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Zerrüttung der Familie
1. Das Wachstum der Ehescheidungen
Auch Staat und Kirche spielen bei einer solchen "heiligen Ehe" eine keineswegs hübsche Rolle. Mag der staatliche Beamte oder der Geistliche, dem die Eheschließung obliegt, überzeugt sein, daß das vor ihm stehende Brautpaar durch die schmutzigsten Praktiken zueinander geführt wurde; mag es offenbar sein, daß beide weder nach ihrem Alter noch nach ihren körperlichen oder geistigen Eigenschaften zueinander passen; mag zum Beispiel die Braut zwanzig, der Bräutigam siebzig Jahre alt sein oder umgekehrt; mag die Braut jung, schön, lebenslustig, der Bräutigam alt, mit Gebresten behaftet, mürrisch sein, den Vertreter des Staats oder der Kirche ficht es nicht an. Der Ehebund wird "gesegnet", und mit um so größerer Feierlichkeit gesegnet, je reichlicher die Bezahlung für die "heilige Handlung" fließt.
Stellt sich aber nach einiger Zeit heraus, daß eine solche Ehe, wie jedermann vorausgesehen und das unglückliche Opfer, das in der Mehrzahl der Fälle die Frau ist, selbst voraussah, eine höchst unglückliche wurde, und entschließt sich der eine Teil zur Trennung, dann erheben Staat wie Kirche, die vorher nicht fragen, ob Liebe und moralische Triebe oder nackter, schmutziger Egoismus das Band knüpfte, die größten Schwierigkeiten. Jetzt wird nicht als genügender Grund für die Trennung der moralische Abscheu angesehen, jetzt werden handgreifliche Beweise verlangt, Beweise, die den einen Teil in der öffentlichen Meinung entehren oder herabsetzen, sonst wird die Trennung nicht ausgesprochen. Daß die katholische Kirche die Ehescheidung überhaupt nicht zuläßt, es sei denn durch besonderen Dispens des Papstes, der sehr schwer zu erlangen ist und äußerstenfalle sich nur zu einer Trennung von Tisch und Bett versteht, verschlimmer
den Zustand, unter dem alle katholischen Bevölkerungen leiden. Auch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch hat die Ehescheidung bedeutend erschwert. So ist die Ehescheidung auf gegenseitige Einwilligung, die zum Beispiel nach dem preußischen Landrecht zulässig war, weggefallen, eine Bestimmung, auf Grund deren eine erhebliche Zahl von Ehescheidungen ausgesprochen wurde, häufig auch solche, bei denen viel gravierendere Ursachen vorlagen, die aber aus Rücksicht auf die Schädigung des schuldigen Teils verschwiegen wurden. So kamen zum Beispiel in Berlin unter 5.623 Ehescheidungsfällen, die von 1886 bis 1892 verhandelt wurden, 1.400, rund 25 Prozent, auf gegenseitige Einwilligung. In zahlreichen Fällen kann die Ehescheidung nur eintreten, wenn der Antrag innerhalb sechs Monaten von dem Zeitpunkt an, in dem der klagende Ehegatte von dem Scheidungsgrund Kenntnis erlangte, gestellt wird (§ 1565 bis 1568 BGB). Nach dem preußischen Landrecht währte der Termin ein Jahr. Man nehme zum Beispiel den Fall an, eine junge Ehefrau entdeckt kurz nach der Ehe, daß sie einen Mann ehelichte, der kein Ehemann ist. Da ist es ihr unter Umständen viel zugemutet, innerhalb sechs Monaten den Scheidungsantrag zu stellen, zu dem eine gewisse moralische Stärke gehört. Als Grund für die Erschwerungen wurde angeführt: "Nur durch möglichste Erschwerung der Ehescheidung könne man der fortschreitenden Auflösung der Familie entgegentreten und die Familie neu festigen." Das ist eine Begründung, die an innerem Widerspruch leidet. Eine zerrüttete Ehe wird dadurch nicht wieder erträglich, daß man die Ehegatten zwingt, trotz innerlicher Entfremdung und gegenseitigem Widerwillen beisammen zu bleiben. Ein solcher Zustand, vom Gesetz gestützt, ist durch und durch unmoralisch. Die Folge ist, daß in soundso vielen Fällen ein Ehebruchsgrund, den der Richter beachten muß, geschaffen wird, wodurch weder Staat noch Gesellschaft gewinnen. Eine Konzession an die katholische Kirche ist es auch, daß man die Scheidung von Tisch und Bett aufnahm, die dem früheren bürgerlichen Recht fremd war. Auch ist es kein Ehescheidungsgrund mehr, wenn durch Verschulden des einen Teiles die Ehe kinderlos bleibt. Daß man auch die Bestimmung in das Bürgerliche Gesetzbuch aufnahm (§ 1588): "Die kirchlichen Verpflichtungen in Ansehung der Ehe werden durch die Vorschriften dieses Abschnitts (über die Ehe) nicht berührt", ist ebenfalls eine Konzession an die Kirchen; sie hat zwar nur eine mehr dekorative Bedeutung, sie charakterisiert aber den
Geist, der zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland herrscht. Uns genügt das Zugeständnis, daß man die Ehescheidung erschwert, um der fortschreitenden Auflösung der Familie entgegenzuarbeiten.
