Karl Marx | Inhalt | Die ökonomische Lehre von Marx

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Die Marxsche Lehre

Der Marxismus ist das System der Anschauungen und der Lehre von Marx. Marx war der Fortführer und geniale Vollender der drei geistigen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts in den drei fortgeschrittensten Ländern der Menschheit: der klassischen deutschen Philosophie, der klassischen englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus in Verbindung mit den französischen revolutionären Lehren überhaupt. Die selbst von Marx' Gegnern anerkannte bewundernswerte Folgerichtigkeit und Geschlossenheit seiner Anschauungen, die in ihrer Gesamtheit den modernen Materialismus und den modernen wissenschaftlichen Sozialismus als Theorie und Programm der Arbeiterbewegung in allen zivilisierten Ländern der Welt ergeben, veranlassen uns, der Darlegung des Hauptinhalts des Marxismus, der ökonomischen Lehre von Marx, einen kurzen Abriß seiner Weltanschauung überhaupt vorauszuschicken.

Der philosophische Materialismus

Von 1844/1845 an, den Jahren, in denen sich Marx' Anschauungen geformt hatten, war er Materialist, und zwar im besonderen Anhänger L. Feuerbachs, dessen schwache Seiten er auch später ausschließlich darin erblickte, daß sein Materialismus nicht genügend folgerichtig und allseitig war. Marx sah die weltgeschichtliche, „epochemachende" Bedeutung Feuerbachs gerade in dem entschiedenen Bruch mit dem Hegelschen Idealismus und in der Verkündung des Materialismus, der schon im 18. Jahrhundert, namentlich in Frankreich, „nicht nur ein Kampf gegen die bestehenden politischen Institutionen, wie gegen die bestehende Religion und Theologie war, sondern ebensosehr ... gegen alle Metaphysik" (im Sinne der „trunkenen Spekulation" zum Unterschied von der „nüchternen Philosophie") („Die heilige Familie" im „Literarischen Nachlaß"13). „Für Hegel", schrieb Marx, „ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg" (Schöpfer, Erzeuger) „des Wirklichen ... Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." („Das Kapital", I, Nachwort zur 2. Auflage.14) In völliger Übereinstimmung mit dieser materialistischen Philosophie von Marx schrieb Fr. Engels, als er sie im „Anti-Dühring" darlegte (siehe daselbst) — Marx hatte sich mit diesem Werk im Manuskript bekannt gemacht —: „Die Einheit der Welt besteht nicht in ihrem Sein... Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität, und diese ist bewiesen ... durch eine lange und langwierige Entwicklung der Philosophie und der Naturwissenschaft... Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben, oder kann es sie geben... Materie ohne Bewegung ist ebenso undenkbar wie Bewegung ohne Materie ... Fragt man ..., was denn Denken und Bewußtsein sind und woher sie stammen, so findet man, daß es Produkte des menschlichen Hirns und daß der Mensch selbst ein Naturprodukt, das sich in und mit seiner Umgebung entwickelt hat; wobei es sich dann von selbst versteht, daß die Erzeugnisse des menschlichen Hirns, die in letzter Instanz ja auch Naturprodukte sind, dem übrigen Naturzusammenhang nicht widersprechen, sondern entsprechen." „Hegel war Idealist, d.h., ihm galten die Gedanken seines Kopfs nicht als die mehr oder weniger abstrakten Abbilder" (zuweilen spricht Engels von „Abklatsch") „der wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern umgekehrt galten ihm die Dinge und ihre Entwicklung nur als die verwirklichten Abbilder der irgendwo schon vor der Welt existierenden ,Idee'."15 In seiner Schrift „Ludwig Feuerbach", in der Fr. Engels seine und Marx' Ansichten über die Philosophie Feuerbachs darlegt und die Engels erst nach erneuter Durchsicht ihres gemeinsamen alten Manuskripts aus den Jahren 1844/1845 über Hegel, Feuerbach und die materialistische Geschichtsauffassung in Druck gab, schreibt Engels: „Die große Grundfrage aller, speziell neueren Philosophie ist die nach dem Verhältnis von Denken und Sein... des Geistes zur Natur... Was ist das Ursprüngliche, der Geist oder die Natur?... Je nachdem diese