Von der transzendentalen Logik | Inhalt | Von der Einteilung der transzendentalen Logik in die transzendentale Analytik und Dialektik

III. Von der Einteilung der allgemeinen Logik in Analytik und Dialektik

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Die alte und berühmte Frage, mit der man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte und sie dahin zu bringen suchte, daß sie sich entweder auf einer elenden Diallele betreffen lassen mußten oder ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen sollten, ist diese: Was ist Wahrheit? Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei.

Es ist schon ein großer und notiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftigerweise fragen solle. Denn wenn die Frage an sich ungereimt ist und unnötige Antworten verlangt, so hat sie, außer der Beschämung dessen, der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachteil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten und den belachenswerten Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andere ein Sieb unterhält.

Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von ändern unterschieden werden; denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstand, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, obgleich sie etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten könnte. Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit das sein, das von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Objekt) abstrahiert und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt ist, nach einem Merkmal der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu tragen, und daß also ein hinreichendes und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne. Da wir oben schon den Inhalt einer Erkenntnis ihre Materie genannt haben, so wird man sagen müssen: Von der Wahrheit der Erkenntnis der Materie nach läßt sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen, weil es in sich selbst widersprechend ist.

Was aber die Erkenntnis der bloßen Form nach (mit Beiseitesetzung alles Inhalts) betrifft, so ist ebenso klar, daß eine Logik,

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sofern sie die allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes vorträgt, eben in diesen Regeln Kriterien der Wahrheit darlegen müsse. Denn was diesen widerspricht, ist falsch, weil der Verstand dabei seinen allgemeinen Regeln des Denkens, mithin sich selbst widerstreitet. Diese Kriterien aber betreffen nur die Form der Wahrheit, d. i. des Denkens überhaupt und sind sofern ganz richtig, aber nicht hinreichend. Denn obgleich eine Erkenntnis der logischen Form völlig gemäß sein möchte, d. i. sich selbst nicht widerspräche, so kann sie doch noch immer dem Gegenstand widersprechen. Also ist das bloß logische Kriterium der Wahrheit, nämlich die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zwar die Conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit; weiter aber kann die Logik nicht gehen, und den Irrtum, der nicht die Form, sondern den Inhalt trifft, kann die Logik durch keinen Probierstein entdecken.

Die allgemeine Logik löst nun das ganze formale Geschäft des Verstandes und der Vernunft in seine Elemente auf und stellt sie als Prinzipien aller logischen Beurteilung unserer Erkenntnis dar. Dieser Teil der Logik kann daher Analytik heißen und ist ebendarum der wenigstens negative Probierstein der Wahrheit, indem man zuvor alle Erkenntnis ihrer Form nach an diesen Regeln prüfen und schätzen muß, ehe man sie selbst ihrem Inhalt nach untersucht, um auszumachen, ob sie in Ansehung des Gegenstands positive Wahrheit enthalten. Weil aber die bloße Form des Erkenntnisses, sosehr sie auch mit logischen Gesetzen übereinstimmen mag, noch lange nicht hinreicht, materielle (objektive) Wahrheit der Erkenntnis darum auszumachen, so kann sich niemand bloß mit der Logik wagen, über Gegenstände zu urteilen und irgend etwas zu behaupten, ohne von ihnen vorher begründete Erkundigung außer der Logik eingezogen zu haben, um hernach bloß ihre Benutzung und ihre Verknüpfung in einem zusammenhängenden Ganzen nach logischen Gesetzen zu versuchen, noch besser aber, sie lediglich darnach zu prüfen. Gleichwohl liegt so etwas Verleitendes in dem Besitz einer so scheinbaren Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, obgleich man in Ansehung ihres Inhalts noch sehr leer und arm sein mag, daß jene allgemeine Logik, die bloß ein Kanon zur Beurteilung ist, gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringung wenigstens des Blendwerks von objektiven Behauptungen gebraucht und mithin in der Tat dadurch

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gemißbraucht wurde. Die allgemeine Logik nun als vermeintes Organon heißt Dialektik.

So verschieden auch die Bedeutung ist, in der sich die Alten dieser Benennung einer Wissenschaft oder Kunst bedienten, so kann man doch aus ihrem wirklichen Gebrauch sicher abnehmen, daß sie bei ihnen nichts anderes war als die Logik des Scheins, eine sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben, daß man die Methode der Gründlichkeit, welche die Logik überhaupt vorschreibt, nachahmte und ihre Topik zur Beschönigung jedes leeren Vorgebens benutzte. Nun kann man es als eine sichere und brauchbare Warnung anmerken, daß die allgemeine Logik, als Organon betrachtet, jederzeit eine Logik des Scheins, d. i. dialektisch sei. Denn da sie uns gar nichts über den Inhalt der Erkenntnis lehrt, sondern nur bloß die formalen Bedingungen der Übereinstimmung mit dem Verstand, die übrigens in Ansehung der Gegenstände gänzlich gleichgültig sind, so muß die Zumutung, sich derselben als eines Werkzeugs (Organon) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse, wenigstens dem Vorgeben nach, auszubreiten und zu erweitern, auf nichts als Geschwätzigkeit hinauslaufen, alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten oder auch nach Belieben anzufechten.

Eine solche Unterweisung ist der Würde der Philosophie auf keine Weise gemäß. Deshalb hat man diese Benennung der Dialektik lieber als eine Kritik des dialektischen Scheins der Logik beigezählt, und als eine solche wollen wir sie auch hier verstanden wissen.




Datum der letzten Änderung : Jena, den : 20.07.2014