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Achtes Kapitel
Die moderne Ehe
1. Die Ehe als Beruf
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"Ehe und Familie sind die Grundlagen des Staates; wer daher Ehe und Familie angreift, greift die Gesellschaft und den Staat an und untergräbt beide", rufen die Verteidiger der heutigen Ordnung. Die monogamische Ehe ist, wie zur Genüge bewiesen wurde, Ausfluß der bürgerlichen Erwerbs- und Eigentumsordnung, sie bildet also unbestreitbar eine der wichtigsten Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, ob sie aber den natürlichen Bedürfnissen und einer gesunden Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entspricht, ist eine andere Frage. Wir werden zeigen, daß diese auf den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen beruhende Ehe mehr oder weniger Zwangsehe ist, die viele Übelstände aufweist und vielfach ihren Zweck nur unvollkommen oder gar nicht erreicht. Wir werden ferner zeigen, daß sie eine soziale Einrichtung ist, die für Millionen unerreichbar bleibt und keineswegs jene auf freier Liebeswahl beruhende Ehe ist, die, wie ihre Lobredner behaupten, allein dem Naturzweck entspricht.

Mit Bezug auf die heutige Ehe ruft John Stuart Mill: "Die Ehe ist die einzige wirkliche Leibeigenschaft, welche das Gesetz kennt." Nach der Auffassung Kants bilden Mann und Frau erst den ganzen Menschen. Auf der normalen Verbindung der Geschlechter beruht die gesunde Entwicklung des Menschengeschlechtes. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist eine Notwendigkeit für die gesunde physische und geistige Entwicklung des Mannes wie der Frau. Aber der Mensch ist kein Tier, und so genügt ihm für die höhere Befriedigung seines ungestümsten Triebes bloß physische Stillung nicht, er verlangt auch geistige Anziehungskraft und Übereinstimmung mit dem Wesen, mit dem er eine Verbindung eingeht. Sind diese nicht vorhanden, so vollzieht sich die geschlechtliche Vermischung rein mechanisch, und sie ist alsdann eine unsittliche. Der höherstehende Mensch verlangt,

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daß die beiderseitige Anziehungskraft auch über die Vollziehung des Geschlechtsaktes hinaus dauere und seine veredelnde Wirkung auf das aus der beiderseitigen Verbindung entsprießende Lebewesen ausdehne.(1) Die Tatsache, daß solche Ansprüche in der heutigen Gesellschaft an unzählige Ehen nicht gestellt werden können, veranlaßte auch Varnhagen v. Ense zu schreiben: "Was wir in dieser Art vor Augen hatten, sowohl von geschlossenen als von noch zu schließenden Ehen, war nicht gemacht, uns von solcher Verbindung einen guten Begriff zu geben; im Gegenteil, die ganze Einrichtung, der nur Liebe und Achtung zugrunde liegen sollte und die wir in allen diesen Beispielen eher auf alles andere gegründet sahen, wurde uns gemein und verächtlich, und wir stimmten schreiend in den Spruch von Friedrich Schlegel ein, den wir in den Fragmenten des 'Athenäums' lasen: Fast alle Ehen sind Konkubinate, Ehen an der linken Hand oder vielmehr provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen nach allen geistigen und weltlichen Rechten darin besteht, daß mehrere Personen nur eine werden sollen."(2) Das ist ganz im Sinne Kants gedacht.

Die Freude an der Nachkommenschaft und die Verpflichtung gegen diese machen das Liebesverhältnis zweier Menschen zu einem länger dauernden. Ein Paar, das in ein Eheverhältnis treten will, soll sich also darüber klar sein, ob sich die beiderseitigen Eigenschaften zu einer solchen Verbindung eignen. Die Antwort müßte aber auch unbeeinflußt erfolgen können. Das kann aber nur geschehen durch die Fernhaltung jedes anderen Interesses, das mit dem eigentlichen Zwecke der Verbindung, Befriedigung des Naturtriebs und Fortpflanzung des eigenen Wesens in der Fortpflanzung der Rasse, nichts zu tun hat, und durch ein Maß von Einsicht, das die blinde Leidenschaft zügelt. Da jedoch diese Bedingungen in der gegenwärtigen Gesellschaft in ungemein zahlreichen Fällen nicht vorhanden sind, so ergibt sich, daß die heutige Ehe vielfach entfernt ist, ihren wahren Zweck