Frage so oder so beantwortet wurde, spalteten sich die Philosophen in zwei große Lager. Diejenigen, die die Ursprünglichkeit des Geistes gegenüber der Natur behaupteten, also in letzter Instanz eine Weltschöpfung irgendeiner Art annahmen..., bildeten das Lager des Idealismus. Die ändern, die die Natur als das Ursprüngliche ansahen, gehören zu den verschiednen Schulen des Materialismus, "16 Jeder andere Gebrauch der Begriffe Idealismus und Materialismus (im philosophischen Sinne) stiftet nur Verwirrung. Marx verwarf entschieden nicht nur den in dieser oder jener Weise stets mit der Religion verbundenen Idealismus, sondern auch den in unseren Tagen besonders verbreiteten Standpunkt von Hume und Kant, den Agnostizismus, Kritizismus, Positivismus in verschiedenen Lesarten; eine Philosophie dieser Art galt ihm als „reaktionäre" Konzession an den Idealismus und im besten Falle als „verschämte Weise, den Materialismus hinterrücks zu akzeptieren und vor der Welt zu verleugnen". Siehe zu dieser Frage außer den schon genannten Schriften von Engels und Marx den an Engels gerichteten Marxschen Brief vom 12. Dezember 1868, in dem Marx feststellt, daß der bekannte Naturforscher Th. Huxley „materialistischer" als sonst bei ihm üblich auf getreten sei und zugegeben habe: „Solange wir wirklich beobachten und denken, können wir nie aus dem Materialismus hinaus"; zugleich wirft Marx ihm vor, er habe sich eine „Hintertür" zum Agnostizismus, Humeismus geöffnet,17 Besonders hervorgehoben werden muß Marx' Auffassung über das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit: „Blind ist die Notwendigkeit nur, insofern dieselbe nicht begriffen wird... Die Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit" (Engels im „Anti-Dühring"18) == Anerkennung der objektiven Gesetzmäßigkeit der Natur und der dialektischen Verwandlung der Notwendigkeit in die Freiheit (zugleich mit der Verwandlung des unerkannten, aber erkennbaren „Dings an sich" in ein „Ding für uns", des „Wesens der Dinge" in „Erscheinungen"), Den Hauptmangel des „alten" Materialismus, darunter des Feuerbachschen (und erst recht des „vulgären" Materialismus der Büchner, Vogt und Moleschott), sahen Marx und Engels darin: 1. daß dieser Materialismus ein „vorwiegend mechanischer" war, der die neueste Entwicklung der Chemie und Biologie (in unseren Tagen wäre noch hinzuzufügen: der elektrischen Theorie der Materie) nicht berücksichtigte; 2. daß der alte Materialismus unhistorisch, undialektisch war (metaphysisch im Sinne von Antidialektik) und den Standpunkt der Entwicklung nicht konsequent und allseitig zur Geltung brachte; 3. daß man „das menschliche Wesen" als Abstraktum und nicht als „das Ensemble der" (konkret-historisch bestimmten) „gesellschaftlichen Verhältnisse" auffaßte und deshalb die Welt nur „interpretierte", während es darauf ankommt, sie „zu verändern", d.h., daß man die Bedeutung der „revolutionären, der praktischen Tätigkeit" nicht begriff.

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Die Dialektik

In der Hegelschen Dialektik als der umfassendsten, inhaltsreichsten und tiefsten Entwicklungslehre sahen Marx und Engels die größte Errungenschaft der klassischen deutschen Philosophie. Jede andere Formulierung des Prinzips der Entwicklung, der Evolution, hielten sie für einseitig und inhaltsarm, für eine Entstellung und Verzerrung des wirklichen Verlaufs der (sich nicht selten in Sprüngen, Katastrophen, Revolutionen vollziehenden) Entwicklung in Natur und Gesellschaft. „Marx und ich waren wohl ziemlich die einzigen, die... die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur... hinübergerettet hatten" (aus der Zerschlagung des Idealismus, einschließlich des Hegelianertums). „Die Natur ist die Probe auf die Dialektik, und wir müssen es der modernen Naturwissenschaft nachsagen, daß sie für diese Probe ein äußerst reichliches" (geschrieben vor der Entdeckung des Radiums, der Elektronen, der Verwandlung der Elemente u.dgl. m.!), „sich täglich häufendes Material geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht."