Es bleiben also Menschen wider ihren Willen ihr Leben lang aneinandergekettet. Der eine Teil wird zum Sklaven des anderen und gezwungen, sich den intimsten Umarmungen des anderen Teiles aus "ehelicher Pflicht" zu unterwerfen, die er vielleicht mehr verabscheut als Schimpfworte und schlechte Behandlung. Mit vollem Recht sagt Mantegazza: "Es gibt wohl keine größere Tortur als die, welche ein menschliches Wesen zwingt, sich die Liebkosungen einer ungeliebten Person gefallen zu lassen ..."(1) Ist eine solche Ehe nicht schlimmer als Prostitution? Die Prostituierte hat bis zu einem gewissen Grade die Freiheit, sich ihrem schmählichen Gewerbe zu entziehen, und sie hat, wenn sie nicht in einem öffentlichen Hause lebt, das Recht, den Kauf der Umarmung desjenigen zurückzuweisen, der ihr aus irgendeinem Grunde nicht zusagt. Aber eine verkaufte Ehefrau muß sich die Umarmungen ihres Mannes gefallen lassen, habe sie auch hundert Gründe, ihn zu hassen und zu verachten.
Ist von vornherein die Ehe, mit Wissen beider Teile, als Geld- oder Standesehe geschlossen, dann liegt die Sache günstiger. Man akkommodiert sich gegenseitig und trifft einen modus vivendi. Man will keinen Skandal, und namentlich zwingt die Rücksicht auf etwa vorhandene Kinder, ihn zu vermeiden, obgleich es gerade diese sind, die unter einem kalten, liebeleeren Leben der Eltern am meisten leiden, auch wenn es nicht in offene Feindschaft, Zank und Hader übergeht. Noch häufiger akkommodiert man sich, um materiellen Schaden zu verhüten. In der Regel ist es der Mann, dessen Verhalten in der Ehe den Stein des Anstoßes bildet, das zeigen die Ehescheidungsprozesse. Kraft seiner Herrschaftsstellung weiß er sich anderwärts zu entschädigen, wenn die Ehe ihm nicht zusagt und er in ihr keine Befriedigung findet. Die Frau kann Abwege weit weniger betreten, einmal aus physiologischen Gründen, weil, als empfangender Teil, das weit gefährlicher für sie ist, dann weil jede Übertretung ehelicher Treue ihr als Verbrechen angerechnet wird, das auch die Gesellschaft nicht verzeiht. Die Frau allein begeht einen "Fehltritt" - sei sie Ehefrau, Witwe oder Jung-
(1) Die Physiologie der Liebe.
frau -, der Mann handelt im gleichen Falle höchstens "inkorrekt". Es wird also ein und dieselbe Handlung ganz verschieden beurteilt, je nachdem sie ein Mann oder eine Frau begeht, und die Frauen selbst urteilen in der Regel über eine "gefallene" Schwester am härtesten und unbarmherzigsten.(2)
In der Regel wird die Frau nur in Fällen schwerster männlicher Untreue oder Mißhandlung sich entschließen, die Scheidung zu beantragen, weil sie meist in einer materiell abhängigen Lebenslage sich befindet und gezwungen ist, die Ehe als Versorgungsanstalt anzusehen; dann weil sie sich als geschiedene Frau gesellschaftlich in keiner beneidenswerten Lage befindet. Sie wird sozusagen als Neutrum angesehen und behandelt. Gehen dennoch die meisten Ehescheidungsklagen von Frauen aus, so ist dies ein Beweis, unter welch moralischer Tortur sie leiden. In Frankreich stellten schon die Frauen, bevor noch die neuere Ehescheidungsgesetzgebung in Kraft trat (1884), die weitaus meisten Anträge auf Trennung von Tisch und Bett. Auf Ehescheidung konnten sie gegen den Mann nur klagen, falls dieser die Frau, mit der er intimen Umgang pflog, gegen den Willen der Ehefrau in die eheliche Wohnung aufnahm. So wurden Anträge auf Trennung von Tisch und Bett gestellt durchschnittlich pro Jahr von:
1856-1861 | 1861-1866 | 1866-1871 | 1901-1905 | |
Frauen | 1.729 | 2.135 | 2.591 | 2.368 |
Männern | 184 | 260 | 330 | 591 |
Aber die Frauen stellten nicht allein die weitaus meisten Anträge, die Zahlen zeigen auch, daß dieselben von Periode zu Periode zunehmen. Auch anderwärts zeigt sich, soweit uns zuverlässige Mitteilungen vorliegen, daß die Anträge auf Ehescheidung in der Mehrzahl von der Frau ausgehen. Die folgende Tabelle ermöglicht diesen Vergleich.(3)
(3) Georg v. Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre. 3. Band, S. 255. Tübingen 1909.
Prozentanteile der Klagen | ||||
in den Jahren | des Mannes | der Frau | Beider Ehegatten | |
Scheidungen | ||||
Österreich | 1893-1897 | 4,4 | 5,0 | 90,6 |
Rumänien | 1891-1895 | 30,6 | 68,9 | 0,5 |
Schweiz | 1895-1899 | 26,4 | 45,4 | 8,2 |
Frankreich | 1895-1899 | 40,0 | 59,1 | - |
Baden | 1895-1899 | 36,0 | 59,1 | 4,9 |
England und Wales | 1895-1899 | 60,4 | 39,6 | - |
Schottland | 1898-1899 | 43,3 | 56,7 | - |
Trennungen | ||||
Österreich | 1897-1899 | 4,9 | 16,6 | 78,5 |
Frankreich | 1895-1899 | 15,9 | 84,1 | - |
England und Wales | 1895-1899 | 3,0 | 97,0 | - |
Schottland | 1898-1899 | - | 100 | - |
In den Vereinigten Staaten, wo wir jetzt eine Statistik haben, die sich über vierzig Jahre erstreckt, verteilen sich die Ehescheidungsklagen wie folgt:
1867-1886 | Prozent | 1887-1905 | Prozent | 1906 | Prozent | |
Von Männern | 112.540 | 34,2 | 316.149 | 33,4 | 23.455 | 32,5 |
Von Frauen | 216.176 | 65,8 | 629.476 | 66,6 | 48.607 | 67,5 |
align="right">Zusammen | 328.716 | 100 | 945.625 | 100 | 72.062 | 100 |
Wir sehen also, daß die Frauen mehr als zwei Drittel aller Anträge auf Ehescheidung stellten.(4) Und ein ähnliches Bild zeigt uns Italien. Es wurden dort in den Jahren 1887 und 1904 1.221 und 2.103 Ehescheidungsklagen erledigt. Von diesen hatten die Frau 593 und 1.142, der Mann 214 und 454, beide Ehegatten 414 und 507 veranlaßt.