(1) "Die Stimmungen und Gefühle, mit denen zwei Gatten sich nahen, üben unzweifelhaft einen ausschlaggebenden Einfluß auf die Wirkung des Geschlechtsaktes aus und übertragen gewisse Charaktereigenschaften auf das werdende Wesen." Dr. Elisabeth Blackwell, The moral education of the young in relation to sex. Siehe auch Goethes "Wahlverwandtschaften", der dort deutlich schillert, welche Wirkung die Gefühle ausüben, die zwei Menschen zu intimem Umgang führen.

(2) Denkwürdigkeiten, 1, Band, S. 239. Leipzig, F. A. Brockhaus.

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zu erfüllen, und daß es daher nicht gerechtfertigt ist, sie als eine ideale Institution anzusehen.

Wie viele Ehen von ganz anderen Anschauungen aus als den dargelegten geschlossen werden, läßt sich nicht beweisen. Die Beteiligten sind interessiert, ihre Ehe vor der Welt anders erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Es besteht hier ein Zustand der Heuchelei, wie ihn keine frühere Gesellschaftsperiode in ähnlichem Maße kannte. Und der Staat, der politische Repräsentant dieser Gesellschaft, hat kein Interesse, Untersuchungen anzustellen, deren Resultat die Gesellschaft in ein bedenkliches Licht setzte. Die Maximen, die der Staat selbst in bezug auf die Verehelichung seiner Beamten und Diener verfolgt, vertragen einen Maßstab nicht, wie er der Ehe zugrunde liegen soll.

2. Der Rückgang der Geburten

Die Ehe soll eine Verbindung sein, die zwei Menschen aus gegenseitiger Liebe eingehen, um ihren Naturzweck zu erreichen. Dieses Motiv ist aber gegenwärtig in den seltensten Fällen rein vorhanden. Die große Mehrzahl der Frauen sieht die Ehe als eine Versorgungsanstalt an, in die sie um jeden Preis eintreten muß. Umgekehrt betrachtet ein großer Teil der Männerwelt die Ehe vom reinen Geschäftsstandpunkt aus und erwägt und berechnet aus materiellen Gesichtspunkten die Vorteile und Nachteile derselben. Und selbst in die Ehen, für die niedrige und egoistische Motive nicht maßgebend waren, bringt die rauhe Wirklichkeit so viel Störendes und Auflösendes, daß nur in seltenen Fällen die Hoffnungen erfüllt werden, welche die Eheschließenden in ihrem Enthusiasmus erwarteten.

Das ist natürlich. Soll die Ehe beiden Gatten ein befriedigendes Zusammenleben gewähren, so erfordert sie neben der gegenseitigen Liebe und Achtung die Sicherung der materiellen Existenz, das Vorhandensein desjenigen Maßes von Lebensnotwendigkeiten und Annehmlichkeiten, das sie glauben für sich und ihre Kinder notwendig zu haben. Die schwere Sorge, der harte Kampf um das Dasein sind der erste Nagel zum Sarge ehelicher Zufriedenheit und ehelichen Glückes. Die Sorge wird aber um so größer, je fruchtbarer sich die eheliche Gemeinschaft erweist, also in je höherem Grade sie ihren Zweck erfüllt. Der Bauer zum Beispiel ist vergnügt über jedes Kalb,

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das seine Kuh ihm bringt, er zählt mit Behagen die Zahl der Jungen, die ein Mutterschwein ihm wirft, und mit Befriedigung berichtet er das Ergebnis seinen Nachbarn; aber er blickt düster, wenn seine Frau ihm zu der Zahl seiner Sprößlinge, die er glaubt ohne schwere Sorgen erziehen zu können - und groß darf sie nicht sein - einen neuen Zuwachs schenkt, um so düsterer, wenn das Neugeborene das Unglück hat, ein Mädchen zu sein.