„Der große Grundgedanke", schreibt Engels, „daß die Welt nicht als ein Komplex von fertigen Dingen zu fassen ist, sondern als ein Komplex von Prozessen, worin die scheinbar stabilen Dinge, nicht minder wie ihre Gedankenabbilder in unserm Kopf, die Begriffe, eine ununterbrochene Veränderung des Werdens und Vergehens durchmachen... — dieser große Grundgedanke ist, namentlich seit Hegel, so sehr in das gewöhnliche Bewußtsein übergegangen, daß er in dieser Allgemeinheit wohl kaum noch Widerspruch findet. Aber ihn in der Phrase anerkennen und ihn in der Wirklichkeit im einzelnen auf jedem zur Untersuchung kommenden Gebiet durchführen, ist zweierlei." „Vor ihr" (der dialektischen Philosophie) „besteht nichts Endgültiges, Absolutes, Heiliges; sie weist von allem und an allem die Vergänglichkeit auf, und nichts besteht vor ihr als der ununterbrochne Prozeß des Werdens und Vergehens, des Aufsteigens ohne Ende vom Niedern zum Hohem, dessen bloße Widerspiegelung im denkenden Hirn sie selbst ist." Demnach ist die Dialektik nach Marx „die Wissenschaft von den allgemeinen Gesetzen der Bewegung, sowohl der äußern Welt wie des menschlichen Denkens".19

Diese, die revolutionäre Seite der Hegelschen Philosophie wurde von Marx übernommen und Weiterentwickelt. Der dialektische Materialismus „braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr". Was von der bisherigen Philosophie noch bestehenbleibt, ist „die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen — die formelle Logik und die Dialektik".20 Die Dialektik in der Marxschen ebenso wie in der Hegelschen Auffassung schließt aber in sich das ein, was man heute Erkenntnistheorie, Gnoseologie nennt, die ihren Gegenstand gleichfalls historisch betrachten muß, indem sie die Entstehung und Entwicklung der Erkenntnis, den Übergang von der Unkenntnis zur Erkenntnis erforscht und verallgemeinert.

In unserer Zeit ist die Idee der Entwicklung, der Evolution, nahezu restlos in das gesellschaftliche Bewußtsein eingegangen, jedoch auf anderen Wegen, nicht über die Philosophie Hegels. Allein in der Formulierung, die ihr Marx und Engels, ausgehend von Hegel, gegeben haben, ist diese Idee viel umfassender, viel inhaltsreicher als die landläufige Evolutionsidee. Eine Entwicklung, die die bereits durchlaufenen Stadien gleichsam noch einmal durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe („Negation der Negation"), eine Entwicklung, die nicht geradlinig, sondern sozusagen in der Spirale vor sich geht; eine sprunghafte, mit Katastrophen verbundene, revolutionäre Entwicklung; „Abbrechen der Allmählichkeit"; Umschlagen der Quantität in Qualität; innere Entwicklungsantriebe, ausgelöst durch den Widerspruch, durch den Zusammenprall der verschiedenen Kräfte und Tendenzen, die auf einen gegebenen Körper einwirken oder in den Grenzen einer gegebenen Erscheinung oder innerhalb einer gegebenen Gesellschaft wirksam sind; gegenseitige Abhängigkeit und engster, unzertrennlicher Zusammenhang aller Seiten jeder Erscheinung (wobei die Geschichte immer neue Seiten erschließt), ein Zusammenhang, der einen einheitlichen, gesetzmäßigen Weltprozeß der Bewegung ergibt — das sind einige Züge der Dialektik als der (im Vergleich zur üblichen) inhaltsreicheren Entwicklungslehre. (Vgl. Marx' Brief an Engels vom 8. Januar 186821 mit dem Spott über Steins „hölzerne Trichotomien", die mit der materialistischen Dialektik zu verwechseln Unsinn wäre.)