Die Statistik belehrt uns aber nicht allein, daß die Frauen die meisten Anträge auf Ehescheidung stellen, sie belehrt uns auch, daß die Zahl der Ehescheidungen in rascher Zunahme begriffen ist. In Frankreich ist seit 1884 die Ehescheidung gesetzlich neu geregelt, und seitdem haben die Ehescheidungen von Jahr zu Jahr erheblich zugenommen. Es fielen Ehescheidungen in die Jahre: 1884: 1.657, 1885: 4.123, 1890: 6.557, 1895: 7.700, 1900: 7.820, 1905: 10.019, 1906: 10.573, 1907: 10.938.
Auch in der Schweiz sind die Ehescheidungen im Steigen. Im Jahresdurchschnitt von 1886 bis 1890 wurden durchschnittlich 882 Ehen
(2) Alexandre Dumas sagt sehr richtig in "Monsieur Alphonse": "Der Mann hat zwei Arten von Moral gemacht: eine für sich selbst, eine für das Weib; eine, die ihm die Liebe mit allen Frauen erlaubt, und eine, die der Frau als Ersatz für ihre auf immer verlorene Freiheit die Liebe mit bloß einem Manne gestattet." Siehe auch Selbstanklage Gretchens im Faust.
(4) Marriage and divorce. 1887 bis 1906. Bureau of the Census. Bulletin 96, S. 12. Washington 1908.
geschieden, im Jahresdurchschnitt von 1891 bis 1895: 898, 1897: 1.011, 1898: 1.018, 1899: 1.091, 1905: 1.206, 1906: 1.345.
In Österreich kam es im Jahre 1899 zu 856 Ehescheidungen und 133 Ehetrennungen, 1900: 1.310 und 163, 1905: 1.885 und 262. Es hat sich also im .Laufe eines Jahrzehntes die Zahl der Ehescheidungen und Ehetrennungen mehr als verdoppelt. In Wien fanden 1870 bis 1871 148 Ehescheidungen statt, sie stiegen Jahr für Jahr und beliefen sich 1878 bis 1879 auf 319 Fälle. Aber in Wien, als einer überwiegend katholischen Stadt, sind Ehescheidungen sehr schwer durchzusetzen; nichtsdestoweniger konnte schon Mitte der achtziger Jahre ein Wiener Richter die Äußerung machen: "Die Klagen wegen gebrochener Ehe sind so häufig wie die wegen zerbrochener Fensterscheiben."
In den Vereinigten Staaten betrug die Zahl der Ehescheidungen im Jahre 1867: 9.937, 1886: 25.535, 1895: 40.387, 1902: 61.480, 1906: 72.062. Wäre die Zahl der Ehescheidungen im Verhältnis zu der Bevölkerung im Jahre 1905 dieselbe geblieben wie im Jahre 1870, so wäre die absolute Zahl der Ehescheidungen im Jahre 1905 nur 24.000 und nicht 67.791 stark gewesen, wie sie in der Wirklichkeit war. Im ganzen betrug dort die Zahl der Ehescheidungen in dem Zeitraum von 1867 bis 1886: 328.716, von 1887 bis 1906: 945.625. Überhaupt finden in den Vereinigten Staaten absolut und relativ die meisten Ehescheidungen statt. Auf je 100.000 bestehende Ehen kamen Ehescheidungen: 1870: 81, 1880: 107, 1890: 148, 1900: 200.
Die Gründe, warum diese dort häufiger sind als in jedem anderen Lande, dürften darin zu suchen sein, daß erstens die Ehescheidung, insbesondere in einzelnen Staaten, leichter ist als in den meisten anderen Ländern, und zweitens, daß die Frauen eine weit unabhängigere Stellung einnehmen als in jedem anderen Lande und sich daher von ihren Eheherren weniger tyrannisieren lassen.
In Deutschland war die Zahl der rechtskräftigen Urteile für Ehescheidungen von 1891 bis 1900 folgende:
1891 | 1892 | 1893 | 1894 | 1895 | 1896 | 1897 | 1898 | 1899 | 1900 |
6.678 | 6.513 | 6.694 | 7.502 | 8.326 | 8.601 | 9.005 | 9.143 | 9.563 | 7.928 |
Wir sehen, daß von 1899 bis 1900 die Zahl der Ehescheidungen um 1.635 sank, und zwar, weil mit dem 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinen erschwerenden Bestimmungen in Kraft trat.