Man darf also sagen, sowohl die Eheschließungen wie die Geburten werden von den ökonomischen Zuständen beherrscht. Am klassischsten zeigt sich dieses in Frankreich. Dort herrscht in der Landwirtschaft das Parzellensystem. Aber Grund und Boden, unter eine gewisse Grenze zerstückelt, ernährte keine Familie mehr. Daher das berühmt und berüchtigt gewordene Zweikindersystem, das sich in Frankreich zur sozialen Institution ausgebildet hat und sogar die Bevölkerung in vielen Provinzen, zum Schrecken der Staatslenker, fast stationär erhält, ja einen erheblichen Rückgang derselben verursacht. Was die Entwicklung der Warenproduktion und der Geldwirtschaft auf dem Lande verursacht, das erzeugt noch in stärkerem Maße die Industrie in den Städten. Hier nimmt die eheliche Fruchtbarkeit am schnellsten ab.

Die Zahl der Geburten fällt in Frankreich stetig, trotz Vermehrung der Zahl der Eheschließungen, aber nicht bloß in Frankreich, sondern in den meisten Kulturländern. Es drückt sich darin eine Entwicklung als Folge unserer sozialen Zustände aus, die den herrschenden Klassen zu denken geben sollte. In Frankreich wurden 1881 937.057 Kinder geboren, aber 1906 nur noch 806.847, 1907 773.969. Die Geburten blieben also im Jahre 1907 gegen das Jahr 1881 um 163.088 zurück. Charakteristisch ist aber, daß die Zahl der unehelichen Geburten, die in Frankreich im Jahre 1881 70.079 betrug und in der Periode von 1881 bis 1890 im Jahre 1884 mit 75.754 den höchsten Stand erreichte, 1906 immer noch 70.866 Köpfe stark war, so daß die Verminderung der Geburten ausschließlich auf die ehelichen fiel. Diese Abnahme der Geburten ist ein Charakteristikum, das durch das ganze Jahrhundert sich bemerkbar macht. Es fielen Geburten in Frankreich auf je 10.000 Einwohner im Jahre:

1801 bis 1810 333 1841 bis 1850 273 1891 bis 1900 221
1811 bis 1820 316 1851 bis 1860 262 1905 206
1821 bis 1830 308 1861 bis 1870 261 1906 206
1831 bis 1840 290 1881 bis 1890 239 1907 197
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Das ist eine Abnahme der Geburten im Jahre 1907 im Vergleich zu 1801 (333) um 136 auf je 10.000 Einwohner. Man kann sich vorstellen, daß dieses Resultat den französischen Staatsmännern und Sozialpolitikern große Kopfschmerzen bereitet. Aber Frankreich steht in dieser Beziehung nicht allein. Deutschland, insbesondere Sachsen, weist seit geraumer Zeit eine ähnliche Erscheinung auf, und die Abnahme der Geburtsziffer vollzieht sich noch schneller. So kamen in Deutschland auf je 10.000 Einwohner Geburten im Jahre:

1875 423 1890 370 1905 340
1880 391 1895 375 1906 341
1885 385 1900 368 1907 332

Die Mehrzahl der übrigen Staaten Europas zeigt uns ein ähnliches Bild.

So kamen auf 1.000 Einwohner Geburten in:

  1871-1880 1881-1890 1891-1900 1901-1905 1907

England u. Wales 35,4 32,5 29,9 28,1 26,3
Schottland 34,9 32,3 30,2 28,9 27   
Irland 26,5 23,4 23    23,2 23,2
Italien 36,9 37,8 34,9 32,6 31,5
Schweden 30,5 29,1 27,2 26,1 25,5
Österreich 39    37,9 37,1 35,8 (1906) 35   
Ungarn 44,3 44,0 40,6 37,2 36   
Belgien 32,3 30,2 29    27,7 (1906) 25,7
Schweiz 30,8 28,1 28,1 28,1 26,8
Niederlande 36,2 34,2 32,5 31,5 30,0

Die Abnahme der Geburten ist also ganz allgemein, und obwohl Frankreich und Irland die niedrigsten Quoten aufweisen, vollzieht sich diese Verminderung der Geburtenziffer am schnellsten in England, Deutschland (Sachsen) und Schottland. Die gleiche Erscheinung finden wir in den Vereinigten Staaten und Australien. Noch stärker tritt diese Tendenz hervor, wenn wir statt der allgemeinen Geburtenziffer die eheliche Fruchtbarkeit in Betracht ziehen, das heißt die Beziehung der ehelich Geborenen zu dem mittleren Bestand der verheirateten Frauen in gebärfähigem Alter, also vom 15. bis zum vollendeten 49. Jahre:

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Lebendgeborene eheliche Kinder auf 1.000 verheiratete Frauen im Alter vom 15 bis 49 Jahren (im Jahresdurchschnitt)

  1876-1885 1886-1895 1896-1905

England und Wales 250 229 203
Schottland 271 255 235
Irland 250 245 264
Dänemark 244 235 217
Norwegen 262 259 246
Schweden 240 231 219
Finnland 259 246 244
Österreich 246 250 242
Ungarn (Königreich) 234 225 216
Schweiz 239 230 225
Deutsches Reich 268 258 243
Preußen 273 265 250
Bayern 276 263 259
Sachsen 267 250 216
Württemberg 288 259 262
Baden 266 248 251
Niederlande 293 286 272
Belgien 264 236 213
Frankreich 167 150 132
Italien 248 249 232

Die angeführten Tatsachen zeigen, daß die Geburt eines Menschen, "Gottes Ebenbild", wie die Religiösen sagen, durchschnittlich unterwertiger taxiert wird als ein neugeborenes Haustier, das spricht aber für den unerfreulichen Zustand, in dem wir uns befinden. In mancher Beziehung unterscheiden sich unsere Anschauungen wenig von denen barbarischer Völker. Bei diesen wurden häufig Neugeborene getötet, insbesondere traf dieses Schicksal die Mädchen, und manche Völkerschaften halten es noch heute so. Wir töten die Mädchen nicht mehr, dazu sind wir zu zivilisiert, aber sie werden nur zu oft als Parias behandelt. Der stärkere Mann drängt die Frau überall im Kampfe um das Dasein zurück, und nimmt sie dennoch den Kampf auf, so wird sie nicht selten von dem stärkeren Geschlecht als unliebsame Konkurrentin mit Haß verfolgt. Besonders sind es die Männer der höheren Schichten, die gegen die weibliche Konkurrenz am erbittertsten sind und sie am heftigsten bekämpfen. Daß auch Arbeiter den Ausschluß der Frauenarbeit fordern, kommt nur ausnahmsweise vor. Als zum Beispiel ein solcher Antrag im Jahre 1876 auf einem französischen Arbeiterkongreß gestellt wurde, erklärte sich die große Mehrheit dagegen. Seitdem aber hat gerade unter den klassenbewußten Arbeitern aller Länder die Auffassung, daß die Arbeiterin ein gleichberechtigtes Wesen ist, gewaltige Fortschritte gemacht, was insbesondere die Beschlüsse der internationalen Arbeiterkongresse zeigen. Der

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klassenbewußte Arbeiter weiß, daß die gegenwärtige ökonomische Entwicklung die Frau zwingt, sich zum Konkurrenten des Mannes aufzuwerfen, er weiß aber auch, daß die Frauenarbeit zu verbieten ebenso unsinnig wäre wie ein Verbot der Anwendung von Maschinen, und so trachtet er danach, die Frau über ihre Stellung in der Gesellschaft aufzuklären und sie zur Mitkämpferin in dem Befreiungskampf des Proletariats gegen den Kapitalismus zu erziehen.

3. Die Geldehe und die Ehebörse

Die heutige Gesellschaft steht zweifellos höher als jede frühere, aber die Auffassung in bezug auf das Verhältnis der beiden Geschlechter ist vielfach dieselbe geblieben. Professor L. v. Stein veröffentlichte 1876 eine Schrift, "Die Frau auf dem Gebiet der Nationalökonornie", die wenig ihrem Titel entspricht, in der er ein sehr poetisch gefärbtes Gemälde der Ehe gibt. In diesem Gemälde zeigt sich aber die untertänige Stellung der Frau gegenüber dem "Löwen" Mann. Stein schreibt: "Der Mann will ein Wesen, das ihn nicht bloß liebt, das ihn auch versteht. Er will jemanden, dem nicht bloß das Herz für ihn schlägt, sondern dessen Hand ihm auch die Stirn glättet, das in seiner Erscheinung den Frieden, die Ruhe, die Ordnung, die stille Herrschaft über sich selbst und die tausend Dinge ausstrahlt, zu denen er täglich zurückkehrt; er will jemanden, der um alle diese Dinge jenen unaussprechlichen Duft der Weiblichkeit verbreitet, der die belebende Wärme für das Leben des Hauses ist."