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Die materialistische Geschichtsauffassung

Die Erkenntnis der Inkonsequenz, Unzulänglichkeit und Einseitigkeit des alten Materialismus brachte Marx zu der Überzeugung von der Notwendigkeit, „die Wissenschaft von der Gesellschaft... mit der materialistischen Grundlage in Einklang zu bringen und auf ihr zu rekonstruieren"22. Erklärt der Materialismus überhaupt das Bewußtsein aus dem Sein, und nicht umgekehrt, so forderte der Materialismus in seiner Anwendung auf das gesellschaftliche Leben der Menschheit die Erklärung des gesellschaftlichen Bewußtseins aus dem gesellschaftlichen Sein. „Die Technologie", sagt Marx („Das Kapital", I23), „enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen." Eine abgeschlossene Formulierung der Grundsätze des Materialismus, ausgedehnt auf die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte, gab Marx im Vorwort zu seinem Werk „Zur Kritik der politischen Ökonomie" in folgenden Worten:

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen.

Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.

So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären... In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. "24 (Vgl. Marx' kurze Formulierungen in seinem Brief an Engels vom 7. Juli 1866: „Unsre Theorie von der Bestimmung der Arbeitsorganisation durch das Produktionsmittel."25)

Die Entdeckung der materialistischen Geschichtsauffassung oder richtiger: die konsequente Fortführung, die Ausdehnung des Materialismus auf das Gebiet der gesellschaftlichen Erscheinungen hat zwei Hauptmängel der früheren Geschichtstheorien beseitigt. Diese hatten erstens im besten Falle nur die ideellen Motive des geschichtlichen Handelns der Menschen zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, ohne nachzuforschen, wodurch diese Motive hervorgerufen werden, ohne die objektive Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung des Systems der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erfassen, ohne die Wurzeln dieser Verhältnisse im Entwicklungsgrad der materiellen Produktion zu erblicken; zweitens hatten die früheren Theorien gerade die Handlungen der Massen der Bevölkerung außer acht gelassen, während der historische Materialismus zum erstenmal die Möglichkeit gab, mit naturgeschichtlicher Exaktheit die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Massen sowie die Veränderung dieser Bedingungen zu erforschen. Die „Soziologie" und die Geschichtsschreibung vor Marx hatten im besten Falle eine Anhäufung von fragmentarisch gesammelten unverarbeiteten Tatsachen und die Schilderung einzelner Seiten des historischen Prozesses geliefert. Der Marxismus wies den Weg zur allumfassenden, allseitigen Erforschung des Prozesses der Entstehung, der Entwicklung und des Verfalls der ökonomischen Gesellschaftsformationen, indem er die Gesamtheit aller widerstreitenden Tendenzen untersuchte, diese auf die exakt bestimmbaren Lebens- und Produktionsverhältnisse der verschiedenen Klassen der Gesellschaft zurückführte, den Subjektivismus und die Willkür bei der Auswahl bzw. Auslegung der einzelnen „herrschenden" Ideen ausschaltete und die Wurzeln ausnahmslos aller Ideen und aller verschiedenen Tendenzen im gegebenen Stand der materiellen Produktivkräfte aufdeckte. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst; aber wodurch die Motive der Menschen und namentlich der Massen der Menschen bestimmt, wodurch die Zusammenstöße der widerstreitenden Ideen und Bestrebungen verursacht werden, was die Gesamtheit aller dieser Zusammenstöße der ganzen Masse der menschlichen Gesellschaften darstellt, was die objektiven Produktionsbedingungen des materiellen Lebens sind, die die Basis für alles geschichtliche Handeln der Menschen schaffen, welcherart das Entwicklungsgesetz dieser Bedingungen ist — auf all dies lenkte Marx die Aufmerksamkeit und wies so den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte als eines einheitlichen, in all seiner gewaltigen Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit gesetzmäßigen Prozesses.

