System aller Grundsätze des reinen Verstandes | Inhalt | Vom obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile

Erster Abschnitt
DAS SYSTEM DER GRUNDSÄTZE
DES REINEN VERSTANDES

Vom obersten Grundsatz aller analytischen Urteile

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Von welchem Inhalt auch unsere Erkenntnis sei und wie sie sich auf das Objekt beziehen mag, so ist doch die allgemeine, obzwar nur negative Bedingung aller unserer Urteile überhaupt, daß sie sich nicht selbst widersprechen, widrigenfalls diese Urteile an sich selbst (auch ohne Rücksicht aufs Objekt) nichts sind. Wenn aber auch gleich in unserm Urteil kein Widerspruch ist, so kann es demohngeachtet doch Begriffe so verbinden, wie es der Gegenstand nicht mit sich bringt, oder auch, ohne daß uns irgendein Grund weder a priori noch a posteriori gegeben ist, welcher ein solches Urteil berechtigte, und so kann ein Urteil bei allem dem, daß es von allem innern Widerspruch frei ist, doch entweder falsch oder grundlos sein.

Der Satz nun »Keinem Ding kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht« heißt der Satz des Widerspruchs und ist ein allgemeines, obzwar bloß negatives Kriterium aller Wahrheit, gehört aber auch darum bloß in die Logik, weil er von Erkenntnissen, bloß als Erkenntnissen überhaupt, unangesehen ihres Inhalts gilt, und sagt, daß der Widerspruch sie gänzlich vernichtet und aufhebe.

Man kann aber doch von demselben auch einen positiven Gebrauch machen, d. i. nicht bloß um Falschheit und Irrtum (sofern

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er auf dem Widerspruch beruht) zu verbannen, sondern auch Wahrheit zu erkennen. Denn wenn das Urteil analytisch ist, es mag nun verneinend oder bejahend sein, so muß dessen Wahrheit jederzeit nach dem Satz des Widerspruchs hinreichend erkannt werden können. Denn von dem, was in der Erkenntnis des Objekts schon als Begriff liegt und gedacht wird, wird das Widerspiel jederzeit richtig verneint, der Begriff selber aber notwendig von ihm bejaht werden müssen, darum, weil das Gegenteil desselben dem Objekt widersprechen würde.

Daher müssen wir auch den Satz des Widerspruchs als das allgemeine und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkenntnissen lassen; aber weitergehen auch sein Ansehen und seine Brauchbarkeit nicht als eines hinreichenden Kriteriums der Wahrheit. Denn daß ihm gar keine Erkenntnis zuwider sein könne, ohne sich selbst zu vernichten, das macht diesen Satz wohl zur conditio sine qua non, aber nicht zum Bestimmungsgrund der Wahrheit unserer Erkenntnis. Da wir es nun eigentlich nur mit dem synthetischen Teil unserer Erkenntnis zu tun haben, so werden wir zwar jederzeit bedacht sein, diesem unverletzlichen Grundsatz niemals zuwiderzuhandeln, von ihm aber, in Ansehung der Wahrheit von dergleichen Art der Erkenntnis, niemals einigen Aufschluß gewärtigen können.

Es ist aber doch eine Formel dieses berühmten, obzwar von allem Inhalt entblößten und bloß formalen Grundsatzes, die eine Synthesis enthält, welche aus Unvorsichtigkeit und ganz unnötigerweise in ihr gemischt worden ist. Sie heißt: es ist unmöglich, daß etwas zugleich sei und nicht sei. Außerdem, daß hier die apodiktische Gewißheit (durch das Wort unmöglich) überflüssigerweise angehängt worden ist, die sich doch von selbst aus dem Satz verstehen lassen muß, so ist der Satz durch die Bedingung der Zeit affiziert und sagt gleichsam: Ein Ding = A, welches etwas = B ist, kann nicht zu gleicher Zeit non B sein; aber es kann gar wohl beides (B sowohl als non B) nacheinander sein. Z. B. ein Mensch, der jung ist, kann nicht zugleich alt sein, ebenderselbe kann aber sehr wohl zu einer Zeit jung, zur anderen nicht jung, d. i. alt sein. Nun muß der Satz des Widerspruchs als ein bloß logischer Grundsatz seine Aussprüche gar nicht auf die Zeitverhältnisse einschränken, daher ist eine solche Formel der Absicht desselben ganz zuwider. Der Mißverstand kommt bloß daher, daß man ein Prädikat eines Dings zuvörderst von dem Begriff desselben absondert und nachher sein Gegenteil mit diesem Prädikat verknüpft, welches nie-

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mals einen Widerspruch mit dem Subjekt, sondern nur mit dessen Prädikat, welches mit jenem synthetisch verbunden worden ist, abgibt, und zwar nur dann, wenn das erste und zweite Prädikat zu gleicher Zeit gesetzt werden. Sage ich, ein Mensch, der ungelehrt ist, ist nicht gelehrt, so muß die Bedingung »zugleich« dabeistehen; denn der, so zu einer Zeit ungelehrt ist, kann zu einer anderen gar wohl gelehrt sein. Sage ich aber, kein ungelehrter Mensch ist gelehrt, so ist der Satz analytisch, weil das Merkmal (der Ungelahrtheit) nunmehr den Begriff des Subjekts mit ausmacht, und alsdann erhellt der verneinende Satz unmittelbar aus dem Satz des Widerspruchs, ohne daß die Bedingung »zugleich« hinzukommen darf. Dieses ist denn auch die Ursache, weswegen ich oben die Formel desselben so verändert habe, daß die Natur eines analytischen Satzes dadurch deutlich ausgedrückt wird.


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Datum der letzten Änderung : Jena, den: 17.01. 2015