Aber das Leben war stärker als das Gesetz. Die Ehescheidungen haben, nachdem ihre Zahl in den Jahren 1900 bis 1902 zurückging, seither wieder von Jahr zu Jahr noch schneller zugenommen. Die Zunahme geschieht auf Grund der häufigeren Anwendung des § 1568 BGB (Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses). Wie groß die Scheidungshäufigkeit nach 1900 geworden ist, zeigen folgende Zahlen: 1901: 7.964, 1902: 9.069, 1905: 9.933, 1904: 10.868, 1905: 11.147, 1906: 12.180, 1907: 12.489. In Sachsen bewegt sich die Ehescheidungsziffer trotz aller Schwankungen auch in aufsteigender Linie. So entfielen:
Im Jahrfünft | Ehescheidungen | Auf 100.000 Ehen | Im Jahrfünft | Ehescheidungen | Auf 100.000 Ehen |
1836-1840 | 356 | 121 | 1891-1895 | 921 | 138 |
1846-1850 | 395 | 121 | 1896-1900 | 1.131 | 151 |
1871-1875 | 581 | 122 | 1901-1905 | 1.385 | 168 |
Von 100.000 bestehenden Ehen wurden in Preußen im Durchschnitt jährlich geschieden von 1881 bis 1885: 67,62, 1886 bis 1890: 80,55, 1891 bis 1895: 86,77, 1896: 101,97, 1905: 106, 1908; 121 Ehen.
Das ist eine bedeutende Steigerung. Dieses Wachsen der Scheidungshäufigkeit ist eine internationale Erscheinung. So kamen auf je 100.000 bestehende Ehen im Durchschnitt jährlich Ehelösungen durch Scheidung oder Trennung in:
1876-1880 | 1881-1885 | 1886-1890 | gegen die Jahrhundertwende | |
Österreich | - | 19,4 | 19,7 | 31 |
Ungarn | 31,6 | 30,4 | 30,5 | 58 |
Rumänien | 37,3 | 52,3 | 73,1 | 98 |
Italien | 11,8 | 11,3 | 10,6 | 15 |
Frankreich | 33,9 | 75,9 | 80,9 | 129 |
England und Wales | 6,5 | 7,4 | 7 | 10,6 |
Schottland | 12,3 | 13 | 16,7 | 26 |
Irland | 0,6 | 0,4 | 1,1 | 1 |
Belgien | 25,5 | 31,9 | 43 | 72 |
Niederlande | - | - | - | 78 |
Norwegen | 13,9 | 12,1 | 19,3 | 33 |
Schweden | 28,5 | 28,6 | 31,6 | 45 |
Finnland | 16,1 | 7,8 | 10,0 | 29 |
Schweiz | 220 | 200 | 188 | 199,9 |
Es wäre verkehrt, wollte man aus der großen Verschiedenheit der Zahlen zwischen den verschiedenen Ländern zu günstigen oder ungünstigen Schlußfolgerungen über den so verschiedenen "Moral-
zustand" kommen. Niemand wird behaupten wollen, daß die schwedische Bevölkerung viermal mehr Ursachen zu Ehescheidungen habe als die englische. In erster Linie ist die Gesetzgebung ins Auge zu fassen, die in einem Lande die Ehescheidung erschwert und sie in anderen bald mehr, bald weniger erleichtert.(5) Erst in zweiter Linie kommt der Moralzustand in P>etracht, das heißt ein Durchschnittsmaß von Gründen, das bald der Mann, bald die Frau als maßgebend für die Stellung eines Antrags auf Trennung ansieht. Aber die Zahlen bestätigen: Im allgemeinen wachsen die Ehescheidungen rascher als die Bevölkerung, und sie wachsen, während die Eheschließungen vielfach fallen. Darüber weiter unten.
Sehr erheblich wirken auf die Ehescheidungen größere Altersunterschiede der Eheleute ein, sei es, daß der Mann wesentlich älter ist als die Frau oder die Frau als der Mann. Das beweist die folgende Zusammenstellung auf Grund der schweizerischen amtlichen Statistik:
Jährliche Zahl der Scheidungen auf je 100.000 Ehen desselben Altersunterschiedes | 1881-1890 | 1891-1900 |
Mann älter 26 und mehr Jahre | 271 | 328 |
Mann älter 11 bis 25 Jahre | 189 | 198 |
Mann älter 1 bis 10 Jahre | 193 | 181 |
Mann und Frau gleich alt | 195 | 190 |
Mann jünger 1 bis 10 Jahre | 226 | 226 |
Mann jünger 11 bis 25 Jahrs | 365 | 431 |
Mann jünger 26 und mehr Jahre | 759 | 870 |
Über die Frage, wie sich die Ehescheidungsklagen auf die verschiedenen Schichten der Bevölkerung verteilen, liegen uns unter anderem Angaben vor aus Sachsen aus den Jahren 1905 bis 1906 und aus Preußen 1895 bis 1905.(6)
Jährliche Scheidungen auf 100.000 verheiratete Männer | ||
Sachsen | Preußen | |
Land- und Forstwirtschaft | 59 | 34 |
Industrie | 220 | 158 |
Handel und Verkehr | 297 | 229 |
Öffentlicher Dienst und freie Berufe | 346 | 165 |
(5) In England ist die Ehescheidung ein Privileg der Reichen. Die Prozeßkosten sind so hoch, daß die Ehescheidung für unbemittelte Leute, die noch dazu gezwungen sind, eine Reise nach London zu machen, fast zur Unmöglichkeit wird. Im ganzen Lande gibt es bloß ein einziges Ehescheidungsgericht - in London.
(6) Paul Kollmann, Die Ehescheidungen in Sachsen. Zeitschrift des Königl. Sächs. Stat. Landesamtes 1907, II, und F. Kühnert, Die Ehescheidungsbewegung in Preußen in den Jahren 1895 bis 1905, Zeitschrift des Königl. Preuß. Stat. Landesamtes 1907, II.