In diesem anscheinenden Lobgesang auf die Frau verbirgt sich ihre Erniedrigung und der Egoismus des Mannes. Der Herr Professor malt die Frau als ein duftiges Wesen, das aber, mit der nötigen praktischen Rechenkunst ausgestattet, das Soll und Haben der Wirtschaft im Gleichgewicht zu erhalten versteht und im übrigen zephirartig, wie holder Frühling, um den Herrn des Hauses, den gebietenden Löwen, schwebt, um ihm jeden seiner Wünsche an den Augen abzusehen und ihm mit der weichen Hand die Stirn zu glätten, die er, der "Herr des Hauses", vielleicht im Brüten über seine eigenen Dummheiten runzelt. Kurz, der Herr Professor schildert eine Frau und eine Ehe, wie unter hundert kaum eine vorhanden ist und vorhanden sein kann. Von den vielen Tausenden unglücklicher Ehen und der großen Zahl

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derjenigen Frauen, die nie dazu kommen, eine Ehe zu schließen, wie von den Millionen, die von früh bis spät neben dem Ehegatten als Lasttiere zu sorgen haben und sich abrackern müssen, um das bißchen Brot für den laufenden Tag zu erwerben, sieht und weiß er nichts. Bei diesen allen streift die herbe, rauhe Wirklichkeit die poetische Färbung leichter ab als die Hand den Farbenstaub von den Flügeln des Schmetterlings. Ein Blick auf jene ungezählten Dulderinnen würde dem Herrn Professor sein poetisch gefärbtes Gemälde arg zerstört und ihm sein Konzept verdorben haben. Die Frauen, die er sieht, bilden nur eine winzige Minorität, und daß diese auf der Höhe ihrer Zeit stehen, darf man bezweifeln.

Ein oft zitierter Ausspruch lautet: "Der beste Maßstab für die Kultur eines Volkes ist die Stellung, welche die Frau einnimmt." Wir lassen das gelten, aber es wird sich dann zeigen, daß unsere so gerühmte Kultur noch nicht weit her ist. In seiner Schrift "Die Hörigkeit der Frau" - der Titel charakterisiert die Auffassung, die der Verfasser von der Stellung der Frau hat - äußert John Stuart Mill: "Das Leben der Männer ist häuslicher geworden. Die steigende Zivilisation legt dem Manne gegen die Frau mehr Fesseln an." Das ist in bedingtem Maße richtig, insofern zwischen Mann und Frau ein aufrichtiges eheliches Verhältnis besteht, aber man darf bezweifeln, daß dieser Ausspruch für eine starke Minderheit gilt. Der verständige Mann wird es für sich selbst von Vorteil erachten, daß die Frau mehr aus dem engen Kreis der häuslichen Tätigkeit in das Leben tritt und mit den Zeitströmungen vertraut wird. Die "Fesseln", die er sich damit auferlegt, drücken nicht. Dagegen entsteht die Frage, ob das moderne Leben nicht Faktoren in das Eheleben einführte, die in höherem Grade als früher die Ehe zerstören.

Die Ehe ist in hohem Grade Gegenstand materieller Spekulation geworden. Der Mann, der heiraten will, trachtet danach, mit der Frau auch Eigentum zu erheiraten. Dieses war schon in früherer Zeit der vornehmste Grund, daß die Töchter, die man anfangs, als die Vaterfolge maßgebend wurde, vom Erbe ausgeschlossen hatte, wieder Erbrecht erlangten. Aber in keiner früheren Zeit war die Ehe in so zynischer Weise, sozusagen auf offenem Markte, Gegenstand der Spekulation und bloßes Geldgeschäft wie heute. Gegenwärtig wird der Eheschacher häufig mit einer Schamlosigkeit betrieben, daß die stetig wiederholte Phrase von der "Heiligkeit" der Ehe als purer Hohn er-

