahrung, vom Atom und Elektron kann veralten und veraltet mit jedem Tage, doch nicht veralten kann die Wahrheit, daß der Mensch von Gedanken nicht satt wird und daß er mit platonischer Liebe allein keine Kinder zeugen kann. Eine Philosophie aber, die die objektive Realität von Zeit und Raum leugnet, ist ebenso unsinnig, innerlich faul und falsch wie die Leugnung dieser letzten Wahrheiten. Die Spitzfindigkeiten der Idealisten und Agnostiker sind im großen und ganzen ebenso heuchlerisch wie das Predigen der platonischen Liebe durch die Pharisäer!

Um diesen Unterschied zwischen der Relativität unserer Begriffe von Zeit und Raum und der in den Grenzen der Erkenntnistheorie absoluten Gegensätzlichkeit der materialistischen und idealistischen Linie in der gegebenen Frage zu illustrieren, will ich noch ein charakteristisches Zitat von einem sehr alten und sehr reinen „Empiriokritiker", nämlich von dem Humeisten Aenesidem-Schulze, anführen, der 1792 schrieb:

„Wird von der Beschaffenheit der Vorstellungen und Gedanken in uns auf die Beschaffenheit der ,Sache außer uns'... geschlossen", so „sind Raum und Zeit etwas außer uns Wirkliches und realiter Existierendes, (denn das Dasein der Körper läßt sich nur in einem [vorhandenen] Räume und das Dasein der Veränderungen nur in einer vorhandenen Zeit denken)." (l. c., S. 100).

Sehr richtig! Im Jahre 1792 umreißt der Hume-Anhänger Schulze, der den Materialismus und das kleinste Zugeständnis an ihn entschieden

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zurückweist, das Verhältnis des Raum- und Zeitproblems zum Problem der objektiven Realität außer uns genauso, wie es der Materialist Engels im Jahre 1894 umrissen hat (das letzte Vorwort von Engels zum „Anti-Dühring" ist vom 23. Mai 1894 datiert). Das bedeutet nicht, daß unsere Vorstellungen von Zeit und Raum sich während eines Jahrhunderts nicht geändert hätten oder daß man nicht umfangreiches neues Material über die Entwicklung dieser Vorstellungen gesammelt hätte (Material, auf das sich sowohl Woroschilow-Tschernow als auch Woroschilow-Walentinow bei ihrer angeblichen Widerlegung von Engels beziehen); das bedeutet, daß sich das Verhältnis von Materialismus und Agnostizismus als philosophischen Grundlinien, trotz aller „neuen" Namen, mit denen unsere Machisten paradieren, nicht ändern konnte.

Zu der alten Philosophie des Idealismus und Agnostizismus hat auch Bogdanow außer „neuen" Namen absolut nichts hinzugefügt. Wenn er Herings und Machs Betrachtung über den Unterschied zwischen physiologischem und geometrischem Raum oder zwischen dem Raum der sinnlichen Wahrnehmung und dem abstrakten Raum wiederholt („Empiriomonismus", I, 26), so wiederholt er voll und ganz den Irrtum Dührings. Die Frage, auf welche bestimmte Art und Weise der Raum von dem Menschen mit Hilfe der verschiedenen Sinnesorgane wahrgenommen wird und wie auf dem Wege einer langen geschichtlichen Entwicklung aus diesen Wahrnehmungen die abstrakten Raumbegriffe herausgearbeitet werden, ist etwas ganz anderes als die Frage, ob diesen Wahrnehmungen und diesen Begriffen der Menschheit eine von den Menschen unabhängige objektive Realität entspricht. Diese letztere Frage hat Bogdanow, obwohl sie die einzig philosophische Frage ist, unter dem Wust der Einzeluntersuchungen zu der ersten Frage „übersehen", und deshalb vermochte er nicht, den Materialismus von Engels dem Durcheinander von Mach klar entgegenzuhalten.

Die Zeit sei ebenso wie der Raum „eine Form der sozialen Übereinstimmung der Erfahrungen verschiedener Menschen" (ebenda, S. 34), beider „Objektivität" sei die „Allgemeingültigkeit" (ebenda)

Das ist durch und durch falsch. Allgemeingültig ist auch die Religion, die ein Ausdruck der sozialen Übereinstimmung der Erfahrungen des größeren Teils der Menschheit ist. Doch entspricht der Lehre der Religion zum Beispiel über die Vergangenheit der Erde und über die Erschaffung

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der Welt keine objektive Realität. Der Lehre der Wissenschaft aber, daß die Erde vor jeder Sozialität, vor der Menschheit, vor der organischen Materie existierte, daß sie im Laufe einer bestimmten Zeit, in einem in bezug auf andere Planeten bestimmten Räume existierte, dieser Lehre (obwohl sie auf jeder Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung ebenso relativ ist wie jedes Stadium der Religionsentwicklung auch) entspricht eine objektive Realität. Nach Bogdanow passen sich die verschiedenen Formen von Raum und Zeit der Erfahrung der Menschen und ihrem Erkenntnisvermögen an. In Wirklichkeit verhält es sich gerade umgekehrt: unsere „Erfahrung" und unsere Erkenntnis passen sich immer mehr dem objektiven Raum und der objektiven Zeit an, indem sie diese immer richtiger und tiefer widerspiegeln.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 25.01.2013