1. Was ist Materie? Was ist Erfahrung? | Inhalt | 3. Über Kausalität und Notwendigkeit in der Natur

2. Plechanows Irrtum bezüglich des Begriffs „Erfahrung“

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Plechanow schreibt auf S. X/XI seines Vorworts zu „L. Feuerbach" (Ausg. 1905):

„Ein deutscher Schriftsteller bemerkt, daß die Erfahrung für den Empiriokritizismus nur Untersuchungsobjekt und keineswegs Erkenntnismittel sei. Wenn dem so ist, dann verliert die Gegenüberstellung von Empiriokritizismus und Materialismus ihren Sinn, und die Betrachtungen, daß der Empiriokritizismus den Materialismus zu ersetzen berufen sei, erweisen sich als leer und müßig."

Das ist ein einziges Durcheinander.

Fr. Carstanjen, einer der „orthodoxesten" Avenarius-Anhänger, sagt in seinem Aufsatz über den Empiriokritizismus (Erwiderung an Wundt), daß „für die ,Kritik der reinen Erfahrung' die Erfahrung nicht Erkenntnismittel, sondern nur Untersuchungsobjekt ist"*. Nach Plechanow soll also


* „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie", Jahrg. 22, 1898, S. 45.

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die Gegenüberstellung der Ansichten Fr. Carstanjens und des Materialismus keinen Sinn haben!

Fr. Carstanjen gibt fast wörtlich Avenarius wieder, der in seinen „Bemerkungen" seine Auffassung von der Erfahrung als [dem Vorgefundenen] entschieden der Auffassung von der „Erfahrung als »Erkenntnismittel' im Sinne der herrschenden, innerlich völlig metaphysischen Erkenntnistheorien" (l. c., S. 401) gegenüberstellt. Dasselbe sagt, Avenarius folgend, auch Petzoldt in seiner „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung" (Bd. I, S. 170). Nach Plechanow hätte also die Gegenüberstellung der Anschauungen von Carstanjen, Avenarius und Petzoldt einerseits und des Materialismus anderseits keinen Sinn! Entweder hat Plechanow Carstanjen und Co. nicht „bis zu Ende gelesen, oder seine Berufung auf „einen deutschen Schriftsteller" stammt aus fünfter Hand.

Was besagt nun diese von Plechanow nicht verstandene Behauptung der prominentesten Empiriokritiker? Carstanjen will sagen, daß Avenarius in seiner „Kritik der reinen Erfahrung" die Erfahrung, d. h. alle „menschlichen Aussagen" zum Untersuchungsobjekt mache. Avenarius untersuche hier nicht - sagt Carstanjen (zit. Aufsatz, S. 50) -, ob die Aussagen real sind, oder ob sie sich beispielsweise auf Gespenster beziehen; er gruppiere nur, systematisiere, klassifiziere formal alle möglichen menschlichen Aussagen, sowohl idealistische wie auch materialistische (S. 53), ohne in das Wesen der Frage einzudringen. Carstanjen hat vollständig recht, wenn er diesen Standpunkt als „Skeptizismus vorzugsweise" bezeichnet (S. 213). Carstanjen verteidigt unter anderem in diesem Aufsatz seinen teuren Meister gegen die (für einen deutschen Professor) schmachvolle Anschuldigung des Materialismus, die Wundt gegen ihn geschleudert hat. Aber ich bitte Sie, wieso sind wir denn Materialisten? - das ist der Sinn der Erwiderung Carstanjens —; wenn wir von „Erfahrung" reden, so durchaus nicht in dem gewöhnlichen, landläufigen Sinne, der zum Materialismus führt oder führen könnte, sondern im Sinne der Erforschung alles dessen, was die Menschen als Erfahrung „aussagen". Carstanjen und Avenarius halten die Auffassung der Erfahrung als Erkenntnismittel für materialistisch (was vielleicht auch meistens üblich, aber dennoch unrichtig ist, wie wir an dem Beispiel Fichtes gesehen haben). Avenarius grenzt sich ab gegen die „herrschende" „Metaphysik", die sich darauf versteift, das Gehirn für das Organ des Denkens zu halten, ohne

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die Theorien der Introjektion und der Koordination in Betracht zu ziehen. Unter dem [Vorgefundenen] versteht Avenarius gerade die unauflösliche Verbindung von Ich und Umgebung, was zu einer verworrenen idealistischen Interpretation der „Erfahrung" führt.

Hinter dem Wort „Erfahrung" kann sich also ohne Zweifel sowohl die materialistische als auch die idealistische Linie in der Philosophie und gleichermaßen sowohl die Humesche als auch die Kantsche verbergen, doch wird weder durch die Definition der Erfahrung als Untersuchungsobjekt* noch durch ihre Definition als Erkenntnismittel irgend etwas in dieser Hinsicht entschieden. Speziell Carstanjens Äußerungen gegen Wundt stehen in keinerlei Beziehung zu der Frage der Gegenüberstellung von Empiriokritizismus und Materialismus.

Als Kuriosum wollen wir erwähnen, daß Bogdanow und Walentinow in ihrer Antwort an Plechanow in diesem Punkt eine nicht um ein Jota bessere Sachkenntnis gezeigt haben. Bogdanow erklärte, es sei „nicht ganz klar" (III, S. XI), es sei „Sache der Empiriokritizisten, diese Formulierung zu untersuchen und die Bedingung entweder anzunehmen, oder nicht". Eine vorteilhafte Position: Ich bin ja kein Machist und bin nicht verpflichtet, zu untersuchen, in welchem Sinne irgendein Avenarius oder Carstanjen von der Erfahrung spricht! Bogdanow möchte sich des Machismus (und des machistischen Durcheinanders in bezug auf die „Erfahrung") bedienen, will aber die Verantwortung dafür nicht übernehmen.

Der „reine" Empiriokritiker Walentinow hat Plechanows Bemerkung abgeschrieben und öffentlich einen Cancan getanzt, wobei er sich darüber lustig machte, daß Plechanow den Schriftsteller nicht genannt und nicht erklärt hat, worum es sich handle (zit. Werk, S. 108/109). Dabei hat dieser empiriokritische Philosoph selbst zum Wesen der Sache mit keinem Wort geantwortet, obwohl er zugab, er habe Plechanows Bemerkung „dreimal, wenn nicht öfter, gelesen" (und augenscheinlich nichts verstanden). Ja, das sind nun einmal Machisten!


* Vielleicht schien es Plechanow, Carstanjen habe gesagt: „von der Erkenntnis unabhängiges Erkenntnisobjekt", nicht aber „Untersuchungsobjekt"? Dann wäre es wirklich Materialismus. Doch hat weder Carstanjen noch überhaupt jemand, der mit dem Empiriokritizismus vertraut ist, so etwas gesagt noch sagen können.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 10.04.2013