Die Ehescheidungen waren also am häufigsten in Sachsen in der Beamtenwelt und in freien Berufen, in Preußen im Handel und Verkehr. Dann folgen für Sachsen Handel und Verkehr, für Preußen Beamte und freie Berufe. Die Industrie mit 220 für Sachsen und 158 für Preußen nimmt den dritten Rang ein. Am niedrigsten ist die Zahl in der Landwirtschaft. Die wachsende Zahl der Ehescheidungen in der städtischen Bevölkerung im Vergleich mit der ländlichen spricht dafür, daß im allgemeinen mit der zunehmenden Industrialisierung der ganzen Gesellschaft und der abnehmenden Stabilität des öffentlichen Lebens die Eheverhältnisse immer ungünstiger werden und die Faktoren sich vermehren, welche die Ehe zerstören. Andererseits sind sie ein Beweis, daß eine immer größere Zahl Frauen sich entschließt, das ihr unerträglich dünkende Joch abzuschütteln.
2. Bürgerliche und proletarische Ehe
Die ehelichen Übel aber wachsen, und die Korrumpierung der Ehe nimmt zu in dem Maße, wie der Kampf ums Dasein sich verschärft und die Ehe immer mehr Geld- beziehentlich Kaufehe wird. Die immer größer werdende Schwierigkeit, eine Familie zu unterhalten, bestimmt auch viele Männer, auf die Ehe überhaupt zu verzichten, und so wird die Redensart, die Frau müsse in ihrer Tätigkeit auf das Haus beschränkt bleiben, sie müsse als Hausfrau und Mutter ihren Beruf erfüllen, immer mehr gedankenlose Phrase. Andererseits müssen diese Zustände die außereheliche Befriedigung des Geschlechtsverkehrs begünstigen und die Zahl der Prostituierten vermehren; auch steigt die Zahl derer, die an unnatürlicher Befriedigung des Geschlechtstriebs kranken.
In der besitzenden Klasse sinkt die Frau nicht selten, ganz wie im alten Griechenland, zum bloßen Gebärapparat für legitime Kinder herab, zur Hüterin des Hauses oder zur Pflegerin des in der Debauche ruinierten Gatten. Der Mann unterhält zu seinem Vergnügen und für sein Liebesbedürfnis Hetären - bei uns Kurtisanen oder Mätressen genannt -, die in den schönsten Stadtvierteln wohnen. Andere, denen
die Mittel keine Mätresse zu unterhalten gestatten, halten es in wie vor der Ehe mit den Phrynen, für die ihr Herz mehr als für die Ehefrau schlägt; mit ihnen amüsieren sie sich, und ein Teil unserer Ehefrauen ist korrupt genug, solche Unterhaltungen in der Ordnung zu finden.(7)
In den oberen und mittleren Klassen der Gesellschaft ist also die Hauptquelle der Übel in der Ehe die Geld- und Standesheirat. Die Ehe wird aber noch mehr verderbt durch die Lebensweise dieser Klassen. Dieses trifft auch die Frau, die sich häufig dem Müßiggang oder korrumpierenden Beschäftigungen überläßt. Ihre geistige Nahrung besteht oft nur im Lesen zweideutiger Romane und in Zotenlektüre, im Besuch frivoler Theaterstücke, im Genuß sinnenkitzelnder Musik, in berauschenden Nervenstirnulanzien, in Unterhaltungen über die Skandalaffären aller Art. Oder der Müßiggang und die Langeweile verleitet sie zu galanten Abenteuern, die noch häufiger der Mann sucht. Sie jagt von einem Vergnügen in das andere, von einem Gastmahl zum anderen, und im Sommer eilt sie in die Bäder der Sommerfrischen, um sich von den Strapazen des Winters zu erholen und neue Unterhaltung zu finden. Die Chronique scandaleuse findet bei dieser Lebensweise ihre Rechnung; man verführt und läßt sich verführen.
In den unteren Klassen ist die Geldehe so gut wie unbekannt. In der Regel heiratet der Arbeiter aus Neigung, aber an störenden Ursachen in der Ehe fehlt es nicht. Reicher Kindersegen schafft Sorgen und Mühen, und nur zu oft kehrt die Not ein. Krankheiten und Tod sind in den Arbeiterfamilien häufig gesehene Gäste. Arbeitslosigkeit treibt das Elend auf seinen Gipfel. Und wie vieles schmälert dem Arbeiter den Verdienst oder raubt ihm zeitweilig denselben ganz. Handels- und Industriekrisen machen ihn arbeitslos, die Einführung neuer
(7) Bücher beklagt in seiner schon mehrfach zitierten Schrift "Die Frauenfrage im Mittelalter" den Zerfall der Ehe und des Familienlebens; er verurteilt die zunehmende Frauenarbeit in der Industrie und verlangt die "Rückkehr" auf das "eigenste Gebiet der Frau", wo sie allein "Werte" schaffe, ins Haus und in die Familie. Die Bestrebungen der modernen Frauenfreunde erscheinen ihm als "Dilettantismus", und er hofft schließlich, "daß man bald in richtigere Bahnen einlenke", ist aber offenbar außerstande, einen erfolgreichen Weg zu zeigen. Das ist auch, vom bürgerlichen Standpunkt aus, unmöglich. Die Ehezustände wie die Lage der gesamten Frauenwelt sind nicht willkürlich geschaffen, sie sind das natürliche Produkt unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Kulturentwicklung vollzieht sich aber nach immanenten Gesetzen.
Maschinen oder Arbeitsmethoden wirft ihn als überzählig aufs Pflaster; Kriege, ungünstige Zoll- und Handelsverträge, Einführung neuer indirekter Steuern, Maßregelung seitens der Unternehmer wegen Betätigung seiner Überzeugung usw. vernichten seine Existenz oder schädigen sie schwer. Bald tritt das eine, bald das andere ein, wodurch er bald längere, bald kürzere Zeit ein Arbeitsloser, das heißt ein Hungernder, wird. Unsicherheit ist die Signatur, seiner Existenz. Solche Schicksalsschläge erzeugen Mißstimmung und Verbitterung, und diese Stimmung kommt zunächst im häuslichen Leben zum Ausbruch, wenn täglich und stündlich Anforderungen für das Allernotwendigste gestellt werden, die nicht befriedigt werden können. Zank und Streit brechen aus. Ruin der Ehe und Familie ist die Folge.