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scheint. Diese Erscheinung hat, wie alles, ihren zulänglichen Grund. In keiner früheren Zeit wurde es der großen Mehrzahl der Menschen schwerer, sich zu einem gewissen Wohlstand emporzuschwingen, als gegenwärtig; zu keiner Zeit war aber auch das berechtigte Streben nach menschenwürdiger Existenz und Lebensgenuß so allgemein. Wer das gesteckte Ziel nicht erreicht, empfindet dieses um so schwerer, weil alle glauben, das gleiche Recht zu genießen zu haben. Formell besteht kein Stände- und Klassenunterschied. Jeder will erlangen, was er, nach seiner Lebenslage, als erstrebenswertes Ziel ansieht. Aber viele fühlen sich berufen, und wenige sind auserwählt. Damit einer in der bürgerlichen Gesellschaft in Behaglichkeit leben kann, müssen zwanzig andere darben. Und damit einer in allen Genüssen schwelgen kann, müssen Hunderte oder Tausende elend bleiben. Aber jeder will zu den Begünstigten gehören und ergreift jedes Mittel, das ihn zum Ziele zu führen scheint, vorausgesetzt, daß er sich nicht zu stark kompromittiert. Eines der bequemsten und naheliegendsten Mittel, eine bevorzugte soziale Stellung zu erreichen, ist die Geldehe. Das Verlangen nach möglichst viel Geld auf der einen und die Sehnsucht nach Rang, Titeln und Würden auf der anderen Seite findet auf diese Weise in den höheren Schichten der Gesellschaft gegenseitige Befriedigung. Hier wird die Ehe meist als Geschäft angesehen, sie ist ein konventionelles Band, das beide Teile äußerlich respektieren, im übrigen handelt nur zu oft jeder Teil nach seinen Neigungen.(1)


(3) Die Ehe aus Politik in den höchsten Kreisen sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. In diesen Ehen hat auch in der Regel, und zwar für den Mann wieder in höherem Grade als für die Frau, stillschweigend das Privilegium bestanden, sich außerehelich nach Laune und Bedürfnis schadlos zu halten. Es gab Zeiten, in denen es für einen Fürsten zumguten Ton gehörte, wenigstens eine Mätresse zu unterhalten; das gehörte sozusagen zu den fürstlichen Attributen. So unterhielt, nach Scherr, der sonst als solid bekannte Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1715-1740) wenigstens zum Schein ein Verhältnis mit einer Generalin. Dagegen ist allgemein bekannt, daß zum Beispiel August der Starke von Sachsen, König von Polen, an 500 unehelichen Kindern das Leben gab und König Viktor Emanuel von Italien, der re galantuomo, 52 uneheliche Kinder hinterließ. Vor nicht langer Zeit existierte noch eine romantisch gelegene kleine deutsche Residenz, in der sich ungefähr ein Dutzend der reizendsten Villen befinden, die der betreffende "Landesvater" als Ruhesitze seinen abgedankten Mätressen erbauen ließ. Über dieses Kapitel ließen sich dicke Bücher schreiben, wie auch bekanntlich eine umfängliche Bibliothek über diese pikanten Vorkommnisse vorhanden ist. Die interne Geschichte der meisten europäischen Fürstenhöfe und Adelsfamilien ist für jeden Wissenden eine fast ununterbrochene Chronique scandaleuse. Gegenüber solchen Tatsachen ist es allerdings recht nötig, daß Geschichte malende Sykophanten die "Legitimität" der verschiedenen sich folgenden "Landesväter und Landesmütter" nicht nur unbezweifelt lassen, sondern sich auch bemühen, alle als Muster häuslicher Tagenden, als treue Ehemänner oder gute Mütter darzustellen. Die Auguren sind noch nicht ausgestorben, und sie leben wie die römischen noch heute von der Unwissenheit der Massen.