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Der Klassenkampf

Daß die Bestrebungen der einen Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft den Bestrebungen der anderen zuwiderlaufen, daß das gesellschaftliche Leben voller Widersprüche ist, daß uns die Geschichte den Kampf zwischen Völkern und Gesellschaften wie auch den Kampf innerhalb derselben zeigt und außerdem noch den Wechsel der Perioden von Revolution und Reaktion, Frieden und Kriegen, Stagnation und schnellem Fortschritt oder Verfall — das sind allgemein bekannte Tatsachen. Der Marxismus gab uns den Leitfaden, der in diesem scheinbaren Labyrinth und Chaos eine Gesetzmäßigkeit zu entdecken erlaubt: die Theorie des Klassenkampfes. Nur die Untersuchung der Gesamtheit der Bestrebungen aller Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft oder einer Gruppe von Gesellschaften ermöglicht es, das Resultat dieser Bestrebungen wissenschaftlich zu bestimmen. Der Ursprung der gegensätzlichen Bestrebungen liegt aber in der Verschiedenheit der Lage und der Lebensbedingungen der Klassen, in die jede Gesellschaft zerfällt. „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft", schreibt Marx im „Kommunistischen Manifest" (mit Ausnahme der Geschichte der ursprünglichen Gemeinwesen, fügt Engels nachträglich hinzu), „ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigner, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen... Die aus dem Untergange der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.26 Seit der großen französischen Revolution hat die Geschichte Europas mit besonderer Anschaulichkeit in einer Reihe von Ländern diesen wirklichen Hintergrund der Ereignisse, den Kampf der Klassen, enthüllt. Und schon die Restaurationsepoche in Frankreich brachte eine Reihe von Historikern (Thierry, Guizot, Mignet, Thiers) hervor, die bei der Verallgemeinerung der Geschehnisse nicht umhinkonnten, den Kampf der Klassen als den Schlüssel zum Verständnis der ganzen französischen Geschichte anzuerkennen. Die jüngste Epoche aber, die Epoche des vollen Sieges der Bourgeoisie, der Vertretungskörperschaften, des weitgehenden (wenn nicht allgemeinen) Wahlrechts, der billigen, in die Massen dringenden Tagespresse usw., die Epoche der mächtigen, sich immer mehr ausbreitenden Arbeiterverbände und Unternehmerverbände usw., zeigte noch anschaulicher (wenn auch mitunter in sehr einseitiger, „friedlicher", „konstitutioneller" Form) den Kampf der Klassen als die Triebfeder der Ereignisse. Die folgende Stelle aus dem Marxschen „Kommunistischen Manifest" wird uns zeigen, welche Forderungen nach einer objektiven Analyse der Stellung jeder Klasse in der modernen Gesellschaft, im Zusammenhang mit der Analyse der Entwicklungsbedingungen jeder Klasse, Marx an die Gesellschaftswissenschaft stellte: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt. Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, denn sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen." In einer Reihe von historischen Schriften (siehe Literaturverzeichnis) gab uns Marx glänzende und tiefschürfende Musterbeispiele der materialistischen Geschichtsschreibung, der Analyse der Stellung jeder einzelnen Klasse, manchmal auch verschiedener Gruppen oder Schichten innerhalb der Klasse, und wies augenfällig nach, wie und warum „jeder Klassenkampf ein politischer Kampf" ist. Der von uns angeführte Auszug zeigt, welch kompliziertes Netz von gesellschaftlichen Verhältnissen und Übergangsstufen von einer Klasse zur anderen, von der Vergangenheit zur Zukunft Marx analysiert, um die Resultante der ganzen historischen Entwicklung zu ermitteln.

Die tiefgründigste, umfassendste und detaillierteste Bestätigung und Anwendung der Theorie von Marx ist seine ökonomische Lehre.



Datum der letzten Änderung : Jena, den: 12.09.2013