Oder beide, Mann und Frau, gehen auf Arbeit. Die Kinder sind sich selbst oder der Überwachung älterer Geschwister überlassen, die selbst der Überwachung und Erziehung bedürften. In fliegender Eile wird in der Mittagstunde das meist elende Essen hinabgeschlungen, vorausgesetzt, daß die Eltern überhaupt Zeit haben, nach Hause zu eilen, was in Tausenden von Fällen wegen der Entfernung der Arbeitsstätte von der Wohnung und der Kürze der Pausen nicht möglich ist; müde und abgespannt kehren beide abends heim. Statt einer freundlichen, anmutenden Häuslichkeit finden sie eine enge, ungesunde Wohnung, die oft der Luft und des Lichtes entbehrt, und in der meist auch die nötigsten Bequemlichkeiten fehlen. Die zunehmende Wohnungsnot mit den daraus erwachsenden entsetzlichen Mißständen ist eine der dunkelsten Seiten unserer sozialen Ordnung, die zu zahlreichen Übeln, zu Lastern und Verbrechen führt. Und die Wohnungsnot wird trotz aller Versuche zur Abhilfe in den Städten und Industriebezirken mit jedem Jahre größer. Immer weitere Schichten werden von ihr erfaßt: kleine Gewerbetreibende, Beamte, Lehrer, kleine Kaufleute usw. Die Frau des Arbeiters, die abends müde und abgehetzt nach Hause kommt, hat von neuem alle Hände voll zu tun; Hals über Kopf muß sie arbeiten, um in der Wirtschaft nur das Notwendigste instand zu setzen. Die Kinder werden eiligst ins Bett gebracht, die Frau sitzt und näht und flickt bis in die späte Wacht. Die ihr so nötige Unterhaltung und Aufrichtung fehlt ihr. Der Mann ist oft unwissend, die Frau weiß noch weniger, und das wenige, was man sich sonst zu sagen hat, ist rasch erledigt. Der Mann geht ins Wirtshaus, um dort die Annehmlichkeiten zu finden, die ihm zu Hause fehlen; er trinkt, und ist es
noch so wenig, er verbraucht für seine Verhältnisse zuviel. Unter Umständen verfällt er dem Laster des Spieles, das auch in den höheren Kreisen der Gesellschaft viele Opfer fordert, und verliert noch mehr, als er vertrinkt. Unterdes sitzt die Frau zu Hause und grollt; sie muß wie ein Lasttier arbeiten, für sie gibt es keine Ruhepause und Erholung; der Mann benutzt so gut er kann die Freiheit, die ihm der Zufall gibt, als Mann geboren zu sein. So entsteht die Disharmonie. Ist aber die Frau weniger pflichtgetreu, sucht sie am Abend, nachdem sie müde von der Arbeit heimgekehrt ist, eine berechtigte Erholung, so geht die Wirtschaft rückwärts, und das Elend ist doppelt groß. Aber wir leben trotzdem in "der besten aller Welten".
So wird auch die Ehe des Proletariers immer mehr zerrüttet. Sogar günstige Arbeitszeiten üben ihren zersetzenden Einfluß, denn sie zwingen ihn zur Sonntags- und Überstundenarbeit und nehmen ihm die Zeit, die er für seine Familie noch übrig hatte. In unzähligen Fällen hat er ganze Stunden bis zur Arbeitsstätte; die Mittagspause zum Heimweg zu benutzen, ist für ihn eine Unmöglichkeit; er steht morgens mit dem frühesten auf, wenn die Kinder noch im tiefsten Schlaf liegen, und kehrt erst spät am Abend, wenn sie bereits wieder in dem gleichen Zustand sich befinden, an den Herd zurück. Tausende von Arbeitern, namentlich die Bauarbeiter in den größeren Städten, bleiben der weiten Entfernung wegen die ganze Woche von Hause fern und kehren erst am Schlusse derselben zu ihrer Familie zurück. Bei solchen Zuständen soll das Familienleben gedeihen! Nun nimmt aber auch die Frauenarbeit immer mehr überhand, insbesondere in der Textilindustrie, die ihre Tausende von Dampfwebstühlen und Spindelmaschinen von billigen Frauen- und Kinderhänden bedienen läßt. Hier hat sich das frühere Verhältnis umgekehrt. Frau und Kind gehen in die Fabrik, und nicht selten sitzt der brotlos gewordene Mann zu Hause und besorgt die häuslichen Verrichtungen. "So findet man im Chemnitzer Bezirk in Appreturanstalten viele Frauen, die nur im Winter daselbst tätig sind, weil ihre Männer als Handarbeiter, Maurer, Zimmerer usw. im Winter gar keinen oder nur geringen Verdienst haben, In anderen Bezirken suchen die Frauen von Bauarbeitern während der Wintermonate Beschäftigung in Fabriken. Es kommt sehr häufig vor, daß während der Abwesenheit der Frau der Mann die Wirtschaft besorgt."(8) In Nordamerika, das bei seiner rapi-
(8) Technik und Wirtschaft. August 1909. S. 377.