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In jeder größeren Stadt gibt es bestimmte Orte und Tage, an denen die höheren Klassen wesentlich zu dem Zweck zusammentreffen, um den Abschluß von Ehen zu befördern. Diese Zusammenkünfte werden deshalb passend "Ehebörsen" genannt. Denn wie an der Börse, so spielen auch hier die Spekulation und der Schacher die Hauptrolle und bleiben Betrug und Schwindel nicht aus. Mit Schulden überladene Offiziere, die aber einen alten Adelstitel präsentieren können, durch die Debauche brüchig gewordene Roués, die im ehelichen Hafen die ruinierte Gesundheit wiederherstellen möchten und einer Pflegerin bedürfen, Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers, die manchmal vor dem Bankrott und vor dem Zuchthaus stehen und gerettet sein wollen, endlich alle, die nach Erlangung oder Vermehrung von Geld und Reichtum trachten, erscheinen neben Beamten, die Aussicht auf Avancement besitzen, aber einstweilen in Geldnöten sind, als Kunden und schließen den Ehehandel ab. Dabei ist es nicht selten einerlei, ob die künftige Frau jung oder alt, hübsch oder häßlich, gerade oder bucklig, gebildet oder ungebildet, fromm oder frivol, Christin oder Jüdin ist. Lautete nicht der Ausspruch eines sehr berühmten Staatsmannes: "Eine Ehe zwischen einem christlichen H. und einer jüdischen St. ist sehr empfehlenswert"?(4) Das bezeichnenderweise dem Pferdestall entnommene Bild findet, wie die Erfahrung lehrt, in den hohen Kreisen unserer Gesellschaft lebhaften Beifall. Das Geld gleicht alle Schäden aus und wiegt alle Untugenden auf. Das deutsche Strafgesetzbuch (§§ 180 und 181) bestraft die Kuppelei mit schwerer Zuchthausstrafe oder Gefängnis, aber wenn Eltern, Vormünder und Verwandte ihre Kinder, Mündel oder Anverwandte an einen ungeliebten Mann oder an eine ungeliebte Frau für das Leben verkuppeln, nur des Geldes, des Gewinnes, des Ranges oder eines sonstigen Vorteiles wegen, kann kein Staatsanwalt eingreifen, und doch liegt ein Verbrechen vor. Es gibt zahlreiche wohlorganisierte Heiratsbüros und


(4) Siehe "Fürst Bismarck und seine Leute", von Busch.

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Kuppler und Kupplerinnen aller Art, die auf Beute ausgehen und die Kandidaten und Kandidatinnen für den "heiligen Stand der Ehe" suchen. Solche Geschäfte sind besonders profitabel, wenn sie für die Glieder der höheren Stände "arbeiten". 1878 fand in Wien ein Kriminalprozeß gegen eine Kupplerin wegen Giftmischerei statt, der mit ihrer Verurteilung zu fünfzehn Jahren Zuchthaus endete. In demselben wurde unter anderem festgestellt, daß der frühere französische Gesandte in Wien, Graf Banneville, diesem Weibe für die Beschaffung seiner Frau 22.000 Gulden Kuppellohn bezahlte. Andere Mitglieder der hohen Aristokratie wurden in diesem Prozeß ebenfalls aufs schwerste kompromittiert. Gewisse staatliche Organe ließen das Weib in seinem dunklen und verbrecherischen Treiben jahrelang gewähren. Das Warum dürfte nach dem Mitgeteilten nicht zweifelhaft sein. In der deutschen Reichshauptstadt erzählt man sich ähnliche Geschichten, sie sind ein alltägliches Vorkommnis, wo immer Ehesuchende sich befinden. Besonderer Gegenstand des Eheschachers sind in den letzten Jahrzehnten für den geldbedürftigen europäischen Adel die Töchter und Erbinnen der reichen nordamerikanischen Bourgeoisie, die wieder ihrerseits Bedürfnis nach Rang und Würden hat, die es in ihrer amerikanischen Heimat nicht gibt. Über dieses Treiben gab charakteristische Aufschlüsse eine Reihe von Veröffentlichungen, die im Herbst 1889 in einem Teile der deutschen Presse erschienen. Danach hatte ein adliger Industrieritter in Kalifornien sich als Eheagent in deutschen und österreichischen Zeitungen empfohlen. Die Anerbietungen, die er erhielt, zeigten zur Genüge, welche Auffassung über die "Heiligkeit" der Ehe und ihre "ethische" Seite in den betreffenden Kreisen herrschen. Zwei preußische Gardeoffiziere, dem ältesten preußischen Adel angehörend, waren bereit, auf die Heiratsanerbietungen einzugehen, weil sie, wie sie offenherzig erklärten, zusammen über 60.000 Mark Schulden hätten. In ihrem Schreiben an den Kuppler sagten sie wörtlich: "Es ist selbstverständlich, daß wir kein Geld im voraus bezahlen. Ihre Remuneration erhalten Sie nach der Hochzeitsreise. Empfehlen. Sie uns nur Damen, gegen deren Familien kein Anstand erhoben werden kann. Ebenso wäre es sehr erwünscht, mit Damen von möglichst einnehmendem Äußeren bekannt gemacht zu werden. Wenn verlangt, übergeben wir Ihrem Agenten, der uns die näheren Umstände erklären und Photographien usw. zeigen wird, unsere Photographien für diskretionäre Zwecke. Wir be-