den kapitalistischen Entwicklung alle Übel europäischer Industriestaaten in viel größerem Umfang erzeugt, hat man für den Zustand, den diese Verhältnisse hervorriefen, einen sehr charakteristischen Namen. Man nennt Industrieorte, in denen hauptsächlich die Frauen beschäftigt sind, während die Männer zu Hause sitzen, she towns, wörtlich "Siestädte", Frauenstädte.(9)
Die Zulassung der Frauen zu allen gewerblichen Berufen ist heute allseitig zugestanden, Die bürgerliche Gesellschaft, jagend nach Profit und Gewinn, hat längst erkannt, welch ein vortreffliches Ausbeutungsobjekt im Vergleich mit dem Manne die sich leichter fügende und schmiegende und anspruchslosere Arbeiterin ist.(10) So ist die Zahl der Berufe und Beschäftigungsarten, in welchen Frauen als Arbeiterinnen Anwendung finden, eine mit jedem Jahr wachsende. Die Ausdehnung und Verbesserung der Maschinerie, die Vereinfachung des Arbeitsprozesses durch immer größere Arbeitsteilung, der wachsende Konkurrenzkampf der Kapitalisten unter sich wie der auf dem Weltmarkt in Rivalität stehenden Industrieländer begünstigen die immer weitere Anwendung der Frauenarbeit. Das ist eine Erscheinung, die allen Industriestaaten gemeinsam ist. Aber in dem Maße, wie die Zahl der Arbeiterinnen sich vermehrt, werden diese vielfach Konkurrenten der männlichen Arbeiter. Zahlreiche Äußerungen in den Berichten der
(9) Dafür spricht folgende Notiz im "Levest. Journ." aus dem Jahre 1893, in der es heißt: "Eine der Sonderbarkeiten der Fabrikdörfer Maines ist die Klasse von Männern, welche zutreffend als 'Haushälter' bezeichnet werden können. Fast in jeder Stadt, wo es viel Industrie gibt, findet man diese Männer in großer Zahl. Wer kurz nach der Mittagszeit vorspricht, wird sie mit vorgebundenen Schürzen beim Schüsselwaschen finden. Zu anderen Zeiten kann man sie scheuern, die Betten machen, die Kinder waschen, aufräumen oder kochen sehen ... Diese Männer besorgen die Wirtschaft aus dem einfachen Grunde, weil ihre Frauen mehr m den Fabriken verdienen können als sie und es eine Geldersparnis bedeutet, wenn die Frauen arbeiten gehen."
(10) "Herr E., ein Fabrikant, unterrichtet mich, daß er ausschließlich Weiber bei seinen mechanischen Webstühlen beschäftigt; er gebe verheirateten Frauen den Vorzug, besonders solchen mit Familie zu Hause, die von ihnen für den Unterhalt abhängt; sie sind viel aufmerksamer und gelehriger als unverheiratete und zur äußersten Anstrengung ihrer Kräfte gezwungen, um die notwendigen Lebensmittel beizuschaffen. So werden die Tugenden, die eigentümlichen Tugenden des weiblichen Charakters, zu seinem Schaden verkehrt - so wird alles Sittliche und Zarte ihrer Natur zum Mittel ihrer Sklaverei und ihres Leidens gemacht." Rede des Lord Ashley über die Zehnstundenbill, 1844. Karl Marx, Das Kapital. 2. Auflage.
Fabrikinspektoren wie in den statistischen Angaben über die Beschäftigung von Arbeiterinnen bestätigen dieses.
Am schlimmsten ist die Lage der Frauen in denjenigen Gewerbezweigen, in welchen sie überwiegend beschäftigt sind, wie zum Beispiel in der Bekleidungs- und Wäscheindustrie, namentlich in den Arbeitszweigen, in welchen die Arbeit in der eigenen Wohnung für den Unternehmer verrichtet wird. Die stattgehabten Untersuchungen über die Lage der Arbeiterinnen in der Wäschefabrikation und der Konfektionsbranche, die im Jahre 1886 der Bundesrat veranstaltete, haben auch ergeben, daß die erbärmlichen Wohnverhältnisse dieser Arbeiterinnen sie vielfach zu Nebenverdienst durch Preisgabe ihres Körpers zwingen.
Unser christlicher Staat, dessen Christentum man in der Regel dort vergeblich sucht, wo es angewendet werden sollte, und dort findet, wo es überflüssig oder schädlich ist, dieser christliche Staat handelt wie der christliche Bourgeois, was den nicht wundert, der weiß, daß der christliche Staat nur der Kommis unseres christlichen Bourgeois ist. Der Staat entschließt sich schwer zu Gesetzen, welche die Frauenarbeitszeit auf ein erträgliches Maß beschränken und die Kinderarbeit verbieten, wie er auch vielen seiner Beamten weder ausreichende Sonntagsruhe noch eine normale Arbeitszeit gewährt und so ihr Familienleben schädigt. Post-, Eisenbahn-, Gefängnisbeamte usw. müssen häufig weit über das zulässige Zeitmaß ihren Dienst versehen, aber ihre Entlohnung steht im umgekehrten Verhältnis.
Da ferner die Wohnungsmieten im Vergleich zum Einkommen des Arbeiters, des niederen Beamten und des kleinen Mannes viel zu hoch sind, müssen sie sich aufs äußerste einschränken. Es werden Schlafburschen oder Logiermädchen in die Wohnung genommen, öfter auch beide zugleich.(11) Alte und Junge wohnen auf engstem Raume, ohne Scheidung der Geschlechter zusammengepfercht, oft Zeuge der intim-
(11) Nach den Ergebnissen der preußischen Volkszählung von 1900 wurden 3.467.388 Personen gezählt, die nicht mit dem Haushaltungsvorstand verwandt sind, und im Gesamtdurchschnitt für Preußen bestanden diese Fremdelemente der Familienhaushaltungen zu etwa einem Viertel aus fremden Wohn- und Schlafgenossen (378.548 Zimmerabmieter und 455.322 Schlafgänger), auf dem Lande nur zu einem Siebentel, in den Städten dagegen zu einem Drittel und in Berlin zu erheblich mehr als zur Hälfte (57.180 Zimmerabmieter und 99.795 Schlafgänger). G. v. Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre. 3. Band, S. 89. Tübingen 1909.
sten Vorgänge. Wie dabei Schamgefühl und Sittlichkeit fahren, darüber gibt es schauerliche Tatsachen. Die vielfach erörterte Zunahme der Verrohung und Verwilderung der Jugend ist vorzugsweise solchen Zuständen geschuldet, die in der Stadt und auf dem Lande bestehen. Und welche Wirkung muß für die Kinder die Erwerbsarbeit haben? Die schlechteste, die sich denken läßt, sowohl physisch wie moralisch.