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trachten die ganze Angelegenheit im vollsten Vertrauen als eine Sache der Ehre (!) und verlangen natürlich dasselbe von Ihnen. Wir erwarten baldigst Antwort durch Ihren hiesigen Agenten, falls Sie einen solchen haben.

Berlin, Friedrichstraße 107,
15. Dezember 1889

Baron v. M. ...
Artur v. W. ..."

Ein junger deutscher Adliger, Hans v. H., schrieb aus London, er sei 5 Fuß 10 Zoll groß, von altadliger Familie und im diplomatischen Dienst beschäftigt. Er machte das Geständnis, daß sein Vermögen durch unglückliche Wetten bei Pferderennen sehr zusammengeschmolzen sei und er sich deshalb in die Notwendigkeit versetzt sehe, Ausschau nach einer reichen Braut zu halten, um das Defizit decken zu können. Auch sei er bereit, sofort eine Reise nach den Vereinigten Staaten zu unternehmen.

Der erwähnte Industrieritter behauptete, außer vielen Grafen, Baronen usw. hätten sich drei Prinzen und sechzehn Herzöge als Heiratskandidaten gemeldet. Aber nicht nur Adlige, auch Bürgerliche gelüstet es nach reichen Amerikanerinnen. So verlangte ein Architekt Max W. aus Leipzig eine Braut, die nicht nur Geld, sondern auch Schönheit und Bildung besitzen müsse. Aus Kehl am Rhein schrieb ein junger Fabrikbesitzer, Robert D., daß er sich mit einer Braut, die bloß 400.000 Mark habe, zufriedengebe und versprach im voraus, sie glücklich zu machen. Doch wozu in die Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nahe. Man werfe nur einen Blick in die zahlreichen Heiratsannoncen der größeren bürgerlichen Zeitungen, und man findet oft Ehegesuche, die nur einer total verlotterten Gesinnung entsprungen sein können. Die Straßendirne, die aus bitterer Not ihr bewerbe betreibt, ist zuweilen ein Ausbund von Anstand und Tugend gegen diese Ehesucher. Ein sozialdemokratischer Expedient, der einer solchen Annonce Aufnahme in sein Blatt gewährte, würde aus seiner Partei ausgestoßen. Die bürgerliche Presse genieren aber solche Annoncen nicht, sie bringen Geld ein, und sie denkt wie Kaiser Vespasian: non olet (es riecht nicht). Das verhindert aber diese Presse nicht, gegen die ehezerstörerischen Tendenzen der Sozialdemokratie zu eifern. Ein heuchlerischeres Zeitalter als das unsere hat es nie gegeben.

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Werbebüros für Heiraten sind heute die Annoncenblätter der meisten unserer Zeitungen. Wer immer, sei es Männlein oder Weiblein, unterderhand nichts Passendes zur Heirat findet, vertraut sein Herzensbedürfnis frommen konservativen oder moralisch liberalen Zeitungen an, die für Geld und ohne gute Worte sorgen, daß die gleichgesinnten Seelen sich finden. Mit der Ausbeute eines einzigen Tages aus einer Anzahl der größeren Zeitungen ließen sich ganze Seiten füllen. Auch kommt ab und zu die interessante Tatsache zum Vorschein, daß man auf dem Wege der Annonce sogar Geistliche als Ehemänner zu erobern sucht und umgekehrt Geistliche nach einer Ehefrau angeln. Manchmal erbieten sich auch die Bewerber unter der Bedingung, daß die gesuchte Frau reich sei, einen Fehltritt zu übersehen. Kurz, die moralische Verkommenheit gewisser Kreise unserer Gesellschaft kann nicht besser als durch diese Art von Heiratsbewerbung an den Pranger gestellt werden.



Datum der letzten Änderung : Jena, den : 03.02.2013