Die immer mehr zunehmende industrielle Beschäftigung auch der verheirateten Frau ist namentlich bei Schwangerschaften, Geburten und in der ersten Lebenszeit der. Kinder, während diese auf die mütterliche Nahrung angewiesen sind, von den verhängnisvollsten Folgen. Es entstehen während der Schwangerschaft eine Menge Krankheiten, die sowohl auf die Leibesfrucht als auf den Organismus der Frau zerstörend wirken und Früh- und Totgeburten hervorrufen. Ist das Kind zur Welt, so ist die Mutter gezwungen, wieder so rasch als möglich zur Fabrik zurückzukehren, damit ihr Platz nicht von einer Konkurrentin besetzt wird. Die unausbleiblichen Folgen für die kleinen Würmer sind: vernachlässigte Pflege, unpassende Nahrung, auch gänzlicher Mangel an Nahrung; sie werden, um ruhig zu sein, mit Opiaten gefüttert. Und die weiteren Folgen sind: massenhaftes Sterben oder Siechtum und Verkümmerung, mit einem Worte: Degenerstion der Rasse. Vielfach wachsen die Kinder auf, ohne rechte mütterliche oder väterliche Liebe genossen und wahre Elternliebe empfunden zu haben. So gebiert, lebt und stirbt das Proletariat. Und Staat und Gesellschaft wundern sich, daß sich Roheit, Sittenlosigkeit und Verbrechen häufen.
Als im Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in den englischen Baumwollendistrikten infolge des nordamerikanischen Sklavenbefreiungskriegs viele tausende von Arbeiterinnen feiern mußten, machten die Ärzte die auffallende Entdeckung, daß ungeachtet der großen Not der Bevölkerung die Kindersterblichkeit abnahm. Die Ursache war, die Kinder genossen jetzt die Nahrung von der Mutter und erhielten eine bessere Pflege, als sie je gehabt hatten. Die gleiche Tatsache ist seitens der Ärzte in der Krise der siebziger Jahre in Nordamerika, besonders in New York und Massachusetts, konstatiert worden. Die Arbeitslosigkeit zwang die Frauen zu feiern und ließ ihnen Zeit zur Kinderpflege. Ähnliche Beobachtungen hat man während des Generalstreiks in Schweden (August und September 1909) gemacht. Die Sterblichkeitsziffer in Stockholm und auch in an-
deren größeren schwedischen Städten hat sich seit langen Zeiten nicht so günstig gestaltet wie in den Wochen dieses Riesenstreiks. Eine der hervorragendsten medizinischen Autoritäten Stockholms hat sich dahin ausgesprochen, daß diese ungemein befriedigenden Sterblichkeits- wie überhaupt Gesundheitsverhältnisse ganz zweifellos mit dem Riesenstreik in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Am wichtigsten sei zweifellos der Umstand, daß die großen Scharen, aus denen sich die "Armee des Müßiggangs" während der Streikwochen zusammensetzte, Gelegenheit gehabt hätten, sich fast unausgesetzt unter freiem Himmel, in frischer Luft, aufzuhalten, was der körperlichen Gesundheit natürlich äußerst dienlich gewesen sei, Wie umfassend die für die Arbeitsräume geltenden sanitären Vorschriften auch sein mögen, so sei die Luft in den Arbeitslokalen doch im allgemeinen immer so beschaffen, daß sie in gesundheitlicher Beziehung mehr oder weniger schädlich wirken müsse. Die Bedeutung des Alkoholverbots während des Riesenstreiks dürfe auch nicht unterschätzt werden.
In der Hausindustrie, die volkswirtschaftliche Romantiker so idyllisch darstellen, liegen die Verhältnisse nicht besser. Hier ist neben dem Manne die Frau von früh bis in die Nacht an die Arbeit gekettet, und die Kinder werden vom frühesten Alter zu gleichem Werke angehalten. Zusammengepfercht auf den kleinsten Raum leben Mann, Frau, Familie und etwaige Hilfspersonen mitten unter den Arbeitsabfällen und bei den unangenehmsten Dünsten und Gerüchen. Dem Wohn- und Arbeitslokal entsprechen die Schlafräume. In der Regel dunkle Löcher, ohne Ventilation, sind diese schon für die Gesundheit bedenklich; wenn darin nur ein Teil der in ihnen untergebrachten Menschen hauste.
Der immer schwerer werdende Kampf ums Dasein zwingt auch oft Frauen und Männer zu Handlungen, die sie unter anderen Verhältnissen verabscheuten. So wurde 1877 in München konstatiert, daß unter den polizeilich eingetragenen und überwachten Prostituierten nicht weniger als 203 Frauen von Arbeitern und Handwerkern waren. Und wie viele verheiratete Frauen geben aus Not sich preis, ohne daß sie sich der polizeilichen Kontrolle unterwerfen, die Schamgefühl und Menschenwürde aufs tiefste verletzt.
Datum der letzten Änderung : Jena, den : 02.12.2012